Empört euch nicht mehr
Jede Podcastfolge von Piratensender Powerplay starten Samira El Ouassil und Friedemann Karig mit einer Auflistung der Themen, über die in der Folge nicht gesprochen wird. Für diese Ausgabe des Newsletters Was mache ich denn da? leihe ich mir diese Vorgehensweise, denn auch wenn ich es vorgehabt habe, werde ich nicht darüber schreiben, dass ich zum 1. Juni offiziell selbständige Autorin und Schreibpädagogin bin oder dass in Kürze eine meiner Geschichten in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht wird.
Ich möchte stattdessen über das Sylt-Video schreiben, beziehungsweise darüber, was danach geschah.
Köln, Südbahnhof, 2009 © Kristina Klecko
Das Video hat einige Menschen empört und sie teilten ihre Empörung öffentlich. Andere Menschen hat das wiederum empört und sie veröffentlichten Videos, die mit Sätzen begannen wie:
„Ich verstehe nicht, warum das alle so verwundert.“
Was ist genau die Neuigkeit?“
„Am schlimmsten ist diese ganze Empörung, es ist doch längst bekannt, dass wir in einer rassistischen Gesellschaft leben!“
Ursprünglich wollte ich an dieser Stelle weitermachen und mich über diese Menschen empören. Ich persönlich hätte es durchaus schlimmer gefunden, es hätte niemanden empört und wir hätten kollektiv mit den Schultern gezuckt, vielleicht nicht einmal das. Welche Art von Gesellschaft wären wir in diesem Fall? Mit welcher Art von Zukunft?
Ich hätte geschrieben, dass solche Aussagen zynisch sind und uns allen schaden, ich hätte (wieder einmal) Timothy Snyder zitiert:
„Der allgemeine Zynismus vermittelt uns das Gefühl, hip und alternativ zu sein, dabei schlittern wir gemeinsam mit unseren Mitbürgern längst hinein in einen Morast der Gleichgültigkeit.“ Timothy Snyder, Über Tyrannei
Ich hätte die Bücher über Empörung, die ich mir für den Beitrag aus der Stadtbibliothek geliehen habe, gelesen und schöne Sätze aus Stéphane Hessels Empört euch! oder Dalai Lamas Be angry! Die Kraft der Wut kreativ nutzen in den Text gestreut. Ich war gerüstet.
Und dann hat jemand anderes alles dazu gesagt.
„(…) es ist ja auch wohltuend und auch fast ermutigend zu sehen, wie viel Empörung als Reaktion darauf zu sehen ist, weil das ein guter, ein humanistischer Reflex einer Gesellschaft sein sollte auf so ein Video. (…) Ich komme nicht umhin, dieses Video extrem persönlich zu nehmen und sauer zu sein. Ich bin einfach wütend, wenn ich dieses Video sehe. (…) Ich verstehe den Impuls oder die Notwendigkeit, dieses Gefühl irgendwo abzuleiten.“ Samira El Ouassil, Piratensender Powerplay, Folge 172
Empörung als humanistischer Reflex – das gefiel mir. Das konnte ich so stehen lassen.
(Mich haben auch die Wut und das Gefühl, es „extrem persönlich“ nehmen zu müssen, angesprochen. Doch weil, so El Ouassil weiter, gesellschaftliche Debatten nicht auf Grundlage von Zorn geführt werden sollten, belasse ich es für heute dabei. Vielleicht komme ich zu einem anderen Zeitpunkt darauf zurück.)
Viele Grüße und bis in zwei Wochen!
Kristina
PS: Ich habe Stéphane Hessels Empört euch! dann doch gelesen und diesen Satz rausgeschrieben.
„‚Ohne mich‘ ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den ‚Ohne mich‘-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.“ Stéphane Hessel, Empört euch!
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