RAISED FIST Interview (aus FUZE.79)
EIN MEISTERWERK. Dieser bescheidenen Meinung ist Sänger Alle über das neue Album seiner Band. Wie viel Arbeit die Schweden in „Anthems“ gesteckt haben und ob es in Wirklichkeit ein Pop-Album ist, erklärt uns ein sehr redefreudiger Alle.
Foto: Daniel Holmgren
Euer neues Album heißt „Anthems“ und das ist auch das, was man bekommt. Ich frage mich, was kam zuerst? Der Albumtitel oder die Songs?
Zuerst haben wir uns in meiner Küche zusammengesetzt und alles begutachtet, was wir hatten. Alle Riffs, die wir gesammelt haben, und haben sie in eine große Liste eingetragen. Mit Arbeitstiteln wie „Soft song“, „MUSE-ish song“, „Hardcore song“ und so weiter. Dann sagte ich: Lass uns nur zehn Tracks auf das Album packen. Nicht mehr, nicht weniger. Dadurch hatten wir eine sehr gute Vorarbeit geleistet. Wann immer ein neuer hinzukam, musste er besser als die anderen Songs sein, um einen von der Liste zu stoßen. Das haben wir so lange gemacht, bis wir die besten Songs zusammen hatten. Es sollten also von Anfang an nur zehn Songs sein, keine kleinen Nummern, kein „Ach, die zwei sind doch okay, lass uns zwölf machen“. Nein. Nur zehn gute Songs. Wir wollten ein Album ohne Wiederholungen, ohne Mittelmaß, keine Songs, die als Übergang funktionieren. Jeder Song muss gut ausgearbeitet sein, die Hook muss sitzen. Ich habe sehr lang an den Texten, den Gesangslinien und Hooklines gearbeitet, alles musste perfekt sein. So hart habe ich noch nie daran gearbeitet und es gab immer ein oder zwei Songs auf jedem Album, mit denen ich dann unzufrieden war. Die Songs waren immer gut, aber ich war mit meiner Leistung nicht zufrieden. Ich hätte es besser gekonnt, und das wollte ich auf diesem Album umsetzen. Ich habe mir den Arsch abgearbeitet. Wir haben unser Albumbudget um 400 Prozent überzogen, es hat uns ein Vermögen gekostet.
Wenn du in zehn Jahren auf dieses Album zurückschaust, wirst du dann immer noch denken, dass alles genauso sein musste?
Man weiß nie, was passieren wird, aber ich wollte einfach nur mein Bestes geben. Ich meine, wir geben immer unser Bestes, in der Zeit, die uns zur Verfügung steht. Aber das ist ja genau das Problem: die Zeit. Und das durfte dieses Mal nicht zum Problem werden. Das ist, wie wenn du eine Prüfung schreibst, und am Ende brauchst du noch zwanzig Minuten mehr. Und dann noch mal zehn. Und das wollte ich mir nicht antun, wenn ich nicht glücklich mit etwas war, habe ich eben von vorne angefangen. Dabei bekommt man nicht unbedingt das beste Ergebnis, nicht den besten Sound, die meisten Hits oder was auch immer. Nur mehr Zeit garantiert das nicht. Aber es gibt dir den Spielraum, auf die perfekte Eingebung zu warten. Manchmal spielst du was, und es macht einfach klick. Zum Beispiel unser Album „Sound Of The Republic“: Perfekter Sound, aber wir mussten nach 14 Tagen fertig sein. Es war toll, aber anstrengend. Diesmal sollte es anders sein. Vor allem beim Schlagzeug und beim Gesang. Unser Produzent ist ein totaler Drum-Nerd, also haben wir unseren Schlagzeuger viel Zeit mit ihm verbringen lassen, Schlagzeuge ausprobieren und so weiter. Wir haben gesagt: „Macht was Magisches!“ Als die ersten Aufnahmen kamen, war es ein einfacher Drumbeat und meine Reaktion war: Das ist normal. Das hat keinen Wow-Effekt. Es war gut gespielt und gut aufgenommen, keine Frage. Aber eben nichts Besonderes. Daher mussten sie zwei Songs wieder löschen, an denen sie zwei Tage gearbeitet hatten. Dann kam der nächste Versuch, der schon eher in die richtige Richtung ging. Bei „Into this world“ gibt es dann einen Beat, der etwas Besonderes ist. Das ist, was ich will. Wir waren also unsere eigenen Produzenten, auf sehr hohem Niveau. So fing es an. Und beim Gesang haben wir so weitergemacht. Wir haben was aufgenommen, ich habe es mir angehört, und es hat mich nicht begeistert. Also haben wir alles gelöscht und ich musste einen neuen Text schreiben. Zum Beispiel bei „Shadow“, der mehr so ein Rock’n’Roll-Song ist, und alles fühlte sich müde an. Der Song braucht eine Attitüde, also habe ich einfach erfundenes Englisch, irgendein Kauderwelsch gesungen, aber eben mit Attitüde, Lautstärke hoch und los ging es. So habe ich dann den Rhythmus für den Gesang gefunden. Und da wusste ich, was ich schreiben musste.
(Abre numa nova janela)Arbeitest du grundsätzlich so an deinem Gesang? Dass du mit einem Rhythmus anfängst, bevor du einen Text schreibst?
Der Rhythmus ist eine Sache, ich fühle, wie ich singen möchte, und mache dann einfach irgendwas. Bis ich merke, dass es einen gewissen Flow hat. Dann kommen die eigentlichen Texte. Manchmal ist das einfach, ich arbeite erst mit einem Text, der nichts bedeutet, und arbeite mich dann daran ab, bis ich eine Zeile habe, und dann baue ich alles da herum. Normalerweise sind diese improvisierten Ausbrüche aber nicht komplett dumm, haha! Damit kann man dann ganz gut arbeiten.
Du sagtest ja, dass deine Bandkollegen Songs neu einspielen mussten. Meinst du, die anderen im Studio waren irgendwann genervt von deinem Perfektionismus?
Nein. Alle waren an Bord. Wir haben uns auch an die Aufnahmen von „Sound Of The Republic“ erinnert, damals war das die beste Technik, die wir hatten. Und wir waren auf unserem kreativen Höhepunkt. Dann gab es aber auch Phasen, in denen wir nur Stress hatten und ständig diskutiert haben. „From The North“ zum Beispiel war ein einziges Chaos. Für uns Perfektionisten gibt es da so viele Momente auf dem Album, über die wir uns heute ärgern. Das wollten wir nicht schon wieder. Also wollten wir es genau wie bei „Sound Of The Republic“ machen. Wir treffen uns alle und schreiben gemeinsam Songs. Dann gehen wir ins Studio und nehmen Demos auf, mit denen wir dann arbeiten können. Und erst wenn wir damit zufrieden sind, gehen wir wirklich aufnehmen. Das war sehr gut, denn wir waren mit dem Album zu neunzig Prozent fertig, als wir ins Studio gegangen sind. Wir wussten genau, was wir wollten. Die beste Studiosession bisher.
Euer Ziel war es ja, ein Album voller Hooklines und Hymnen, eben „Anthems“ zu schreiben. Das ist ja eigentlich ein Ansatz aus der Popmusik. Ist „Anthems“ ein Pop-Album im Hardcore-Gewand?
Hm. Ja, vielleicht eher wie ein mit einem Pop-Produzenten aufgenommenes. Wir sind keine Popband. Wir sind eine Hardcore-Band. Ich kann da nur von den Texten sprechen, denn die schreibe ich alleine und lasse mir von niemanden reinreden, auch nicht von einem Produzenten oder jemandem in der Band. Ich habe ein gutes Gefühl für Melodien und Hooks. Das wollte ich wirklich bis zum Letzten ausreizen und mir die Zeit dafür nehmen. Es ist also kein Pop-Album in dem Sinne, denn es ist einfach das, was ich immer mache, nur eben konsequent bis zum Letzten. Warum ich das mache? Ich sah eine AC/DC-Show auf YouTube, „Thunderstruck“ live. Da ist dieser Chor, das Gitarrenriff und dann geht das Licht an und alle flippen aus. Ich dachte mir: Das ist keine Raketenwissenschaft. Das ist einfach nur Rockmusik, die nicht verkompliziert wurde. Meine Tochter ist jetzt anderthalb und sie versteht die Texte nicht, aber sie ist direkt mitgegangen. Also wollte ich weg von komplizierten und anspruchsvollen Gesangslinien. Was ist ein Refrain? Wie mache ich ihn größer? Das habe ich schon vorher getan. Das ist nichts Neues für RAISED FIST. Aber ich wollte es wirklich groß machen.
(Abre numa nova janela)Ich habe mir mal die Mühe gemacht und mir die YouTube-Kommentare unter eurer ersten Single durchgelesen. Ich war überrascht, wie polarisiert die Leute sind. Die einen finden es super, die anderen können gar nichts damit anfangen. Hat dich das überrascht?
Nein, das ist die Realität. Bei Social Media hast du immer diese Trolle. Wenn du dir aber die Statistik ansiehst, dann mögen 91 Prozent den Song. Die Leute, die meckern, sind immer lauter und wollen gehört werden, obwohl sie eine Minderheit sind. Ich habe mir das angesehen, und das ist bisher bei jedem unserer Alben so gewesen. Irgendwann verschwinden diese Leute, wenn die normalen Fans kommen. Wenn man nach der Statistik geht, haben wir ein Meisterwerk geschrieben, 91 Prozent mögen es. Neue und alte Fans. Man darf auch nicht vergessen, dass das Video über den Epitaph-Kanal veröffentlicht wurde. Das Label ist extrem gewachsen, mit Bands wie PARKWAY DRIVE, ARCHITECTS und so weiter. Und viele Kids kommen von dort, die wissen überhaupt nicht, wer wir sind. Da heißt es, ich könnte nicht singen. Ich singe besser als die meisten Hardcore-Sänger da draußen. Die können vielleicht schreien, aber nicht was ich mache. Ich kann schreien. Aber das ist keine Kunst. Du solltest niemals auf die Kommentare hören, das ist einfach nicht gut für dich.
Social Media ist auch ein Thema auf dem Album.
Ja, wir wussten ja auch, das wir diese Reaktionen bekommen würden. Aber wenn du weißt, wo du herkommst und wofür du stehst, ist das ganz egal. Wir kommen aus den Neunzigern. Hardcore war damals etwas ganz anderes. JUDGE, STRIFE, GORILLA BISCUITS. Wenn du „Anthems“ hörst, hörst du diesen Hardcore. Da sind STRIFE-Riffs, da sind JUDGE-Riffs. Oder nimm GORILLA BISCUITS: „My room is a mess and I can’t get dressed“ Oh, das ist aber tiefgründig. Oder EARTH CRISIS: „Street by street, block by block, taking it all back“. Und dann hör dir „Anthem“ an, die gleichen Riffs, „It’s a brand new anthem, coming your way“. Normalerweise singe ich viel schneller, hier habe ich die Musik sprechen lassen und bin dann erst dazukommen. Es sind nur ein paar Zeilen, aber ist härter als alles, was du je gehört hast. Ich muss kein Essay schreiben, um der Härteste zu sein, ich muss nicht so viel singen. Es ist auch eine kleine Hommage an alte HipHop-Bands und deren Attitüde. Die Leute denken, ich bin verrückt geworden. Nein, ich bin nicht dumm. Ich hatte eine Idee, einen Gedanken hinter den Texten. Immer mit einen Blick auf die Oldschool-Szene und die Working-Class-Hardcore-Bands. Die Leute, die sich über meine Texte aufregen, wissen einfach nicht, wo wir herkommen. Wenn die das hier jetzt lesen, werden sie sich schämen und denken: „Oh nein, wie dumm bin ich gewesen!“ Die hätten unser Bandinfo lesen sollen: „Manchmal muss ein Song komplett ohne Bedeutung sein, wie ein AC/DC-Song. Trink Bier, hab eine gute Zeit.“
Dennis Müller