GZ #22 Jedes Schicksal hat seine eigene Würde
Gofigramm

Hinter mir liegt eine schöne, kreative, erholsame, einsame Woche in Cuxhaven. Ich habe an neuen Geschichten gearbeitet, bin am Meer spazieren gegangen und habe über weitere Geschichten nachgedacht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das gemacht habe. Wochen wie diese sind unglaublich intensiv. Ich bleibe vollkommen mit mir selbst und meinen Gedanken allein und versuche, mich nicht ablenken zu lassen. Zwischendurch gibt es mal ein Telefonat, eine kurze Begegnung beim Einkaufen. Dann gehe ich zurück in die zone. So schön es ist, bin ich am Ende der Woche doch auch froh, wenn es wieder nach Hause in den Alltag geht.
Ich empfinde das Schreiben von Geschichten als einen widerständischen Akt in politischer und spiritueller Hinsicht. Es hat mich sehr bewegt, als ich im Guardian die Geschichte von Mazen al-Hamada gelesen habe, der in Syrien gefoltert wurde, in den Westen fliehen konnte, der Welt von seinem Leid und der Grausamkeit des Assad-Regimes berichtete und dann zurückkehrte nach Damaskus, möglicherweise weil ihm in Europa die Aufenthaltserlaubnis entzogen worden war oder er keine Alternative sah. Seine Leiche wurde Anfang Dezember im Foltergefängnis in Damaskus gefunden.
In totalitären Regimen zählt der Einzelne nichts. Wer sich nicht anpasst, nicht gehorcht, wird vernichtet. In meinen Geschichten versuche ich deshalb, den einzelnen Menschen, das individuelle Schicksal zu würdigen. Ich versuche, zu beschreiben, ohne zu bewerten oder zu verurteilen. Jedes Schicksal hat seine eigene Würde.
Das gilt natürlich auch für Dich und mich, wie krude unser Lebensweg auch manchmal wirken mag. Lass uns darauf stolz sein.
Ich wünsche Dir eine tolle Woche. Bis nächsten Montag.
Dein Gofi
Danke, dass Du diesen Newsletter liest. Derzeit unterstützen nicht ganz siebzig Menschen die Teile meiner Arbeit, die ich kostenlos allen zur Verfügung stelle. Wenn auch Du Dich dazu entschließen könntest, wäre ich Dir dankbar. Hier erfährst Du, wie das geht. (Abre numa nova janela)Und wenn Du das bereits machst, danke ich Dir sehr herzlich!
Art2Go
Judith Ziegenthaler: Reynisfjara

Judith Ziegenthaler, Jahrgang 1979, aufgewachsen zwischen Rheinebene und Schwarzwald lebt seit 2004 in ihrer Herzensheimat Dresden. Eigentlich mit pädagogischem und theologischem Background, arbeitet sie seit 2013 als Fotografin. Kreativität und Menschen, das ist für sie der rote Faden, der sich durch alle ihre Professionen zieht. Die Mama von zwei Kindern hat den Schwerpunkt ihrer Fotografie auf der People-Fotografie. Alles begann mit Hochzeiten (www.timjudi.de (Abre numa nova janela)), die sie mit ihrem Mann Timm seit 2013 fotografiert. Mit der Mutterschaft entwickelte sich ein weiterer Herzensbereich: natürliche Familienportraits und die dokumentarische Familienfotografie (www.judithziegenthaler.de (Abre numa nova janela)). In den letzten Jahren entwickelte sich außerdem noch der Wunsch, Frauen zu portraitieren, seien es Künstlerinnen, Entrepreneurs oder Frauen im Business. Judith liebt es außerdem mit Mehrfachbelichtungen, Freelensing und Intentional Camera Movement zu spielen und lässt dies bisweilen auch in ihre Frauenportraits einfließen. Einen wesentlichen Einfluss auf ihre aktuelle künstlerische Entwicklung hatte ein Business-Retreat bei Corinna Keiser und der Onlinekurs von Inspiralab der Fotografinnen Eva Radünzel und Sonja Stich.

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Podcast
Hossa Talk #253 Wo soll ich als Christ*in mein Kreuz setzen? (m. Elinor Hoeke)

HOSSA TALK beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Christsein in einer komplexen, widersprüchlichen und manchmal chaotischen Welt leben lässt – tiefgründig, witzig und hemmungslos ehrlich.
In jeder zweiten Folge laden Jay, Marco und Gofi Talk-Gäste ein, von denen sie glauben, dass sie eine interessante Sicht der Dinge beitragen können.
Die Initiative „kreuz.setzen“, die Demokratie und die Bundestagswahl
Das neue Jahr ist kaum einen Monat alt und der Januar hat schon eine wahre Flut an Nachrichten, politischen Ereignissen und Nachrichten mit sich gebracht – inklusive der darauffolgenden Empörungen, Diskussionen, Demos oder Beifallsbekundungen. Ganz schön viel für einen Monat. Und dann steht ja auch die deutsche Bundestagswahl unmittelbar vor der Tür.
Jay, Marco und Gofi fragen sich, wie das alles nicht zuletzt auch aus einer christlichen Perspektive zu betrachten und zu bewerten ist. Das tun sie in der aktuellen Folge im Gespräch mit Elinor Hoeke. Sie ist Teil der ökumenischen Initiative „kreuz.setzen“, die sich vor allem in den sozialen Netzwerken aus dem christlichen Glauben heraus für Demokratie und demokratische Werte einsetzt.
Elinor erzählt aber auch über ihr Aufwachsen in einer christlichen Gemeinde, dem Gefühl immer anders zu sein, ihrem Outing und ihrer Identität als Transfrau und warum sie lieber das „Dafür“ betont, statt das „Dagegen“ vor sich her zu tragen.
Ein persönlicher, politischer und überraschend hoffnungsvoller Talk, der lieber nach vorne blickt als nach hinten zu schauen.
Hier findest Du den Instagram-Kanal der Initiative „kreuz.setzen“: https://www.instagram.com/kreuz.setzen/ (Abre numa nova janela)
Micro Story der Woche
Sedanstraße 98
Benjamin Stochardt-Barenbaum öffnet die Haustür der Sedanstraße 98 nur mit Boxershorts und einem Bademantel bekleidet. Im Mundwinkel hängt eine Zigarette. Seine länglichen blonden Haare hängen ihm fettig ins Gesicht.
Hm? sagt er.
Hallo, sagt Jens. Jens Lehnhoff, ich äh, ich interessiere mich für das WG-Zimmer. Ist das noch zu haben?
Ach so, sagt Benjamin. Ja klar, komm rein. Er dreht sich um und geht nach drinnen. Jens folgt ihm, schließt die Tür hinter sich und betritt das Reihenhaus. Es riecht nach Rauch, Essen und möglicherweise auch ein wenig nach Marihuana. Linker Hand führt eine breite Holztreppe ins nächste Stockwerk. Der Gastgeber wendet sich aber nach rechts und geht durch eine Tür ins Wohnzimmer. Jens schätzt ihn auf Mitte dreißig. Er wirkt übermüdet oder betrunken oder beides und strahlt eine Selbstsicherheit aus, die Jens beeindruckt.
Die Einrichtung des Raumes ist überraschend spießig. Esther würde verächtlich schnauben, wenn sie sie sehen könnte. Dunkle, wuchtige Möbel, ein Sofa mit Rokoko-Schnörkeln, eine mächtige Wanduhr mit Pendel. Der Teppich des Raumes ist dunkelgrün und wirkt schon ziemlich alt.
Setz dich, sagt Benjamin. Ach so, ich bin übrigens Ben. Er drückt seine Zigarette in einem Aschenbecher aus und lässt sich in einen Sessel fallen, sein rechtes Bein lässt er über die Armlehne hängen. Jens räumt eine Wolldecke und eine Jeans zur Seite und setzt sich auf das Sofa. Er fühlt sich unwohl, wie ein Eindringling. Da der andere das aber nicht so zu sehen scheint, versucht er, sich zu entspannen.
Also, du willst hier wohnen, oder was? sagt Ben.
Ja, äh, geht das denn noch? Ist das Zimmer noch frei?
Theoretisch schon. Hier ist jede Menge frei.
Ach cool. Jens ist überrascht. Gibt es gar nicht so viele Bewerber? Ich hab schon Angst gehabt, ich wäre zu spät.
Nö. Du bist der Einzige. Ich such ja auch gar keine Mitbewohner. Interessante Idee. Woher hast du die?
We… Was? Ach, du Scheiße. Wie peinlich! Das war Franco. Franco meinte, Sie würden, äh, du würdest jemanden suchen. Jens steht hastig auf. Tut mir echt leid. Er muss das irgendwie falsch verstanden haben.
Nee, nee, nee, ist schon okay, sagt Ben. Setz dich ruhig noch mal hin. Du kennst Franco, oder was?
Ja, also, ich wohne zurzeit noch bei ihm, und er will mich loswerden. Vielleicht hat er sich da irgendwas eingeredet, oder keine Ahnung.
Nee, nee, nee, sagt Ben, ist doch eingentlich ne ganz coole Idee, ich mein, ich hab hier echt jede Menge Platz. Eigentlich viel zu viel für mich. Kann sein, dass ich das neulich mal zu Franco gesagt hab. Bist du denn ansonsten ein ganz entspannter Typ, so? Was machstn du beruflich?
Ich bin Fotograf und, also, ja, coache so ein bisschen Leute, so, für innere Zufriedenheit und emotionale Sichtbarkeit. Ja.
Ach, echt? Wie viele Leute coachst du da so?
Also, bisher noch keinen. Ich habe gerade erst damit angefangen.
Hast du dafür ne Ausbildung gemacht, oder was?
Nee, ich hab, also, ich hab einfach echt viel Lebenserfahrung.
Oh. Ben zieht anerkennend die Augenbraue nach oben. Krass. Aber ne Miete kannst du dir leisten, oder was? Also, mit der Fotografie und so?
Ja klar, das ist kein Problem. Außerdem kriege ich bald Unterhalt von meiner Frau, also Ex-Frau. Wir lassen uns gerade scheiden. Also, von daher, ja klar, kein Problem.
M-hm, macht Ben und mustert Jens mit einem Blick, den der irritierend findet. Und wann willste einziehen?
Äh, was? Ach so! Jetzt, echt? Am liebsten sofort. Franco will mich von seiner Couch runterhaben. Jens lacht und hört schnell wieder damit auf, weil es albern klingt. Aber er ist plötzlich wahnsinnig erleichtert. Zurecht? Er hat keine Ahnung, wer dieser Typ im Bademantel überhaupt ist. Und er hat noch nichts vom Rest des Hauses gesehen. Vielleicht ist Ben ein Psycho oder irgendwie anders schräg drauf. Vielleicht ist das Haus eine Bruchbude, in der niemand freiwillig leben will. Doch all das ist ihm merkwürdig egal. Er hat wieder eine Bleibe. Endlich! Um alles andere kümmert er sich später.
Alles klar, sagt Ben. Dann zeig ich dir doch mal, welche Zimmer du haben kannst. Die sind ganz oben im zweiten Stock und stehen leer. Vielleicht musst da doch n bisschen was machen. Das letzte Mal hat da jemand vor fuffzehn Jahren gelebt.
Und wer war das?
Ich. Das sind meine Kinderzimmer.
Sie steigen die Treppe im Flur nach oben, durchqueren einen kleinen Flur, von dem drei Zimmer und ein Bad abgehen, und dann noch eine weitere Treppe zum obersten Stockwerk. Hier ist es kalt, dunkel und staubig. Ben drückt auf einen Schalter, ein Licht mit einem altmodischen Lampenschirm geht an.
Joah, sagt Ben. Wennde willst, guck dich ruhig um.
Was willst du dafür haben? fragt Jens, während er die nächstgelegene Tür öffnet und vorsichtig in den dahinterliegenden, dunklen Raum linst. Er erkennt auf den ersten Blick nicht viel. Ein Bett, ein Schreibtisch, an der Wand ein Tupac-Poster.
Hm, keine Ahnung, sagt Ben, vielleicht so zweihundertfuffzich?
Okay! sagt Jens.
Ben stutzt. Echt? Willst du dich nicht noch mal bisschen genauer umgucken, ich mein …
Nö, sagt Jens. Passt. Zweihundertfünfzig? Nehm ich.
Okay, von mir aus. Brauchst du sowas wie einen Vertrag, oder so? Oder wollen wir das irgendwie …
Das wäre schon gut, denke ich, sagt Jens.
Ah, okay, sagt Ben. Ja, dann setze ich mal einen auf, oder wie das heißt. Oder - weißt du, wie das geht? Hast du sowas schon mal gemacht?
Soll ich mir meinen eigenen Mietvertrag schreiben, oder was? Jens lacht.
Ja klar, sagt Ben und grinst, wieso nicht? Wenn du weißt, wie das geht.
Ja klar, ja klar, sagt Jens und wird schnell wieder ernst. Er kann sein Glück kaum fassen. Das kann ich schon machen.
Ja dann, sagt Ben, herzlich willkommen im Haus Stochardt.
Danke, sagt Jens. Sag mal, was machst du eigentlich beruflich?
Ich bin Schriftsteller.
Ach, und davon kann man leben?
Ich schon.
Als Jens wieder auf die Straße tritt, hat er, ohne es zu merken, ein Lächeln im Gesicht. Dabei ist er sich eigentlich gar nicht so sicher, ob die Entscheidung, bei Ben einzuziehen, wirklich klug ist. Aber was heißt schon ‘klug’? Es geht weiter, das Leben bietet ihm eine nächste Möglichkeit. Darüber könnte er eigentlich gleich mal ein Video für seine Follower machen.
Er biegt in die Pappelstraße ein und holt sein Handy hervor.
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