Neulich musste ich…
einen Handwerker rufen, weil etwas mit unserer Spülmaschine nicht stimmte. Das Wasser lief nicht richtig ab. Ich kontaktierte die Haustechnikfirma eines alten Freundes aus Kindheitstagen. Wir gingen damals in die gleiche Grundschulklasse. Nachmittags spielten wir gegeneinander Fußball auf dem Sportplatz, der genau zwischen unseren Wohnsiedlungen lag. Das Team aus meiner Straße bestand aus vier Spielern, während seine Mannschaft immer aus einem ganzen Haufen Kindern bestand, zehn oder fünfzehn Jungs. Weil wir den Star im Team hatten, gewannen wir ausnahmslos jedes Spiel.
Den Fußballplatz gibt es nicht mehr, die Kinderschar hat sich in die Welt zerstreut, und da man sich immer zwei Mal im Leben begegnet, steht man auf einmal, wie zwei gealterte Kinder, in der Küche und lauscht den Geräuschen des Abflusses. Wir hatten einen vollkommen anderen Lebensweg eingeschlagen. Doch es stellte sich heraus, das uns auch heute noch etwas verband. Er hatte aus der Lokalzeitung mitbekommen, dass ich ein Buch über Zeitwohlstand veröffentlicht habe, und berichtete mir nun, dass er in seiner Firma vor Kurzem die 4-Tage-Woche eingeführt habe. Der Freitag war nun ein freier Tag für alle. An den anderen vier Tagen wurde dafür länger gearbeitet.
Warum er das so mache, fragte ich ihn. Er sagte, dass man das tun müsse, um Mitarbeiter zu finden. Das ist ihm gelungen. Seine noch recht junge Firma ist inzwischen auf zwölf Angestellte angewachsen – oft jüngere Männer, wie ich aus eigener Anschauung der durchs Dorf fahrenden Firmenwagen weiß. Sie haben die Wahl zwischen einer 4-Tage-Woche und einer „ultra-flexiblen Arbeitszeit“. Sie werden übertariflich bezahlt, bekommen Weihnachts- und Urlaubsgeld, Teamevents auf Kosten des Chefs, Mitgliedschaften im Fitnessstudio, ein Business-Bike, Weiterbildungen, Zuschüsse zum Kitabeitrag und, sicher nicht ganz unwichtig, modernes und hochwertiges Werkzeug. Wer sich bewerben möchte, ruft einfach an.
Was uns also verbindet, ist die gewachsene Einsicht, dass Arbeit nicht beschwerlich sein muss, dass man seine persönlichen Bedürfnisse und Wünsche nicht zurückstellen und einem Arbeitgeber unterordnen muss. Die Rollen kehren sich um: Arbeitnehmer*innen müssen nicht mehr dankbar dafür sein, wenn ein Arbeitgeber ihnen Arbeit gibt. Es sind die Unternehmen, die dankbar sein müssen, wenn sie jemanden finden, der seine Arbeitskraft gerade diesem Unternehmen zur Verfügung stellt. Mein alter Schulfreund hat verstanden, dass es diese Umkehr gibt, und dass er als Geschäftsführer umdenken muss, wenn er mit seiner Firma Erfolg haben will. Ich glaube, dass er vieles richtig macht.
Ich habe schon kritisch über das von ihm gewählte Modell der 4-Tage-Woche berichtet, bei dem ein Arbeitstag gestrichen wird, die anderen Tage im Gegenzug aber länger werden. Aber was soll ich sagen? Seine Mitarbeiter sind zufrieden damit. Steht es mir zu, ihn darauf hinzuweisen, dass er das Modell eigentlich anders gestalten müsste? Dass die Verdichtung der vier Arbeitstage gesundheitlich bedenklich ist, dass sowieso niemand so viele Stunden lang produktiv sein kann, dass an vier Tagen pro Woche kaum an soziale Aktivitäten zu denken ist und in Sachen Carearbeit auch wenig gewonnen ist? Soll ich ihm und seinen Angestellten die subjektiven positiven Erfahrungen absprechen und sagen: Nein, nein, ihr habt die Viertagewoche falsch verstanden?
Das kann ich nicht machen, während wir zusammen in der Küche stehen und über die Rohrsituation fachsimpeln (Ich tue nur so, denn ich habe keine Ahnung). Aber ich möchte es auch dann nicht machen, wenn ich journalistisch und wissenschaftlich auf dieses Thema blicke. Die Debatte sollte sich aus meiner Sicht viel stärker an den Erfahrungen orientieren, die Unternehmen mit der 4-Tage-Woche machen.
Bei einem der ersten großen Experimente mit der 4-Tage-Woche, das von 2015 bis 2019 in Island durchgeführt wurde, haben die Versuchsteilnehmer*innen ihre Arbeitszeit um vier bis fünf Stunden reduziert. Es stellte sich heraus, dass das Wohlbefinden der Menschen spürbar anstieg und sie weniger gestresst waren. Weil sie sich besser fühlten, hatten sie nicht nur mehr Freizeit, sondern auch mehr Energie, um diese mit Hobbys, Treffen mit Freund*innen, Sport oder sonstigen Aktivitäten zu füllen. Das alles wirkte sich wiederum positiv auf die Arbeitsleistung aus.
Viele Teilnehmer*innen erklärten in Interviews, dass es ihnen jetzt leichter fiel, ihre Besorgungen zu erledigen. Sie verbrachten mehr Zeit mit der eigenen Familie. Sie kochten häufiger etwas Frisches und kümmerten sich verstärkt um eine gesunde Ernährung. Hausarbeit konnten sie leichter auch an Wochentagen erledigen. Einige Teilnehmer*innen berichteten, dass das ihre Lebenszufriedenheit erhöhte, weil diese Aufgaben nun nicht mehr am Wochenende anfielen. Die Teilnehmer*innen sagten auch, dass sie jetzt mehr Zeit für sich selbst hätten, um etwa Cafés zu besuchen oder Hobbys nachzugehen.
Dies sind reale subjektive Veränderungen, die Menschen spüren und benennen, nachdem sie ihre Arbeitszeit um vier oder fünf Stunden verringert haben. Wie und warum sollte man ihnen diesen Gewinn an Lebensqualität absprechen? Warum sollten sich Firmen gegen ein in der Praxis für alle Beteiligten funktionierendes Modell entscheiden, weil es theoretischen Überlegungen nicht gerecht wird?
Ich finde es absurd, an bestehenden Modellen festzuhalten, weil das Neue noch nicht perfekt ist. Ich finde die Kritik an der 4-Tage-Woche merkwürdig, dass sie ja nicht überall und nicht für alle funktioniere. Wir haben derzeit eine Vollzeitnorm mit rund 40 Wochenarbeitsstunden, verteilt auf fünf Werktage. Von dieser Norm weichen viele Beschäftigte ab, was normal ist. Die 5-Tage-Woche funktioniert also offensichtlich auch nicht überall und nicht für alle. Doch daran hat sich bisher niemand so richtig gestört. Bei der 4-Tage-Woche ist es auf einmal problematisch.
Es ist nicht nur meine persönliche Meinung, dass wir uns in politischen und wissenschaftlichen Diskussionen stärker an der gelebten Praxis orientieren sollten. Die Geschichte zeigt, dass sich die häufig als verwegen empfundene Forderung der Arbeitszeitreduzierung bei gleichbleibendem Gehalt schon häufiger realisiert hat – und zwar durch mehrere gleichzeitig stattfindende Entwicklungen: Erstens durch Gewerkschaften, die dafür kämpften. Zweitens durch Unternehmen, die Vorreiterrollen eingenommen haben. Drittens durch Bürger*innen, die ihre Interessen vertraten und Reformen einforderten. Und nicht zuletzt auch durch einen Sozialstaat, der die Arbeitsbedingungen der Menschen durch Reformen und Gesetze verbesserte und absicherte.
Nur ein kurzer Rückblick ins Jahr 1919, als eine lange bestehende Forderung der Arbeiterbewegung in Deutschland umgesetzt wurde: die Einführung des 8-Stunden-Tages bei vollem Lohnausgleich. Auch damals gab es Vorreiter, wie etwa den Industriellen und Firmengründer Robert Bosch, der argumentierte: „Ich habe schon früh die achtstündige Arbeitszeit eingeführt, weil ich sie für die wirtschaftlichste hielt und für die zuträglichste zur Erhaltung der menschlichen Arbeitskraft.”
Schon 1884 hatte Degussa als erstes deutsches Unternehmen den 8-Stunden-Tag eingeführt. Auch die Zeiss- und die Bayer-Werke haben schon vor der offiziellen Einführung gute Erfahrungen mit dem Modell gemacht. Die Historikerin Hedwig Richter schreibt in einem Artikel bei Zeit Online (Abre numa nova janela): „Zum Erstaunen der Skeptiker und Pessimistinnen brach die Wirtschaftskraft der Unternehmen nicht ein. Vielmehr wurde deutlich, dass Arbeitszeitbeschränkung weder zu Produktions- noch zu Umsatzeinbußen führten.“
Degussa war 1884 das erste Unternehmen mit 8-Stunden-Tag. 1919 wurde er gesetzlich vorgeschrieben. Der Weg zur neuen Vollzeitnorm dauerte 35 Jahre. Bekanntermaßen kam es wenige Jahrzehnte später zu einer weiteren Reduzierung der Wochenarbeitszeit. Ab den 1960er-Jahren haben zahlreiche Branchen in Deutschland die 40-Stunden-Woche eingeführt. Der Samstag wurde zum arbeitsfreien Tag und nach einigen Jahren etablierte sich das in allen Branchen, sofern möglich, als neue Regel.
Viele Voraussetzungen für eine weitere Arbeitszeitreduzierung sind heute wieder gegeben. Wieder gibt es zahlreiche Vorreiterunternehmen. Gewerkschaften wie die IG Metall beginnen, wenn auch noch zaghaft und eher auf lange Sicht, die 4-Tage-Woche zu fordern. Und viele Beschäftigte, nicht nur in jüngeren Generationen, wollen ihre Arbeitszeiten nach unten korrigieren. Erst diese Woche hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine Untersuchung über die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten (Abre numa nova janela) veröffentlicht. Grundlage dafür ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine der umfangreichsten, seit Jahrzehnten fortgeschriebenen Datensammlungen der Sozialforschung in Deutschland. Das Ergebnis: “Vollzeitbeschäftigte Frauen würden gern ihre tatsächliche Arbeitszeit von 40,9 Stunden um 6,2 Stunden reduzieren. Vollzeitbeschäftigte Männer hatten eine durchschnittliche tatsächliche Arbeitszeit von 42,3 Stunden und würden diese gern um 5,5 Stunden reduzieren.”
Dass Arbeitszeitwünsche und tatsächliche Arbeitszeit auseinanderklaffen, ist kein neues Phänomen, das ist seit Beginn der SOEP-Erhebungen so. Allerdings waren die Arbeitszeitwünsche im Schnitt lange relativ stabil, seit etwa 2010 findet sich ein deutlicher Trend nach unten. Neu hinzu kommt außerdem, dass Arbeitnehmer*innen lange nicht mehr in einer so guten Position waren, um ihre Interessen durchzusetzen.
Enzo Weber, Ökonom am IAB, merkt an, dass das Potenzial, mehr Arbeitsstunden zu mobilisieren, begrenzt ist, jedenfalls so lange die Kinderbetreuung nicht ausreichend ausgebaut ist, mobiles Arbeiten und andere Erwerbsanreize nicht konsequent gefördert werden. “Beim Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten müssen auch die veränderten Erwerbskonstellationen in den Familien berücksichtigt werden”, wird Weber in einer Pressemitteilung zur IAB-Studie (Abre numa nova janela) zitiert. So gehöre das männliche Alleinernährermodell der Vergangenheit an. „Nicht jedes Arbeitsmodell ist in jeder Lebensphase gleich gut geeignet. Die Arbeitszeitwünsche fächern sich immer weiter auf. Deshalb sollten Arbeitszeiten individuell angepasst werden können”, empfiehlt Weber.
Enzo Weber hat sich schon an mehreren Stellen kritisch gegenüber der 4-Tage-Woche geäußert wegen des berechtigten Hinweises darauf, dass es viele flexible Arbeitslösungen braucht, die im Lebensverlauf variieren. Natürlich löst eine 4-Tage-Woche nicht alle Probleme. Aber welches Arbeitszeitmodell würde das tun? Eine flexible “X-Tage-Woche“, wie sie Enzo Weber zuletzt gefordert hat?
Wie soll man denn mit einer solchen Forderung in Tarifverhandlungen gehen? Soll während eines Streiks dann wirklich Wir fordern die X-Tage-Woche! auf Plakaten stehen? Lässt sich mit dem Hinweis darauf, dass Arbeitsmodelle heute individuell, flexibel und möglichst selbstbestimmt sein sollen, politisch genug erreichen?
Die 4-Tage-Woche halte ich vor allem deshalb für eine so wichtige Entwicklung, weil sie eine große Symbolkraft hat, weil sie ein konkretes Ziel vorgibt und weil sie an frühere Erfolge der Arbeiterbewegung anknüpft. Die Diskussion über die 4-Tage-Woche ist, neben allen Kriegs- und Krisensituationen, zu einer der dominierenden politischen Debatten dieses Jahres geworden.
Es wurde ein Konflikt geschaffen, an dem sich Befürworter*innen und Kritiker*innen mit Argumenten abarbeiten. Ich wage zu behaupten, dass Forderungen nach einer besseren Work-Life-Balance, flexiblen Arbeitszeiten oder einer X-Tage-Woche diese Wirkungsmacht niemals erreichen werden. Denn sie sind so unbestimmt, dass sich eigentlich alle darauf verständigen können und es letztlich viel zu wenig Fortschritt gibt.
Schon das allein spricht für die 4-Tage-Woche, dass sie es schafft, dieses wichtige Anliegen – die Reduzierung und Modernisierung von Arbeitszeit – in eine breite Öffentlichkeit zu tragen. Die 4-Tage-Woche dient dabei vielleicht vor allem als Framing. Die Initiator*innen des frühen Pilotversuchs in Island schrieben in der Auswertung des Experiments (Abre numa nova janela), dass die 4-Tage-Woche eher ein gedanklicher Rahmen sei. Auch die Organisation 4 Day Week Global, die derzeit viele neue Pilotprojekte weltweit organisiert, auch in Deutschland, gibt kein einheitliches Modell vor. Sie versteht die 4-Tage-Woche als einen von vielen möglichen Ansätzen. Für die Organisation ist entscheidend, dass es eine spürbare Arbeitszeitreduzierung ohne Einkommensverlust gibt.
Wenn die 4-Tage-Woche ein gedanklicher Rahmen ist, kommt es darauf an, darüber nachzudenken, wie dieser Rahmen gefüllt wird. Wer Arbeitsstunden streicht, ist gezwungen darüber nachzudenken, wie die Arbeit neu organisiert werden kann. Neben der äußeren Arbeitszeitverkürzung sind diese inneren, qualitativen Veränderungen der Arbeitszeit für mich der vielleicht noch interessantere Vorgang. Aber darüber werde ich ein anderes Mal schreiben.
Teile gern deine Meinungen zur 4-Tage-Woche mit mir. Braucht es zur Erreichung einer kollektiven Arbeitszeitreduzierung das konkrete Ziel einer neuen Vollzeitnorm? Braucht es für eine neue Zeitkultur etwas, was man auf Plakate schreiben kann? Du kannst direkt auf diese Mail antworten oder mit mir in den sozialen Netzwerken diskutieren. Ich bin bei Linked In (Abre numa nova janela), Instagram (Abre numa nova janela) und neuerdings auch bei Bluesky (Abre numa nova janela) zu finden. Außerdem freue ich mich über alle, die ein Abo abschließen und als inseln der zeit-Mitglied meine Arbeit und diesen Newsletter unterstützen und ermöglichen.