Gespensterbrief #30 - Sei vorbereitet darauf, nicht vorbereitet zu sein.
Mein liebes Gespenst,
hast du gesehen? Es war wieder ein Tag im Jahr.
“Einen Tag im Jahr hat Christa Wolf über Jahrzehnte hinweg in allen Details festgehalten, den 27. September. Ihre gesammelten Protokolle sind längst als Buch erschienen. Wir, Susanne Hösel und Christina Müller, wollen dieses Projekt zusammen mit anderen Autor_innen in die Gegenwart holen und weiterschreiben. Einmal im Jahr, am 27. September, schauen wir uns einen Tag unseres Lebens so genau wie möglich an. Und nächstes Jahr kommen wir zurück und machen weiter.”
Quelle: Ein Tag im Jahr (Abre numa nova janela), 3.11.24
Hier ist mein Tagebucheintrag (Abre numa nova janela) aus diesem Jahr. Neben Sonja Seidl, Michael Held, meinem Mann Morton, Sarah Fartuun Heinze, Kollege und Mitbewohner Lukas Kretschmer und Sus Hösel, haben noch viele andere ihren Tag genau beschrieben. Ich mag die Verbindung, die beim Lesen zwischen Text, Autor*in (so wie ich mir die Person vorstellen kann) und mir entsteht.
Es ist das dritte Mal, dass ich bei dem Projekt mitgemacht habe. Jedes Mal fasse ich den Entschluss, mehr Tage im Jahr genauer beschreiben zu wollen.
Mein liebes Gespenst,
ich bin weggegangen. Der Ort, der so lange mein zu Hause war, liegt hinter mir. Ebenso das Haus, in dem ich aufwuchs, wird nie mehr sein. Einige Geister habe ich mitgenommen, manche ließ ich dort. Nun sitze ich heute an einem Tag mit blauem Himmel in der Küche, habe die Gardine vor der schmalen Tür zum Garten beiseite geschoben und sehe den Singvögeln dabei zu, wie sich sich an mich gewöhnen.
Zurück in der Küche kann ich mich im einzelnen am neuen Ort erkennen. Das große Ganze erzählt mir etwas von Silvesterfeiern, Neugeborenen, Abschied und Umarmungen. Auf dem geliehenen Tisch stehen Kerzen, die brennen werden, weil wir heute feiern. Heute ist auch so ein Tag im Jahr. Fremde Geräusche, Gerüche und Schatten sagen mir nichts davon, wie es heute wird. Darum schreibe ich allen: Seid vorbereitet darauf, nicht vorbereitet zu sein.
Die Vögel hören nicht auf zu fliegen.
Eine Schlange kommt aus ihrem Krug, ich sage “Hey”, sie züngelt und verschwindet wieder. So fühlt sich der Tag bisher an. Ich sitze bereit, niemand außer den Tieren und mir ist im Raum. Und ich denke, wenn doch jemand kommt, dann nur kurz und um schnell wieder zu gehen.
Es kommt jedoch ganz anders.
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