Gespensterbrief #2
Mein liebes Gespenst,
bist du müde, ist dir kalt?
Weißt du noch, wer du warst?
Manchmal vergesse ich mich. Es passiert so: Wenn ich morgens aufwache, dann sind meine Gedanken nicht sofort greifbar, sie sind im Verborgenen verkapselt im Bereich meines Körpers, an den ich nie herankomme. Dann schraubt sich etwas in mir hoch, meistens ist es ein Vermissen. Ab da muss alles sehr schnell gehen. Ich stehe auf und sehe aus dem Fenster.
Birken, Krähen, ein Kater namens Fuchs, die Welt.
Ich ziehe mich an, was man alles so tut, koche mir einen Tee. Ich liebe finnischen Lakritsi-Tee mit Milch einfach so sehr. Leider war ich noch nie in Finnland. Aber ich habe da diese Verbindung.
Meine Oma (rechts im Bild) und ihre Schwester in Finnland
Wenn ich durch alte Fotoalben blättere, dann sehe ich Bilder von meinen Großeltern, wie sie mit Freund*innen durch die finnischen Wälder streifen, sich in der Sauna erholen, nackt durch den Schnee laufen und zusammen in einer kleinen Hütte um einen schmalen Holztisch herumsitzen und essen.
Das ist nicht nur einmal passiert, das hatte wohl Tradition.
In meinen Bücherregalen stehen zwischendrin immer wieder Bücher von meiner Oma. Darunter welche über die finnische Sprache und Selbstlernhefte, die aussehen, als wären sie akribisch durchgearbeitet worden. Als Kind lernte ich, auf finnisch zu zählen.
Dann fing ich an, HIM zu hören. Und nun will ich immer noch nach Finnland, so sehr, dass ich im Sommer zu meiner Freundin Ina sagte, es wäre einer dieser ganz großen Lebenswünsche und es absolut ernst damit meinte. Irgendwann, *irgendwann*, ~irgendwann~
Musstest du in deinem Leben oft irgendwann sagen?
Im Irgendwann vergesse ich mich selbst.
Draußen unter dem Himmel schlafen, schlummern und lungern. Mehr davon.
Heute freue ich mich auf eine Lesung am Abend (Abre numa nova janela) in Lüneburg. Es wird ein Wiedersehen mit Anne geben. Meine Erzählung "Lange laut lachen (Abre numa nova janela)" gewann den Wettbewerb im Sukultur-Verlag und wurde Ende 2019 veröffentlicht. Das ist schon lange her. Und doch werde ich immer mal wieder auf die Geschichte angesprochen. In ihr geht es ja ums Vermissen und viele Menschen wissen genau, was das bedeuet. Und manche von ihnen schreiben mir wunderbare und teilweise sehr persönliche Nachrichten und fragen, wann es weitergeht. Mit den Geschichten, mit mir, mit Anne.
Seit dem Sommer gibt es in Lüneburg das Wortkollektiv. Das ist eine Schreibgruppe, in der sich einmal in der Woche ein paar Menschen treffen, um ruhig und still nebeneinander zu sitzen und zu schreiben. Ich nutze die Zeit dort, um Figuren zu erfinden, weil ich dachte, ich müsste das üben. Turns out: Ich kann es bereits sehr gut, hatte es zuvor nur nicht so zyklisch betrieben. Jedenfalls erfinde ich jede Woche einen neuen Menschen. Doch Anne, Anne musste ich nie erfinden. Anne war echt. Ist echt.
Mein liebes Gespenst, hast du sie mal getroffen? Spukt sie gut? Ich kann es mir vorstellen.
Mein Mann sagt, am Ende bleiben uns nur Geschichten. Ich wollte von jener erzählen, die Anne immer dann hervorkramte, sobald es um unsere geteilten Kindheiten ging. Die Story handelt davon, wie sie als Kind einen Vogel erschlug.
Schon wieder so ein Todeskracher. Ja, so ist es nun einmal. Keine Heiterkeit ohne ein bisschen Trauer. Oder?
Oder?
Eine herzliche Einladung zur Wortkollektiven und Höhen-Lesung, ihr Herzen. Wenn ihr könnt, wollt, es sich einrichten lässt. Ich weiß, die Zeiten sind schwer und schrecklich, lasst sie uns gemeinsam verbringen.
Eure Jess