„Wir müssen davon wegkommen, den Menschen als Verwendungszweck zu sehen.“
In den vergangenen Wochen habe ich eine Pause eingelegt, die ich mir anfangs hoffnungsvoll als Sommerpause angekündigt hatte. Es wurde dann eine Auszeit, die auf halbem Weg steckengeblieben ist, beim Aus. Eher selten fand ich Zeit.
Ich habe über Wochen kaum gearbeitet, jedenfalls nicht beruflich. Stattdessen die Einschulungsfeier meiner Tochter organisiert, meine ersten Einheiten als Fußballtrainer geleitet, die Folgen eines Autounfalls beseitigt und zwischendurch immer mal wieder mein gesamtes Leben in Frage gestellt (Was mache ich hier eigentlich?). Manchmal hatte ich in diesen Wochen das Gefühl, dass nicht nur unser Wagen einen Totalschaden erlitten hatte, sondern dass ich selbst in alle Einzelteile zerfiel.
All diese Dinge, die sich Tag für Tag ereignen, nur zu tun, verbraucht schon viel Kraft und Zeit. Aber dann möchte man ja vielleicht auch noch begreifen und spüren, was da eigentlich gerade passiert.
Eine Auszeit zu nehmen klingt von außen gesehen vielleicht nach Reisen, Müßiggang und Freiheit. Oft aber sind Pausen eine schlichte Notwendigkeit. Weil die Kraft nicht mehr reicht. Weil es Zeit ist, sich neu zu orientieren, weiterzubilden und zu lernen. Weil Angehörige pflegebedürftig werden. Weil tatsächlich auch manchmal Menschen sterben und es Zeit braucht, sie zu begleiten und zu verabschieden. Und die Zeit, andere und sich selbst, die zurückgeblieben sind, aufzufangen. Es gibt viele, viele Gründe, eine Auszeit zu nehmen.
Für all das, was nicht mehr oder weniger ist als das Leben, gibt es in der klassischen Berufsbiografie jedoch wenig Raum. Längere Pausen sind nicht vorgesehen. Sie sind geradezu verdächtig, wenn kein offenkundiger Grund wie die Geburt eines Babys oder eine Erkrankung die Pause rechtfertigen. Dabei gibt es Tausend andere Gründe, die eine Auszeit nicht nur rechtfertigen, sondern erfordern. Eigentlich sollte schon allein der Wunsch, eine Pause zu machen, Rechtfertigung genug sein.
Die Realität sieht leider so aus, dass Menschen erst stark überlastet und sehr unzufrieden sein müssen, erst ausbrennen und nicht mehr können, ehe sie kündigen oder krankheitsbedingt ausfallen. Dann haben sie Zeit für eine Pause, jedoch auf Kosten ihrer Gesundheit und beruflichen und finanziellen Sicherheit.
So weit müsste es nicht kommen. Meine Pause, die zwar keinen Anfang nahm, aber dennoch endete, hat mich zu zwei schönen neuen Aufgaben geführt, für die ich gern in einen halbwegs geregelten Arbeitsalltag zurückkehre. Ich führte zwei Gespräche, in denen ich gelernt habe, wie berufliche Auszeiten zur Regel werden könnten, und welches ungeheure Potenzial in dem Gedanken liegt, Menschen zu vertrauen und Arbeitsplätze und -strukturen so zu gestalten, dass sie jedem einzelnen Menschen in seiner Einzigartigkeit und seiner Lebenssituation gerecht werden.
Mit der Soziologin Svenja Pfahl vom Forschungs- und Beratungsinstitut SowiTra (Abre numa nova janela) habe ich über Zeitkonten und ihre Idee der Kurzzeitsabbaticals gesprochen. Mit Cawa Younosi, dem Geschäftsführer der Charta der Vielfalt (Abre numa nova janela), habe ich über sein neues Buch, “Die große Potenzialverschwendung”, gesprochen. Das Interview mit ihm findest du weiter unten.
“Viele Menschen sehnen sich nach Auszeiten, weil sie merken, dass sie so nicht mehr lange durchhalten werden.”
Die Soziologin Svenja Pfahl forscht zu den Themen Arbeitszeit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Da ich für das Redaktionsnetzwerk Deutschland an einem Artikel über Zeitwertkonten arbeitete, sprach ich mit ihr zunächst über dieses Thema.
Die Idee der Zeitkonten: Beschäftigte zahlen Bestandteile ihrer Arbeitszeit oder ihres Gehalts auf dem Zeitkonto ein. Das können Überstunden, Urlaubstage, Sonderzahlungen oder ein fester Anteil des Monatsgehalts sein. Zu einem späteren Zeitpunkt, etwa nach zehn Jahren, wandeln sie das angesparte Guthaben in Freizeit um. Dann können sie eine mehrere Monate oder ein Jahr lange Auszeit nehmen, bleiben aber angestellt, sozialversichert und beziehen weiter Gehalt.
Eigentlich eine sinnvolle Idee. Svenja Pfahl weist jedoch darauf hin, dass Zeitwertkonten nicht als Instrument eingesetzt werden sollten, um eine ungesunde Arbeitsgestaltung zu kompensieren. Vielmehr sollten sie nur einer von mehreren Bestandteilen einer durchdachten Arbeitszeitorganisation sein. „Zeitkonten sind nicht die Antwort auf das eigentlich häufig zugrunde liegende Problem. Viele Menschen sehnen sich nach Auszeiten, weil sie überarbeitet sind und merken, dass sie so nicht mehr lange durchhalten werden“, sagt sie.
Sie weist darauf hin, dass die Nutzung eines Zeitwertkontos die vorhandenen Arbeitsbelastungen sogar verstärken könne. „Problematisch wird es, wenn das Zeitkontenmodell stark auf das Ansparen von Mehrarbeit setzt oder mit Urlaubsverzicht verbunden ist.“ So würden über einen langen Zeitraum ungesunde Arbeitsweisen aufrechterhalten, um das Zeitkonto zu füllen. Das könne jedoch zu erheblichen gesundheitlichen Risiken führen und sei nicht nachhaltig, sagt Pfahl. Besser sei es, wenn vor allem Prämien, Zuschläge und Sonderzahlungen auf das Zeitkonto eingezahlt werden. Gelegentlich anfallende Überstunden und zusätzliche Urlaubstage könnten ebenfalls auf das Zeitkonto überführt werden.
Daneben müsse geklärt werden, ob das Zeitwertkonto im Falle eines Jobwechsels auf andere Arbeitgeber übertragen werden kann und was mit dem Guthaben geschieht, falls das nicht der Fall ist. Wichtig ist außerdem, ob die laufenden Einzahlungen auch mal unterbrochen oder angepasst werden können, wenn sich im Leben etwas ändert.
Besonders wichtig für Svenja Pfahl bei der Bewertung eines Zeitkontos: „Ist die Entnahme der freien Zeit genauso klar geregelt wie die Einzahlung? Da schwächeln nämlich viele Modelle.” Während meist festgelegt sei, wie Beschäftigte ihr Zeitguthaben ansparen, sei häufig weniger klar, zu welchem Zeitpunkt und zu welchen Anlässen sie auf die freie Zeit zugreifen können.
Viele Organisationen würden die Zeitkonten ihrer Angestellten nicht in erster Linie einsetzen, um ihnen eine selbstbestimmte Auszeit zu ermöglichen. Stattdessen würden sie häufig genutzt, um einen vorzeitigen Renteneintritt zu ermöglichen oder sogar, um eine schwankende betriebliche Auslastung auszugleichen. Dafür müsse es aber bessere Lösungen geben, wie flexible Arbeitszeitmodelle für ältere Beschäftigte, erklärt Pfahl. Zeitwertkonten sollten in erster Linie für selbstgewählte Pausen, Betreuungs- und Pflegezeiten oder Weiterbildung genutzt werden, da Menschen in solchen Lebensphasen freie Zeit benötigten, ohne finanziellen Druck zu spüren. Bisher gebe es allerdings nicht genügend Möglichkeiten, um Auszeiten in den Lebenslauf zu integrieren, ohne dabei Risiken einzugehen.
Die Idee der Kurzzeit-Sabbaticals
Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung fand heraus, dass Sabbaticals häufig zu Einkommens- und Karrierenachteilen führen. Höherqualifizierte und Besserverdienende hätten bessere Chancen, ein Sabbatical zu realisieren, ohne Nachteile befürchten zu müssen, heißt es in der WZB-Studie (Abre numa nova janela).
Dass niedrigere Einkommensgruppen häufiger von der Möglichkeit eines Sabbaticals ausgeschlossen werden, zeigt auch Svenja Pfahl in einer im Jahr 2020 bei der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichten Studie (Abre numa nova janela). Demnach wird zum Beispiel Teilzeitkräften, befristet Beschäftigten, Auszubildenden und Angestellten mit geringerer Berufserfahrung häufiger die Möglichkeit einer Auszeit verwehrt.
Svenja Pfahl schlägt deshalb vor, neben Zeitwertkonten, für die oft lange gespart werden muss, weitere Modelle zu etablieren, sogenannte Kurzzeit-Sabbaticals. Demnach hätten alle Beschäftigten die Möglichkeit zu gelegentlichen Auszeiten. Dazu sollten unterschiedliche Modelle mit einer Länge von vier Wochen bis zu einem Jahr verbindlich geregelt werden – und zwar in Unternehmen, in Tarifverträgen und auf gesetzlicher Ebene, so der Vorschlag der Soziologin.
Sie schlägt mehrere Varianten des Kurzzeit-Sabbaticals vor:
Das Freie-Tage-Wahlmodell könne auf Betriebsebene geregelt werden. Zusätzlich zu den Urlaubstagen und ohne weitere Begründung können Beschäftigte dann Erholungsphasen von bis zu 20 Arbeitstagen einlegen. Für diese Zeiten werden entweder das Gehalt oder die jährlichen Sonderleistungen entsprechend reduziert. Beschäftigte entscheiden sich also für Zeit statt Geld.
Kurzzeit-Sabbaticals könnten Beschäftigte nehmen, wenn sie für einen besonderen Anlass Zeit benötigen, etwa um eine Betreuung oder Pflege zu organisieren, an einem Hilfseinsatz teilzunehmen, sich sozial zu engagieren oder auch um die Zeit zu haben, einen Sterbenden zu begleiten. Dieses kurze Sabbatical kann ein bis zwölf Monate lang sein. Die Zeit dafür kann zuvor auf einem Zeitkonto angespart werden, etwa durch Überstunden oder auch jährliche Zeitgutschriften durch das Unternehmen. Auch eine vorübergehende Gehaltsreduzierung kann das Zeitkonto auffüllen.
Begründungsfreie Sabbaticals könnten auch auf gesetzlicher Ebene geregelt werden. Nach den Vorstellungen von Svenja Pfahl stünden dann allen Menschen zwei bis drei Auszeiten im Berufsleben von jeweils sechs bis zwölf Monaten zur Verfügung. Anspruch auf Lohnersatz bestehe dabei nicht. Vorstellbar sei aber ein staatlicher Zuschuss – eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für begrenzte Zeit.
Das gesamte Konzept findest du hier (Abre numa nova janela).
Ich teile Svenja Pfahls Einschätzung, dass Auszeiten prophylaktisch dazu beitragen können, Überlastung und Burn-out zu vermeiden, und damit auch Arbeitskraft zu sichern, insbesondere auch im höheren Alter. „Das ist im Interesse der Arbeitgeber und der Gesellschaft. Mit Auszeiten werden nicht nur persönliche, sondern gesellschaftliche Ziele unterstützt“, sagt Pfahl.
Ein Lebenslauf, der uns Luft verschafft
Neben Zeitwertkonten, die sinnvoll sind, aber nicht immer ihr eigentliches Ziel erreichen, und bei akuten Anlässen oft nicht hilfreich sind, und den aus meiner Sicht sehr spannenden Modellen der Kurzzeitsabbaticals gibt es mit dem Optionszeitenmodell eine weitere, bereits sehr ausgearbeitete Idee, wie regelmäßige Auszeiten und mehr Flexibilität in der Erwerbsbiografie ermöglicht werden könnten.
Das Optionszeitenmodell, manchmal auch als “atmende Lebensläufe” bezeichnet, sieht vor, dass Menschen ein Zeitbudget von mehreren Jahren erhalten, das sie während ihres Lebens einsetzen können, um Kinder und Pflegebedürftige zu betreuen, sich weiterzubilden oder für sich selbst zu sorgen. Die Zeitforscher*innen Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger, mit denen ich in der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Abre numa nova janela) zusammenarbeite, haben dieses Konzept maßgeblich entwickelt. Die DGfZP kooperiert derzeit mit der Bundesstiftung Gleichstellung (Abre numa nova janela) in sogenannten Optionszeitenlaboren, um das Modell auf gleichstellungspolitische Wirkungen hin weiterzudenken.
„Uns geht es um ein neues sozialpolitisches Gesamtmodell für das Verhältnis von Arbeit und Leben. Mit der Etablierung von ‚atmenden Lebensläufen‘ als neue Norm und Normalität zielt das Optionszeitenmodell auf die Ablösung der (männlichen) Norm der ‚Normalbiographie‘ und auf die Umverteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern“.
Ich erläutere die Idee der Optionszeiten ausführlich in meinem Buch Zeitwohlstand für alle (Abre numa nova janela). Karin Jurczyk hat dem Magazin Riff Reporter gerade auch ein Interview zu diesem Thema gegeben. Beides, das Magazin und das Interview mit der freien Journalistin Carina Frey, möchte ich sehr empfehlen.
https://www.riffreporter.de/de/gesellschaft/zukunft-arbeit-mehr-auszeiten-vom-beruf-gegen-fachkraeftemangel (Abre numa nova janela)Ein Erklärvideo des Katholischen Deutschen Frauenbundes ist außerdem hier zu finden:
https://www.youtube.com/watch?v=CRhBHjY0wqQ (Abre numa nova janela)Auch mit Cawa Younosi habe ich über dieses Thema gesprochen. Er war bis 2023 Personalchef bei SAP in Deutschland und hat dort eine Väterzeit eingeführt: "Wir wollen damit zeigen, dass Familienvereinbarkeit und Karriere machen keine Widersprüche sind", erklärte er damals. Das Modell sah vor, Väter und alle anderen Partner ab der Geburt ihres Kindes sechs Wochen bezahlt freizustellen. Anfang 2024 hat der Vorstand das Programm jedoch wieder gestrichen.
Cawa Younosi hat SAP inzwischen verlassen und ist heute Geschäftsführer der Charta der Vielfalt. Er gilt als einer der einflussreichsten Experten für Personalmanagement und Human Relations in Deutschland. Vor wenigen Tagen ist sein Buch Die große Potenzialverschwendung (Abre numa nova janela) erschienen. Darüber habe ich mit ihm gesprochen.
Foto: Thomas Pirot
„Leistung kann sich nur durchsetzen, wenn alle die gleiche Ausgangsposition haben.“
Herr Younosi, in den vergangenen Monaten haben zahlreiche Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft die Menschen geradezu angetrieben, mehr zu arbeiten. Woher kommt Ihrer Meinung nach dieses Misstrauen, dass Menschen nicht genug leisten?
Das ist ein Denkfehler. Es wird immer wieder von Personen angesprochen, die den Bezug zu den Arbeitenden ein stückweit verloren haben. Es ist doch nicht so, dass ich als Arbeitnehmer einfach entscheiden kann: Ab morgen arbeite ich nur noch vier Tage die Woche bei vollem Gehalt. Das ist nicht die Realität.
Zur Realität gehört zum Beispiel, dass inzwischen viel mehr Beschäftigte Frauen sind, die aber häufig in Teilzeit arbeiten. Zu den goldenen Zeiten derjenigen, die diese Appelle heute aussprechen, haben Männer in Vollzeit gearbeitet und Frauen nicht viel zu melden gehabt. Gesellschaftliche Fortschritte werden durch überspitzte Forderungen nach längeren Arbeitszeiten daher auch als etwas Negatives dargestellt.
Längere Arbeitszeiten sind also keine Antwort auf den Fachkräftemangel?
Die Arbeitszeit sollte weniger im Fokus stehen. Wichtiger sind die ungenutzten Potenziale. Zum einen arbeiten wir in den Unternehmen nicht evidenzbasiert genug. Die Erkenntnisse aus vielen Studien der Arbeitsforschung liegen auf dem Tisch. Doch dieses Wissen wird häufig verschwendet. Nehmen wir als Beispiel Anreize wie Boni: Es gibt eine eindeutige Studienlage, dass sie mehr Kosten verursachen als nutzen. Ungeachtet dessen machen Unternehmen einfach weiter wie schon seit Jahrzehnten. Die andere Verschwendung betrifft die Menschen, deren Talente vergeudet werden.
“Die große Potenzialverschwendung” ist am 30. September 2024 bei Haufe erschienen. Quelle: Haufe
“Jeder und jede von uns ist ein Talent.”
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Jeder und jede von uns ist ein Talent.“ In der Praxis würde das heißen, dass alle Menschen etwas beitragen können und niemand chancenlos am Rande der Gesellschaft stehen müsste.
Niemand ist von Natur aus faul. Jeder hat eine Eigenschaft oder ein besonderes Interesse, das ihn antreibt. Wenn man sich dieses Menschenbild vergegenwärtigt, ergeben sich daraus automatisch eine andere Wertschätzung, eine andere Führung und ein anderes Vertrauen in Menschen.
Ich beobachte zunehmend, dass Jagd auf die sogenannten Low-Performer gemacht wird. Dabei wird übersehen, dass Menschen oft gar nicht für die Positionen eingestellt wurden, in denen sie aktuell arbeiten, und dass sie nicht per se faul sind. Wenn die Leistung von Menschen abfällt und die Ursache dafür zum Beispiel fehlende Skills sind, dann sollten wir Weiterbildungen anbieten. Wenn sie im privaten Bereich liegen, wie Scheidung, Erkrankungen et cetera, dann sollte ihnen Unterstützung angeboten werden, statt sie mit Abmahnungen zu malträtieren.
Sie sprechen von einer ethischen Verpflichtung zur Potenzialsicherung. Was meinen Sie damit?
Wir müssen davon wegkommen, den Menschen als Verwendungszweck zu sehen, als Ressource in einem kapitalistischen System. Ich habe nichts gegen Kapitalismus, aber wir müssen einen Schritt zurückgehen. Wir sind auch Werten verpflichtet, wie Fairness, Gleichberechtigung und Anstand. Ich sollte einem Vorstand keine Paragrafen und Businesszahlen geben müssen, um ihn davon zu überzeugen, dass Gleichberechtigung eine gute Sache ist. Es sollte für ihn eine Selbstverständlichkeit und ein Gebot des Anstands sein, alles zu tun, damit Menschen nicht diskriminiert werden. Leistung kann sich nur durchsetzen, wenn alle die gleiche Ausgangsposition haben und ihre Potenziale zeigen können.
Warum gelingt das häufig nicht?
Ich glaube, dass Talent grundsätzlich in der Bevölkerung breit und vielfältig verteilt ist, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, sozialem Status oder anderen äußeren Faktoren. Allerdings wird das Potenzial nicht immer gleichermaßen erkannt oder gefördert. Häufig verhindern strukturelle Barrieren wie ungleiche Bildungschancen, Vorurteile oder fehlende Zugänge zu Ressourcen, dass bestimmte Talente entdeckt und entwickelt werden.
Die Potenzialverschwendung findet also nicht nur am Arbeitsplatz statt, sondern beginnt in der Schule?
Ja. Je früher die Kinder sich leisten können herauszufinden, welche Stärken und Schwächen sie haben, umso fundierter sind dann auch ihre Entscheidungen hinsichtlich ihres Berufsabschlusses. Deswegen spreche ich mich in meinem Buch für individuell fokussierte Lernmethoden in den Schulen aus und vor allem für mehr Praxis- und Austauschbezug mit der Wirtschaft. Und ich fordere eine Kindergartenpflicht vor der Grundschule, damit hier bereits früh gewisse Defizite, etwa bei der Sprache, ausgeglichen werden können, und die Kinder später in der Grundschule wirklich die gleichen Startpositionen haben und so ihre Potenziale zeigen können.
„Es ist zum Teil eine Diversity-Müdigkeit eingetreten.“
Sie sind Geschäftsführer der Charta der Vielfalt. Mehrere Tausend Organisationen in Deutschland haben sich inzwischen verpflichtet, die Vielfalt der Gesellschaft anzuerkennen und sie für das eigene Unternehmen gewinnbringend einzusetzen. Gleichzeitig gewinnen nationalistische und rechtsextreme Kräfte an Einfluss. Sehen Sie die erreichten Fortschritte im Umgang mit Vielfalt in Gefahr?
Auf jeden Fall. Die Dimension der Migration wird gerade besonders gestresst, aber andere Dimensionen der Vielfalt leiden genauso. Es ist zum Teil eine Diversity-Müdigkeit eingetreten, zum Teil wird Vielfalt auch aktiv bekämpft. Ich versuche daher mit klarem Fokus einzubringen, welche Potenziale der Arbeitsplatz für die Demokratiestärkung hat. Wenn am Arbeitsplatz über Migranten gesprochen wird, sind das nicht abstrakt „die“ Migranten. Sondern man redet über Menschen, mit denen man das ganze Jahr über zusammenarbeitet. Arbeitgeber müssen nicht parteipolitisch aktiv sein, um einen Raum für Dialog zu schaffen. Themen wie Demokratie, Werte und Vielfalt gehören in die Betriebe.
Das Buch von Cawa Younosi hat mich sehr stark angesprochen. Endlich geht es mal nicht um diejenigen, die sowieso immer im Mittelpunkt stehen; die das Gefühl, anders und fremd und minderwertig zu sein, nicht kennen; und die nicht die ungeheure Kraft aufbringen müssen, die es erfordert, um gegen alle Widerstände und Barrieren dennoch weiterzukommen.
Beim ersten Durchblättern stieß ich gleich auf den Satz “Everybody’s a talent.” In diesem Satz liegt eine unglaubliche Kraft, finde ich. Ich denke an so viele Menschen, deren Potenziale nicht erkannt und nicht ausreichend gefördert werden, weil sie in unserer Gesellschaft marginalisiert werden, möglicherweise gleich mehrfach. Es macht mich wütend, wie nachlässig Deutschland mit den verborgenen Potenzialen der Menschen umgeht, denen nicht alles einfach zufällt wie dem privilegierteren Teil der Gesellschaft.
Ich denke dabei natürlich auch an meine Tochter, die das Down-Syndrom hat, und ihre Potenziale hoffentlich auch einmal im Beruf entfalten können wird. Ich denke an mein früheres Ich, dem auf dem Gymnasium gesagt wurde, dass er nicht auf diese Schule gehört. Ich habe zum Glück nicht auf meinen damaligen Klassenlehrer gehört, sondern auf mich selbst, bin geblieben und nun in einer akademischen, manchmal elitären Welt unterwegs, in der ich mich als Arbeiterkind noch heute nicht immer zu Hause fühle.
Cawa Younosi schreibt in seinem Buch: “Wir sind hierzulande leider recht gut darin, Menschen früh das Gefühl mitzugeben: Du gehörst hier nicht dazu – ob das ein Flüchtlingskind an der Grundschule, ein Arbeiterkind an der Uni oder eine Frau im männlich dominierten Vorstand ist. Die Folge davon ist, dass wir Talente auf dem Weg verlieren. Menschen, die abgestempelt werden und sich vor allem irgendwann selbst abstempeln – als unfähig, unggeignet, im schlimsmten Fall als unwürdig.”
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