Saltar para o conteúdo principal

100.000 Mütter und ich vorm Reichstag

Als mich Manja Liehr, eine der Initiatorinnen der Bewegung 100.000 Mütter — eine Bewegung für echte Gleichstellung (Abre numa nova janela) — vor einigen Monaten bat, zur geplanten Demo-Kundgebung am 10.05.2025 in Berlin — ursprünglich noch vor dem Brandenburger Tor geplant; sehr bedeutungsschwanger aber letztlich vor dem Reichstag — eine Rede zu halten, hatte ich ehrlich gesagt Schwierigkeiten beim Zusagen. Da mir die Nachteile meiner Exponierung, vor allem der feministischen, in den Knochen steckt und ich mich als Projektionsfläche und Zielscheibe für Hass und Ablehnung nicht mehr unbedingt hergeben mag, bin ich nicht mehr so gern im Fokus, schon gar nicht live. So eierte ich eine Weile um die Zusage herum, bis Ostern kam und die Eiersuche offiziell damit endete, dass ich mich fragte, wie ich eine feministische Leitfigur sein kann, wenn Eier immer noch der Maßstab meiner Dinge sind; meine Eierei kann Sinnbild für das Ergebnis erfolgreicher patriarchaler Strategien, wie Einschüchterung, Herabsetzung und Ausgrenzung von Frauen, die widerborstig sind, sein, aber wohl kaum eine langfristige Leitlinie. So habe ich an Ostern entschieden die Rede zu halten. Schließlich gibt es nichts schöneres, als vor Menschen meine Stimme zu erheben, die gemeinsam und kraftvoll den Mittelfinger Richtung Reichstag erheben und für etwas einstehen, was doch selbstverständlich sein sollte: echte Gleichstellung!

Unsere Arbeit als Frauen umfasst neben beruflicher Karriere: Haushalt, Kindererziehung und den Großteil an mentaler, organisatorischer und emotionaler Arbeit, um das System Familie und Wirtschaft am Laufen zu halten (Gender Care Gap 2022: Frauen leisten 44,3 % mehr unbezahlte Arbeit als Männer (Abre numa nova janela)). Die Arbeit neben dem bezahlten Beruf, ist aber unbezahlt, man spricht von ehrhafter Aufopferung, weiblicher Hingabe und natürlichem Mutterinstinkt. Geht’s noch? Wir fordern ab jetzt. Und zwar alles gleichzeitig. Im folgenden Text lest ihr meine Rede zu struktureller Gewalt vor dem Reichstag in Berlin; Demokundgebung von 100.000 Mütter vom 10.05.2025.

Foto: Mel Rangel

Ich erlebte meine Pubertät in den 90ern. Die 90er haben mich so misogyn sozialisiert wie Andrew Tate eine Masse an jungen orientierungslosen Männern, die dem Patriarchat schneller zum Opfer fallen, als sie Führerschein aussprechen können. Frauen galten grundsätzlich als vorbehaltlich. Schwule galten als verabscheuungswürdig, Lesben als geil, insofern sie stereotyp weiblich aussahen, Nicht-binäre gab es gar nicht und Frauen und Mädchen hatten nur einen Wert, wenn sie zur eigenen Bedürfnisbefriedigung nützlich waren. Und obwohl der Wert dieser Care-Tätigkeiten und derer, die ihrem Broterwerb dienten allein schon genügend Wertschätzung bedürften, galten sie erst und nur dann als wertvoll, wenn sie bestimmten Vorstellungen von Schönheit entsprachen oder sich als unkomplizierten Kumpel, der Sorgearbeit leisten kann, erwiesen. Der Wert einer Frau begann auf einer normierten Schönheitsskala und endete auch schon wieder dort, wo sie nein sagte oder Cellulite bekam oder einen Bodycount hatte oder eine eigene Meinung.

Außerdem bin ich ostdeutsch sozialisiert, wo sich beobachten ließ, dass Frauen einer 40 h Woche im Lohnerwerb nachgehen UND die volle Care-Arbeit übernehmen. In den meisten Familien hieß es Männer kümmern sich um alles draußen — Haus, Garten, Hof — und Frauen um alles drinnen — Haushalt, Küche, Kinder und damit wäre alles gerecht aufgeteilt. Als ob die Erziehung, Pflege und Versorgung der Kinder mit den Draußen-Arbeiten in ihrem Umfang irgendwie aufzuwiegen wäre.

Erst in meinen Dreißigern und vielen weiteren Erfahrungen mit struktureller Gewalt, habe ich angefangen feministische Literatur zu konsumieren und neben personaler und kultureller Gewalt auch strukturelle Gewalt zu erkennen.

Die meisten Frauen erkennen die Ungleichbehandlung der Geschlechter erst im Verlaufe ihres Erwachsenenlebens. Nämlich dann, wenn sie Mütter werden.

Wenn sie das erste Mal spüren, dass der Erhalt einer Ordnung, das Erfüllen von Rollenbildern und gesellschaftlich erwartetem Rollenverhalten per se vorrangig bewertet wird, als das persönliche Bedürfnis. Und gleichzeitig bewegen sich heute schon 12jährige in meinem Umfeld, die das feministische ABC ohne stocken aufsagen können und zwar mit einem Selbstverständnis, Haaren an den Beinen und auf den Zähnen, die daran zweifeln lassen, dass es dieses Patriarchat je gegeben hat — zum Glück! Was für eine Entwicklung der Feminismus in den letzten 15 Jahren betrieben hat! Der Feminismus ist gerade so en vogue, dass viele der Meinung sind, wir wären doch längst gleichberechtigt. Stellt man das aber infrage, folgt darauf zu oft reflexhafte Abwehr, Banalisierung, Leugnung, Täter-Opfer-Umkehr und Vereinzelung von Frauen, damit sie sich nicht zusammentun.

So wie wir heute hier!

Das hat System, das ist strukturelle Gewalt. Und wenn man Schwierigkeiten hat, personale Gewalt als solche zu erkennen — zum Beispiel einen sexistischen Witz — dann erkennt man strukturelle Gewalt erst recht nicht und dann ist es vielleicht gut, den Begriff nochmal zu klären.

Der Friedensforscher Johan Galtung (Abre numa nova janela) hat 1971 den Begriff eingeführt und wie folgt definiert:

„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“

Einfacher ausgedrückt: strukturelle Gewalt schafft eine erzwungene und vermeidbare Situation, in denen man in allen Lebenslagen unter den allgemeingültigen potentiellen Möglichkeiten bleibt. Sie basiert auf Strukturen einer bestehenden Gesellschaftsform, wie Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen sowie Macht­verhältnissen. Anders als bei personaler Gewalt, gibt es bei struktureller Gewalt kein konkretes Gegenüber. Das ist besonders perfide, denn daraus resultiert, dass diese Form der Gewalt entweder nicht als solche erkannt wird, da sie als Lebensnorm stark internalisiert ist, oder dass sie in Ohnmacht mündet.

Darum ist es zum Beispiel so, dass Menschen mit Uterus PMS, Menstruationsschmerzen und perimenopausale Gesundheitsprobleme als gegeben hinnehmen und infolge dessen auch keine Handhabe oder Therapieoption voraussetzen oder einfordern. Sie leben einfach Jahrzehnte lang mit unnötigen Einschränkungen und Beschwerden durch untererforschte Frauenleiden, hinterfragen weder das Gesundheitssystem, noch ihre dazugehörigen Glaubenssätze und geben ihr Unwissen oder ihre Ohnmacht an ihre Töchter weiter: Menstruationsschmerzen sind normal und die Wechseljahre auch, da musst du jetzt durch. Doch dies sind vermeidbare Leiden, würden sie nur gesamtgesellschaftlich mehr Aufmerksamkeit erhalten und eine ernsthafte und differenziertere Auseinandersetzung mit Frauengesundheit daraus folgen. Doch dafür müssten FLINTA* insgesamt erst einmal ernster genommen werden.

In den 90ern war das auf jeden Fall nicht so. Und in den 2000ern auch nicht. Meine Mutter wurde in den 2000ern mit ihren Schmerzen nicht ernst genommen und hat dafür mit ihrem Leben bezahlt. Zu jung, zu früh, vermeidbar. Und vor allem, kein Einzelfall.

Foto: Mel Rangel

Und dann frage ich die strukturellen Gewalt-Leugner, Männer wie Frauen und die 12jährigen feministischen Mädchen, die sich schon zu sicher fühlen, weil ihre feministische TikTok-Bubble zu homogen ist: ist es heute anders? Kümmern sich Mütter und Väter heute zu gleichen Teilen um Kinder, Haushalt und alles was dazugehört? Haben in Sachen Care alle Geschlechter den gleichen mental load? Sind Frauen heute mehr wert, als ihr Aussehen? Oder haben sie einen selbstverständlichen Wert, der unabhängig davon ist, ob sie nützlich für jemanden sind? Haben sie die gleiche Lebensqualität, weil für ihre frauenspezifischen Gesundheitsthemen gleich viel Geld in die Forschung gesteckt wird? Ist die Gesundheitsvorsorge für Frauen mittlerweile frei von Stigmatisierung und Psychologisierung realer physischer Schmerzen? Verdienen Frauen genau so viel Geld wie Männer? Können Frauen männerdominierte Berufe ausüben und sich dort ohne Stigma, Sexismus, Belästigung eine solide Karriere aufbauen ohne dabei auszubrennen, weil bei ihnen ein anderer Maßstab angesetzt wird? Gibt es noch die gläserne Decke? Sind Homosexuelle, trans- und intersexuelle Menschen selbstverständlich in unserer Gesellschaft inkludiert, ohne sexualisiert zu werden? Ist die Sexualität von Frauen mittlerweile frei? Frei von Klischees, Erwartungen, Machtgefällen ohne Konsens, frei von Prägung kultureller Gewalt? Sind Frauen sicher? Auf den Straßen, abends und nachts beim Joggen, im Club, in den eigenen vier Wänden? Haben Frauen genauso viel Zeit für ihre Selbstverwirklichung, wie Männer? Oder sind sie zu sehr damit beschäftigt Schönheitsarbeit zu betreiben und das Altern aufzuhalten, um ihren Wert zu erhalten? Oder sind sie zu sehr damit beschäftigt sich zur Therapeutin zu schleppen, um ihre Erschöpfung durch unbezahlte Care-Arbeit und patriarchale Belastungsstörung zu therapieren?

Oder sind sie zu sehr damit beschäftigt, die alltäglichen Behinderungen ihrer emanzipatorischen Bestrebungen zu bekämpfen oder noch schlimmer: sich gegenseitig zu bekämpfen?

Es gibt sehr kluge Bücher von feministischen Autorinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen, die auf solche Fragen schon Antworten gegeben haben. Die Autorin und Journalistin Teresa Bücker hat im Buch »Alle Zeit« (Abre numa nova janela) die Zeitfrage im Kontext struktureller Gewalt schon beeindruckend geklärt. Es ist in gesellschaftlicher Entwicklung ein Anfang solche feministische Literatur zu lesen, um aus Fehlern früherer Generationen und dem was kluge Frauen sagen schlauer zu werden. Es braucht einen kulturellen Wandel und eine Aufwertung von Care-Arbeit, was momentan leider eine Vermännlichung von Carearbeit bedeutet. Denn Lebens- und Arbeitswelten, in denen Männer tätig werden, erfahren eine kapitale Aufwertung. Es ist traurig, dass es so sein muss, aber irgendwie muss man ja anfangen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Es grüßt, Christin

Wenn ihr meinen Newsletter WORTSPIELFELD mögt und unterstützen möchtet, freu ich mich sehr, wenn ihr ein Mitglieds-Paket (Abre numa nova janela) abschließt und mir die Zeit dafür ermöglicht, ihn regelmäßig zu schreiben. Danke.

0 comentários

Gostaria de ser o primeiro a escrever um comentário?
Torne-se membro de WORTSPIELFELD e comece a conversa.
Torne-se membro