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Kinder unerwünscht

Die Zahl der Kinder geht zurück – das macht sie und ihre Eltern zu einer Minderheit. Welche Folge es für Familien hat, am Rand der Gesellschaft zu stehen, erklärt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. 

Die Chefredaktion: In Österreich steht endlich eine Regierung. Du hast als Mitglied des Bundesjugendkuratoriums die deutsche Regierung beraten - hast du Tipps für unsere?

Aladin El-Mafaalani:  Die Interessen von Kindern und Eltern stärker wahrzunehmen und mehr Partizipationsrechte für junge Menschen zu schaffen, zumindest in der Schule. Dadurch, dass die Gesellschaft altert, stehen die Familien unter Druck, auch weil die Familienerwerbsquote (insbesondere die Müttererwerbsquote) steigen muss, damit die Pensionen finanziert werden können. Gleichzeitig steigen die Mieten und die Preise, das setzt Haushalte mit Kindern mehr unter Druck als andere.

Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau ist in Österreich auf das Allzeittief gesunken. Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn weniger Kinder geboren werden?

Wir beobachten den Geburtenrückgang in fast allen europäischen Ländern, man kann ihn zurückführen auf die Krisen und die Unsicherheit unserer Zeit. Seit den 70ern gibt es allerdings schon ein strukturelles Geburtendefizit, es werden also weniger Kinder geboren als Menschen sterben. Diese Entwicklung vollzieht sich somit schon mehr als ein halbes Jahrhundert lang . Wir haben in Deutschland aktuell mehr als doppelt so viele 60-Jährige wie 6-Jährige, und die Alterung setzt sich noch weiter fort. (Anm. der Redaktion: Auch in Österreich wächst nur die Altersgruppe der über 60-Jährigen). Wenn wir mehr Rentner als Kinder haben, die nachkommen, entstehen mehrere Schieflagen: finanziell durch die enormen Kosten für Rente und Pflege bei gleichzeitiger Minimierung der Anzahl derer, die erwerbstätig sind, und demokratisch, weil Rentnerinnen und Rentner die demokratischen Wahlen entscheiden werden.

Was ist das Problem daran?

Die, die die Wahlen entscheiden, sollten die sein, die den Laden auch am Laufen halten. Rentner müssen nicht mit den langfristigen Konsequenzen der Entscheidungen, die sie bei der Wahl treffen, leben – alle anderen jedoch schon. Diese Schieflage gab es in demokratischen Gesellschaften so noch nie. Dass die Interessen anderer mitgedacht werden, ist eine Illusion, das zeigt sich etwa beim Patriachat: Männer haben sich nicht für die Gleichstellung ihrer Mütter, Schwestern und Partnerinnen eingesetzt. Aber wir müssen nicht so weit in die Vergangenheit blicken, denn auch in der Pandemie hat kaum wer die Kinder im Blick gehabt.

In eurem Buch „Kinder - Minderheit ohne Schutz“ bezeichnet ihr Kinder und ihre Eltern als Minderheit. Kürzlich hat sich eine Mutter auf Social Media über „Adults Only“-Hotels“ beschwert. Sie meinte, sowas könnte man bei anderen Minderheiten nicht bringen. Der Aufschrei wäre groß, gäbe es beispielsweise Hotels, die Migrant*innen nicht annehmen. Du hast ja 2021 ein Buch über Rassismus geschrieben, jetzt an einem über Kinder mitgeschrieben: Kann man diesen Vergleich ziehen?

Die angespannte Lage einer Minderheitenposition an sich kann man vergleichen: Man ist sehr eingeschränkt, die eigenen Interessen zu vertreten, sich Gehör zu verschaffen. Familien haben spezifische Bedürfnisse und die werden nicht bedacht. Kinder sind in unserer Gesellschaft vielerorts nicht erwünscht, das ist schon sehr lange so, aber Kinder stören heute mehr, weil sie nicht mehr so selbstverständlich sind. Man wird Kindergeräuschen gegenüber empfindlicher, wenn man ihnen seltener ausgesetzt ist. Die Frage ist aber nicht, ob ein Hotel „Adults Only“ sein kann, sondern, ob es weiterhin Räume für Kinder und Familien gibt. Wenn es für sie irgendwann kaum mehr möglich ist, bezahlbar Urlaub zu machen, dann ist das ein großes Problem. Früher haben Kinder in der Fußgängerzone gespielt, jetzt sollen sie Sonderräume wie Spielplätze nutzen. Dieser Sonderstatus macht deutlich, dass Kinder nicht mehr selbstverständlich sind. Eltern hätten ein leichteres Leben, wenn es selbstverständlich wäre, dass Kinder einfach da sind. Unsere Gesellschaft wird immer effizienter, dadurch fühlen wir uns stärker von Kindern gestört. Deshalb gab es eine Expansion von Sonderumwelten, damit sie nicht stören. Man könnte auch fragen: Warum braucht man Spielplätze? Die dienen doch auch der Erwachsenenwelt, weil Kinder nicht einfach überall spielen sollen. Aber mancherorts auch, weil Kinder nirgendwo sonst spielen können.

Ihr schreibt in eurem Buch: „Kinder sind der letzte Sinn und die einzige Zukunft der Gesellschaft“. Immer öfter hört man aber, es wäre in Zeiten wie diesen unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen, beispielsweise weil die Klimakrise dadurch verstärkt wird.

Eine Gesellschaft kann sich nur aufrechterhalten, wenn junge Menschen da sind. Der letzte Sinn unserer Gesellschaft ist, dass es morgen weitergeht, dafür brauchen wir auch morgen Menschen. Die Geburtenrate sollte jetzt nicht noch weiter abfallen. Aber auch eine deutliche Erhöhung der Geburtenzahl könnten wir uns nicht leisten, es würde unsere Gesellschaft an den Rand eines Kollaps bringen, weil dann mehr Mütter als Arbeitskräfte wegfielen. Das könnte man nur durch viel Migration ausgleichen, aber die ist nicht gewollt, wie wir aktuell sehen.

Kinder und Jugendliche geht es immer schlechter als den Generationen davor, zeigen Studien. Warum?

Kinder sind den Krisen, die wir seit vielen Jahren erleben, stärker ausgesetzt als Erwachsene. Wir sehen, dass Kinder stärker von Kriegsangst betroffen sind. Auch die Schicksale von geflüchteten Menschen haben sie viel stärker erlebt, sie wurden ihre Mitschüler. Alles, was wir an Krisen erleben, plus die eigenen inneren Herausforderungen und Ängste, belasten junge Leute stärker. 

Speziell bei jungen Männern merkt man aktuell, dass etwas nicht stimmt. Attentäter werden immer jünger, Burschen generell reaktionärer. Was ist los mit ihnen?

In fast allen Ländern werden Jungs konservativer, Mädchen progressiver. Wir leben in  unsicheren Zeiten und Jungs kommen mit den schwierigen Verhältnissen schlechter zurecht und sind anfälliger für Populismus und Radikalisierung. Für sie scheint es schwieriger zu sein, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Wir versuchen deshalb mit unseren journalistischen Inhalten gezielt junge Männer zu erreichen, aber das ist gar nicht so einfach. Allgemein scheint es Politik, Medien und anderen Akteuren schwer zu fallen, diese Zielgruppe anzusprechen.

Junge Menschen sind schwer über pädagogische Impulse zu erreichen. Man muss sich stärker mit Kindern beschäftigen, Jugendliche waren ja vorher Kinder, und in Kindesalter erreicht man sie leichter. Wir verlieren sie im Jugendalter, deshalb muss man früher ansetzen. Das, was bei Kindern versäumt wurde, spiegelt sich in Jugendlichen wider.

Welche Rolle spielen dabei Bildungsinstitutionen?

Kinder werden in Zukunft noch mehr Zeit in den Bildungsinstitutionen verbringen, weil ihre Eltern als Arbeitskräfte gebraucht werden - dort muss sich die Situation verbessern. Bildungsinstitutionen müssen sich stärker dafür interessieren, wie es den jungen Menschen geht, ob sie ein Zugehörigkeitsgefühl empfinden. Sie müssen Dinge erfragen. In der UWE-Studie gibt es eine entscheidende Frage: „Gibt es an deiner Schule einen Erwachsenen, dem du wirklich wichtig bist?“ Diese Frage sollte allen Kindern gestellt werden. Schulen müssen dafür sorgen, dass die Kinder nicht das Gefühl haben, dass es egal ist, ob sie da sind oder nicht. Ein Erwachsener, das wäre das mindeste, aber sehr viele Kinder können keinen Erwachsenen nennen. Pädagog*innen sollten auch wissen, ob die Kinder untereinander vernetzt sind. Es ist die Verantwortung der Pädagog*innen, dass kein Kind den Anschluss zu Gleichaltrigen verliert. Kinder und Jugendliche wurden gesellschaftlich an den Rand gedrängt, sie flüchten in den digitalen Raum, nur deshalb merken wir noch nicht so stark, wie wenig kindergerecht unsere Gesellschaft geworden ist.

Im Bereich Bildung hat die österreichische Regierung ein Handyverbot in Schulen beschlossen. Immer wieder wird auch ein generelles Social Media Verbot für Teenager diskutiert – wäre das sinnvoll?

Schnell zu Verboten zu greifen, ist für mich ein Hinweis, dass man gar nicht wahrgenommen hat, dass es kaum noch Möglichkeiten für Jugendliche gibt, etwas im analogen Leben zu unternehmen. Menschen rufen mittlerweile die Polizei, wenn sich Jugendliche draußen treffen. Wir sollten über die schrumpfenden Entfaltungsmöglichkeiten für Jugendliche in der analogen Welt sprechen, bevor wir über Verbote reden. Früher gab es viel mehr kostenlose Angebote, heute sind sie immer mit Konsum verbunden oder werden von Erwachsenen betreut. Das hat wenig damit zu tun, was Kinder und Jugendliche tatsächlich wollen, sondern ist eher aus der Perspektive der Erwachsenen gedacht.

In eurem Buch habt ihr auch eine Lösung, wie Pensionisten die Situation an den Bildungseinrichtungen entlasten könnten.

Das Bild von Rentnern muss sich ändern, was ihre Rolle in der Gesellschaft betrifft. Sie sind so fit wie vor ihnen keine Generation. Besonders die in den 1960ern Geborenen sollten sich aktiv als Mentoren in Kindergärten und Schulen engagieren, um Bildungsinstitutionen und Familien zu entlasten. Uns fehlen ja Fachkräfte. Gleichzeitig tun sie etwas Sinnstiftendes und verdienen sich zur Rente noch etwas dazu.

Aladin El-Mafaalani ist Autor, Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund (Abre numa nova janela). Im Januar 2025 erschien sein neuestes Buch "Kinder - Minderheit ohne Schutz (Abre numa nova janela)".

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