Frauen, die auf Männer starren
Meinen Jahresurlaub 2024 habe ich in England verbracht. Nach mehreren Tausend Schritten durch Sehenswürdigkeiten und Museen zappte ich an einem verregneten Abend durch das englische Fernsehprogramm und blieb bei der Neuverfilmung von Tomb Raider aus dem Jahr 2018 mit Alicia Vikander in der Rolle der Lara Croft hängen. Jahr und Schauspielerin musste ich nachsehen, denn für mich gibt es nur eine Lara Croft: Angelina Jolie.
Ich erinnere mich nicht, wie alt ich war, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, aber ich erinnere mich, wie das bewegungsmuffelige Kind, das ich war, sich plötzlich kräftig und vital fühlte, weil Lara Croft so cool aussah und so mühelos rannte, sprang und sich durch die Luft schwang. So sportlich und taff konnten Frauen sein?
In ihrem Buch Im Hier und Jetzt schreibt die Autorin Priya Basil über ein Fotoshooting für das Titelblatt der deutschen Vogue mit 39 anderen Frauen. Sie erinnert sich, wie eine der beteiligten Frauen nach der Fotosession bei einem schwierigen Interview von ihrem Gegenüber heftig attackiert wurde und ruhig geblieben war. Basil schreibt:
„Später, im privaten Kreis, sagtest du: Vor ein paar Monaten, vor der ganzen Sache mit dem Magazin, hätte ich mich öffentlich nicht so geäußert. Aber etwas an der Verbindung mit diesen Frauen, von denen ich die meisten nicht einmal kenne, hat mich ermutigt. Du sagtest: Ob Männer sich wohl schon immer so fühlen – als hätten sie großen Rückhalt?“ Priya Basil, Im Hier und Jetzt
Daran muss ich denken, als ich im Cavern Club in Liverpool eine Beatles-Coverband höre und die Wände der Location betrachte. An diesen hängen Erinnerungen aus über 60 Jahren Clubgeschichte: Instrumente, signierte oder vergoldete Platten, Fotos und Zeitungsberichte – bis auf wenige Ausnahmen sind nur Männer verewigt.
Daran muss ich auch denken, als ich am Tag darauf durch die Stadt spaziere und das Museum of Liverpool besuche. Statuen wichtiger Männer der Musikgeschichte dominieren das Straßenbild, die vier Musiker der Beatles und Wegbereiter wie Manager Brian Epstein. Das Museum bemüht sich um Vielfalt. Ich erfahre, dass die Schauspielerin Kim Cattral gebürtig aus Liverpool ist. Ein winziger Teil des Museums behandelt die Kampagne zum Frauenwahlrecht. Ich werde später dennoch sagen, es sei eine sehr männliche Stadt. Vielleicht muss es bei der Geburtsstätte der Beatles so sein.
Brighton, The Hope and Ruin, 2024 © Kristina Klecko
Ortswechsel. Brighton an der britischen Südküste. Live-Musik in gefühlt jedem Pub. In der Kneipe mit dem poetischen Titel The Hope and Ruin können wir für vier Pfund zwei junge Bands sehen. Auf der Bühne stehen insgesamt neun Menschen, acht davon Männer. In einem anderen Pub sehe ich einen Aufsteller mit Live-Gigs im August – mindestens zehn Konzerte, auch Coverbands darunter, und keine einzige Frau auf den Bandfotos.
Ob Männer sich wohl schon immer so fühlen – als hätten sie großen Rückhalt?
Sie können es zumindest. Der Rückhalt und die Großartigkeit des (vergangenen) männlichen Schaffens ist überall zu sehen und wird durch Wiederholung in die Zukunft getragen. Jungsbands auf der Bühne, Tribute-Bands, die alte Meister covern und sie weiterleben lassen, Städte voller Statuen und Plaketten in Erinnerung an Männer. Frauen fehlt das. Bezogen auf Musik: Ich kenne keine Coverband, die Songs von Frauen spielt. Frauen stehen vor der Bühne, schauen hoch und applaudieren engagiert.
Gebt mir das Zimmer, das Haus, die Straße
Das Buch Die Malweiber. Unerschrockene Künstlerinnen um 1900 von Katja Behling und Anke Mangold gibt in Kurzbiografien von Künstlerinnen Einblick in die deutschsprachige Kunstszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Lektüre zeigt: Ohne den Aufbau von Strukturen, ohne eine stabile Tradition geht das Kunstwissen von Frauen für nachfolgende Generationen von Kunstkonsument:innen und Künstler:innen verloren.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatten Frauen kaum Zugang zu einer akademischen Kunstausbildung und mussten sich, entsprechende Mittel vorausgesetzt, mit Privatunterricht begnügen. 1919 öffneten die Akademien in Deutschland ihre Türen für Kunststudentinnen. Im europäischen Ausland konnten Frauen immerhin schon vorher studieren. Vor Spott und Abwertung waren sie nirgendwo gefeit. Sie wurden als „Malweibchen“ belächelt, selbst von Männern, die ihnen Kunstunterricht erteilten und somit Geld an ihnen verdienten. Ungeachtet der schwierigen Zugänge und der teils offenen Ablehnung erfüllten sich einige Frauen ihren Traum vom Leben als Künstlerin. Paula Modersohn-Becker und Käthe Kollwitz kennen wir noch heute. Die Spuren der meisten verlieren sich zu Lebzeiten, spätestens mit dem Tod. Unbekannt, verschollen, vergessen heißt es immer wieder zum Abschluss der Kurzbiografien.
Auch wenn es für das Verschwinden unterschiedliche Gründe gibt, exemplarisch fand ich die Geschichte von Clara Rilke-Westhoff. Die Malerin war mit dem Dichter Rainer Maria Rilke verheiratet. Die gemeinsame Tochter gab aber nur dem Nachlass des Vaters einen Ort. Sie richtete das Rilke-Archiv im Haus der Mutter ein. Warum hat sie es nicht für nötig gehalten, den Nachlass von Clara Rilke-Westhoff zu sichern? Ob persönliche familiäre Verwerfungen, Nachlässigkeit oder allgemeine Unachtsamkeit gegenüber Künstlerinnen – wer weiß? Fakt ist:
„1978, zu ihrem hundertsten Geburtstag, musste die Künstlerin Clara Rilke-Westhoff der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gebracht werden – viele verbanden mit ihr nur den großen deutschen Dichter, dessen Namen sie trug.“ Katja Behling und Anke Mangold, Die Malweiber
Das Gleiche in der Literatur: Die Verdienste von Frauen werden ausgelassen, in Literaturgeschichten gehen sie regelmäßig als Ehepartnerinnen oder Weggefährtinnen verloren. In einer der neueren Ausgaben der Essays von Montaigne heißt es im Begleittext, eine Freundin, Marie de Gournay, hätte die Essays des Philosophen nach seinem Tod für die Veröffentlichung aufbereitet. „Die Freundin“ war selbst Philosophin, Schriftstellerin und Vordenkerin des Feminismus – und das im 16. Jahrhundert!
Ein Zimmer für sich allein, wie es Autorin Virginia Woolf 1929 forderte, reicht nicht. Um dieses Zimmer muss ein Haus gebaut sein, eine Straße muss zum Haus führen, Schilder müssen die Richtung zum Haus weisen. Es muss eine Karte des Ortes geben, die anzeigt, wo sich die Straße, das Haus, das Zimmer befinden. Dafür müssen Menschen das Zimmer aufsuchen und erzählen, dass sie da waren. Es braucht, wie Moderatorin und Herausgeberin Maria-Christina Piwowarski im Vorwort zum Buch Unter Frauen schreibt, eine „feministische Erleuchtungskette“.
Gebt mir Geschichte
Kunstberaterin Dr. Franziska Ida Neumann führt aus, was ein:e Kunstsammler:in tun kann, um den Wert eines Kunstwerks, das sich in ihrem Besitz befindet und das sie als Kapitalanlage nutzen möchte, zu steigern:
„Durch gezieltes Platzieren von Kunst in den Ausstellungen renommierter Häuser und durch Erwähnungen in Fachpublikationen wie Ausstellungskatalogen oder wissenschaftlichen Essays schaffen Sie eine positive Öffentlichkeit, die Ihrem Kunstwerk eine Geschichte gibt.“
Dr. Franziska Ida Neumann, Wie Sie mit Picasso & Co. ein Vermögen aufbauen
Diese Geschichte ist bei Kunst, Musik und Literatur von Frauen noch immer lückenhaft, womit ich wieder in Liverpool und bei den Coverbands bin, weil Geschichte auch dort gemacht wird.
Damit Bücher wie Malweiber um 2100 nicht mehr benötigt werden, weil die Kunstgeschichte selbstverständlich alle Künstler:innen einschließt, damit wir nicht durch männliche Städte spazieren, nicht immer wieder neu entdecken müssen, weil wir auf einen freigelegten Grundstock an diversen Stimmen zurückgreifen können, müssen wir alle ran.
Frei nach Virginia Woolf in Die Fahrt hinaus frage ich also: Wann hast du eine lebende Künstlerin ermutigt? Oder ihr bestes Werk gekauft? Wann hast du zuletzt über Kunst von Menschen, die nicht Männer sind, gesprochen? Ihnen Raum gegeben?
Wann wirst du es tun?
Vielen Dank, dass du mitliest. Bis in zwei Wochen
Kristina
Was andere machen
Gebt mir eine Hole-Coverband!
https://www.youtube.com/watch?v=cH_rfGBwamc (Abre numa nova janela)Lesetipp: Unter Frauen, Geschichten vom Lesen und Verehren, herausgegeben von Anna Humbert und Linda Vogt. Im Klappentext heißt es:
„Diese Anthologie tut das, was Männer schon immer, vielleicht auch einmal zu oft gemacht haben: literarische Vorbilder feiern.“
Schriststellerin Yael Inokai weist in ihrem Beitrag über Violette Leduc darauf hin, dass es für die Wiederentdeckung neuer Literatur wichtig sei, mit anderen Menschen daüber sprechen zu können. Es braucht also eine kritische Masse an Leser:innen, damit ein Text bleibt. > zum Buch (Abre numa nova janela)
Einen guten Artikel zu Marie de Gournay gibt es beim Deutschlandfunk. > zum Beitrag (Abre numa nova janela)
Was noch?
In der Literaturzeitschrift Mosaik43 ist meine Geschichte 100 Meter erschienen, die im ersten Lockdown entstanden ist. > Zeitschrift ansehen (Abre numa nova janela)
Gern gelesen?
Abonniere das Mailing (Abre numa nova janela).
Leite es weiter.
Teile es auf Social Media. Du findest mich unter @kristina.klecko (Abre numa nova janela).
Vielen Dank!