GZ #9 Magie des Alltags
Gofigramm
In Bremen herrscht zurzeit die fünfte Jahreszeit: Der Freimarkt, die riesige Kirmes auf der Bürgerweide der Stadt, direkt hinter dem Hauptbahnhof, findet wieder einmal statt. Als ehemaliger Bremer bin ich immer ein wenig wehmütig gewesen, wenn ich vom Freimarkt gehört habe und ihn nicht besuchen konnte. Ich habe mich dann an die Aufregung erinnert, die ich als Kind empfunden habe, an die Lichter und die laute Musik, die Düfte, die überall in der Luft liegen nach gebratenem Fleisch, Pommes, in Fett gebratenem süßen Gebäck, an die Fassungslosigkeit, dass hinter der nächsten Biegung der Freimarkt immer noch weitergeht und noch mehr Fahrgeschäfte warten, an halsbrecherische Fahrten in Karussells, an den Adrenalinrausch und den Stolz, sich das getraut zu haben.
Letzte Woche sind wir mal wieder dagewesen. Und – joah, es ist echt ganz schön gewesen, aber nicht so berauschend wie früher. Lag es an der Sonne, die schien, daran, dass es taghell war? Die Rossbratwürtschen schmeckten nicht so gut wie ich dachte, auch das Eis hatte ich etwas besser in Erinnerung, ich spürte gar nicht so richtig Lust, irgendwo mitzufahren – abgesehen von dem Kettenkarussell, das achtzig Meter in die Höhe gezogen wurde und in dem ich mich nicht wirklich entspannen konnte, als ich mehrere Runden über das Nichts drehte.
In unserer kindlichen Wahrnehmung verklärt sich so vieles, stellen wir als Erwachsene immer wieder fest, sodass die Erinnerungen schöner sind als die Realität. Dabei gibt es sie heute immer noch, die magischen Momente im Alltag, die uns als Kinder so leicht zugänglich gewesen sind. Das ist es, was Thomas Merton in seinem ‚Wort an Dichter*innen und Dichter‘ (‚Message to Poets‘) meint, wenn er die Wirklichkeit als einen Fluss beschreibt, in den der unschuldige Geist seinen Fuß setzt und dann Wunder erleben kann. Dieser Fluss, meint Merton, geht von Gott aus, er ist das alles durchziehende Leben. Und wer sich ihm frei von aller Ideologie aussetzt, erlebt wahre, göttliche Präsenz.
In dieser Sonderausgabe des GOFIZINEs und des Podcasts Cobains Erben geht es genau darum: um Kunst, das Leben und den Glauben. Am vergangenen Wochenende habe ich die Gelegenheit erhalten, ein größeres Kunstwerk von mir zu zeigen, das ich in Anlehnung an den griechischen Philosophen Heraklit ‚Panta Rhei‘ genannt habe, „Alles fließt“. Heraklit ist der, von dem Thomas Merton seinen Fluss geborgt hat. Er hat nämlich gesagt, dass man niemals zweimal in denselben Fluss steigen kann. Weil er fließt. Weil er schon im nächsten Moment nicht mehr derselbe Fluss ist, sondern sich gewandelt hat. Wandel, Veränderung, Transformation – das war das Thema einer Konferenz, die meine Kirchengemeinde am Samstag und Sonntag veranstaltet hat. Und dort durfte ich meine Video-Arbeit ‚Panta Rhei‘ und das Video ‚Ein Wort an Dichter*innen und Dichter‘ zeigen. Du kannst sie Dir in diesem GOFIZINE ebenfalls anschauen und anhören.
Die neue Folge von Cobains Erben ist eigentlich eine Doppelfolge. Sie enthält ein Gespräch mit meinem Freund Christoph Wiesinger, der Professor für Theologie in Darmstadt ist. Wir unterhalten uns über Kunst und religiösen Glauben, wie sehr sich diese beiden Dinge ähneln und ob sie voneinander profitieren können. Dieses Gespräch habe ich bereits vor vier Jahren aufgenommen, aber ich finde es so schön, dass ich es Dir hier noch einmal präsentiere. In der zweiten Hälfte der Doppelfolge denke ich ausführlich über den Text von Thomas Merton nach, den ich in dem Video in Auszügen zitiere. Ich lese ihn vollständig vor, gebe umfassende Hintergrundinformationen zu Merton und der Situation, in der dieser Text entstanden ist, und interpretiere ihn.
Ich hoffe, dass in dieser Ausgabe irgendetwas Schönes für Dich dabei ist, und wünsche Dir eine tolle Woche. Bis nächsten Montag.
Dein Gofi
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Meditation
Panta Rhei
Veränderungen können Angst machen. Das Gewohnte vermittelt Sicherheit, weil man es kennt und vorhersehen kann. Aber wenn sich die Dinge verändern, ist es unklar, ob wir mit der neuen Situation zurechtkommen werden oder nicht. Es ist deshalb naheliegend, wenn man versucht, sie zu verhindern. Jedenfalls dann, wenn es einem unter den gegebenen Umständen gutgeht. Ist das nicht der Fall, kann einem die Veränderung nicht schnell genug gehen.
Der Philosoph Heraklit hat gesagt, dass Veränderung nicht nur unvermeidlich ist, sondern eine Eigenschaft der Wirklichkeit ist. Sie verändert sich permanent. Deshalb ist es sinnlos, Veränderung vermeiden oder aufzuhalten wollen. Gleichzeitig war er der Überzeugung, dass die Wirklichkeit, selbst wenn sie sich wandelt, stets dieselbe bleibt, weil alles Teil des großen Ganzen ist. In seiner Essenz bleibt es also erhalten.
Ich weiß nicht, ob er recht hat. Aber diese Videoarbeit ist eine Meditation auf Wandel und Veränderung und die Frage, wie sinnvoll es ist, sich davor zu fürchten. Wenn Du magst und die Zeit hast, kannst Du es als Hilfe zur Meditation nutzen. Beobachte einfach, wie sich die Farben und Formen verändern und lass Deine Gedanken schweifen.
Das Video ist knapp eine halbe Stunde lang. Farben und Formen verändern sich mehrfach. Aber vielleicht willst Du Dir einfach auch nur zwei bis drei Minuten gönnen, je nachdem, was gerade in Deinen Tagesablauf passt.
https://youtu.be/LSSFP4_L-NY (Abre numa nova janela)Du hast das GOFIZINE noch gar nicht abonniert? Dann klicke doch bitte mal auf den Button.
Video
Tomas Merton: Ein Wort An Dichterinnen und Dichter
https://youtu.be/3OxohAyMiXg (Abre numa nova janela)In dem Band 'Raids on the Unspeakable' (New Directions, New York 1966) hat der 1968 verstorbene Trappist und bekannte Mystiker und Dichter Thomas Merton eine Sammlung von verschiedenen Essays veröffentlicht, die sehr lesenswert, oft aber auch dunkel und poetisch sind, weshalb es sich anbietet, sie immer und immer wieder lesen.
Darunter ist auch ein Text, den er 1964 geschrieben hat. Es ist eine Botschaft an junge Dichterinnen und Dichter, die vor allem aus Lateinamerika stammten und sich in Mexico City trafen.
'A Message to Poets' richtet sich an DichterInnen, aber auch an andere KünstlerInnen und schließlich an jeden, der sich dem Leben verpflichtet fühlt und die Notwendigkeit erkennt, gegen unterdrückerische und ausbeuterische Ideologien aufzustehen. Es ist ein Text, der aus einer tiefen Gläubigkeit schöpft und darin Motivation findet, sich den Dingen der Welt entschlossen zuzuwenden.
Ich habe den Text ins Deutsche übersetzt/übertragen, weil ich keine deutsche Version davon finden konnte und weil ich ihn für wichtig halte. In diesem Video lese ich Dir Auszüge daraus vor. Du kannst mir zuhören und die Worte mitlesen, während Du eine Stelle an der Lahn betrachtest, an der ich hin und wieder schwimmen gehe.
Podcast
Kunst. Religion. Kunstreligion: Über die spirituelle Kraft von Kunst und Dichtung (m. Christoph Wiesinger und Thomas Merton)
Kunst und Religion liegen ganz nah beieinander. Es ist nicht selten der Fall, dass sich Menschen besonders für Kunst interessieren, die mit dem religiösen Glauben nichts (mehr) anfangen können. Aber warum ist das eigentlich so? Was haben Kunst und Religion gemeinsam? Und können die beiden vom jeweils anderen profitieren?
Diese Doppelfolge versucht den Fragen auf die Schliche zu kommen. Im ersten Teil unterhält sich Gofi mit dem Theologen Christoph Wiesinger, der seit 2023 Professor für Gemeinde- und Religionspädagogik an der EH Darmstadt ist und sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit auch mit den Themen Kunst, Ästhetik und Glaube beschäftigt hat. Gofi und Christoph sind seit langem miteinander befreundet, und das merkt man ihrem entspannten und dennoch gehaltvollen Gespräch an.
Im zweiten Teil untersucht Gofi einen Text des Dichters und katholischen Mystikers Thomas Merton. Sein wahnsinnig spannendes ‚Wort an Dichterinnen und Dichter‘ (‚A Message to Poets‘) beschreibt in dichter, mystischer Sprache die Bedeutung, die Kunst für unsere Gesellschaft hat. Für Merton steht fest, dass Kunst etwas durch und durch Spirituelles ist. Gofi hat den Text übersetzt und stellt ihn hier vor.
Beide Folgen wurden bereits vor fünf Jahren aufgenommen. Jay ist deshalb nicht dabei, weil es Cobains Erben damals noch nicht gab. Das ist schade, aber Christoph Wiesinger und Thomas Merton sind beides auch ganz hervorragende Gesprächspartner. Überzeuge Dich selbst. (Das Episodenbild stammt von Leonardo AI.)
Christoph empfiehlt in unserem Gespräch das Buch „Der religiöse Charm der Kunst“, herausgegeben von Thomas Erne und Peter Schütz. (Abre numa nova janela)
00:00:00.00 Gespräch mit Christoph Wiesinger
00:43:42.03 Wer war Thomas Merton?
00:54:31.02 Ein Wort an Dichter*innen und Dichter
01:10:38.01 Sind Künstler*innen die wahren Mystiker*innen?
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