#12 Biologie der Entspannung
Konzentration und Ideenreichtum – diese zwei kreativen Muskeln haben wir in den vergangenen Wochen trainiert. Wie Athlet:innen, die Kraft und Ausdauer entwickeln, haben wir gelernt, unseren geistigen Fokus zu schärfen und den Fluss unserer Gedanken zu erweitern.
Und wenn das nicht genügt? Was können wir noch tun?
Die Antwort ist: Nichts tun!

Wir Kreativen wollen aktiv sein. Doch die Wissenschaft zeigt: Durchbrüche in kreativen Prozessen entstehen oft in ruhigen, meditativen Phasen. Wenn du dich entspannst – beim Spazierengehen, Duschen oder eben während einer Meditation – schaltet dein Gehirn in den „Default Mode“: einen Zustand, in dem das Gehirn ohne bewusste Steuerung frei Assoziationen bildet. Hier verbinden sich vorher unverbundene Ideen.
Das bedeutet: Je mehr wir uns in der Emergence-Phase erlauben, nicht aktiv an einem Problem zu „arbeiten“, sondern es ruhen zu lassen, desto größer ist die Chance, dass im Hintergrund (in unserem Unterbewusstsein) neue Lösungen entstehen.
Das sagen auch viele Sportler:innen: Die eigentliche Kraft wächst zwischen den Trainingseinheiten.
Deshalb: Wenn du bei einem kreativen Problem feststeckst, zwing dich nicht, es zu erzwingen. Mach eine Pause, geh spazieren oder meditiere. Und halte ein Notizbuch bereit für plötzliche Ideen.
Still zu sitzen, ohne zu versuchen, dass etwas Besonderes passiert, ist das Wichtigste für die Verwandlung unseres Bewusstseins.
Alan Watts
Die CREATIV-Theorie: Emergence - Wenn Neues im Nichtstun entsteht
In der CREATIV-Formel steht das 'E' für Emergence – die Entstehung von etwas Neuem. Aber warum ist Entspannung so wichtig? Die Antwort liegt in der Biologie unseres Gehirns – dem Herzstück unserer kreativen Fähigkeiten.
Wenn wir uns entspannen und scheinbar "nichts tun", schaltet unser Gehirn in einen besonderen Modus: Das Default Mode Network (DMN) wird aktiv. Dabei spielen vorwiegend der mediale präfrontale Cortex, der posteriore cinguläre Cortex und der Hippocampus zusammen – Gehirnregionen für Selbstreflexion, Erinnerungen und Informationsverknüpfung.
Dieser Zustand ist wie ein kreativer Spielplatz unseres Unterbewusstseins. Während das bewusste Denken pausiert, stellt unser Gehirn zufällige Verbindungen zwischen gespeicherten Informationen her.
Emergence bedeutet in diesem Kontext, dass aus der freien Assoziation unseres ruhenden Gehirns neue Ideen "auftauchen" – wie Blasen, die vom Grund eines stillen Sees aufsteigen. Diese emergenten Gedanken sind oft überraschend und innovativ, weil sie neue Verbindungen herstellen, die unser analytischer Verstand übersehen würde.
Der Prozess ist nicht steuerbar – je mehr wir versuchen, ihn zu kontrollieren, desto weniger funktioniert er. Das erklärt, warum die besten Ideen oft unter der Dusche oder beim Spazierengehen kommen.
Um den Kontrollmodus loszuwerden, braucht es drei Elemente:
Regelmäßige Übung und feste Rituale: Ob Meditation, Spaziergang oder Tagträumen – durch Wiederholung wird das Loslassen leichter.
Vertrauen in den Prozess: Je öfter wir erleben, dass aus der Entspannung neue Ideen entstehen, desto mehr können wir uns darauf verlassen.
Geduld und Zeit: Das Gehirn benötigt diese Ruhephasen, um sein kreatives Potenzial zu entfalten.
Für uns Kreative bedeutet das: Entspannung ist nicht Faulheit, sondern ein essenzieller Teil des Schöpfungsprozesses. Wenn wir bewusst Räume der Ruhe schaffen, ermöglichen wir unserem Gehirn, sein volles kreatives Potenzial zu entfalten.
Kreatives Training der Woche: Automatisches Schreiben
Also: Die besten Einfälle kommen oft dann, wenn wir den Kontrollmodus loslassen. Es ist aber gar nicht einfach, sich in einen “unkontrollierten” Modus z versetzen. Unser Geist will etwas tun. Vor allem, wenn eine gute Idee fehlt.
Eine wunderbare Methode, um genau diesen muskulösen Griff des Verstandes zu lockern, ist das automatische Schreiben – eine Brücke zwischen deinem bewussten und unterbewussten Geist.
So funktioniert Automatisches Schreiben / Freewriting:
Leg ein Stück Papier, ein hübsches Schulheft oder ein Notizbuch auf den Tisch und nimm einen Stift. Ja: kein Bildschirm, keine Tastatur!
Stelle am Anfang einen Wecker auf fünf Minuten. Nach einigen Tagen erhöhe auf 10 Minuten. Später kannst du länger schreiben. Momentan bleibe in diesem Zeitrahmen.
Schreib schnell! Bring in kurzer Zeit viele Wörter aufs Papier. Schreib, was dir durch den Kopf geht. Wenn du dich fragst, was zu schreiben, schreib das. Denk nicht über Komma-Regeln oder unfertige Sätze nach. Schreib! Los!
Wenn die Zeit um ist, bist du fertig. Lass den Stift fallen und hör auf zu schreiben. Mach einen Spaziergang, iss etwas oder rauche eine Zigarette. Hauptsache, du hörst auf zu schreiben. Es ist hilfreich, nicht sofort wieder in den „produktiven" Tag einzusteigen. Aber, wenn es nicht anders geht, kannst du auch tun.
Die Übung umgeht den inneren Kritiker und öffnet deine Kreativität. In diesen Momenten des unkontrollierten Schreibens aktivierst du jenes Default Mode Network, von dem wir gesprochen haben – der Zustand, in dem Emergence geschehen kann.
Probiere es diese Woche täglich aus und beobachte, wie sich deine Schreibflüssigkeit und Ideen verbessern. Diese Methode ist wie ein Fitnesstraining für deine kreative Emergence-Fähigkeit!
Wenn du mehr lesen willst, findest du viel Text auf dem Contentman (Abre numa nova janela). Aber schreibe lieber einfach los, die Theorie ist eintönig.
KI-Inspiration: Vom Unterbewusstsein zur digitalen ICH-Landkarte
Nach jeder Session des automatischen Schreibens liegen vor dir Seiten voller handgeschriebener Gedankenströme. Diese Gedankenströme sind chaotisch, ungeordnet, aber manchmal auch voller Potenzial. Dieser Schatz bleibt oft ungehoben, weil die Weiterentwicklung zu mühsam erscheint. Hier kommt KI als kreative Partnerin ins Spiel.
Fotografiere deine handgeschriebenen Seiten mit dem Smartphone. Mit einem KI-Modell wandelst du deine Handschrift in digitalen Text um - selbst wenn deine Notizen kaum lesbar sind.
Ich habe das mit meiner schlechten Handschrift in ChatGPT, Gemini und Claude. Alle konnten das Geschmiere lesen. Auch meine Speicher-App Evernote hat einen souveränen Job gemacht. Hier, meine Schrift. Könntest du das lesen?

Nun kommt der magische Teil: Du kannst die KI bitten, in deinem Gedankenstrom nach Mustern, wiederkehrenden Themen oder interessanten Gedanken zu suchen.
"Welche drei Konzepte in meinem Text haben das größte kreative Potenzial?"
Oder:
"Kannst du die Metapher im Absatz zwei weiterentwickeln?"
Was hier passiert, ist eine perfekte Symbiose: Dein Unterbewusstsein produziert im entspannten Zustand rohe, unzensierte Ideen. Die KI hilft dir, diese Rohdiamanten zu finden und zu schleifen, ohne dass dein innerer Kritiker zu früh eingreift.
Diese Methode wird besonders wertvoll, wenn du über mehrere Tage automatisch schreibst. Gibst du der KI danach alle Texte, kann sie Verbindungen zwischen wiederkehrenden Themen herstellen, die dir vielleicht entgangen wären. Sie wird zum Kartografen deiner Gedankenwelt.
Die Kombination aus analogem Schreiben (Zugang zum Unterbewusstsein) und digitaler KI-Unterstützung (Strukturierung und Weiterentwicklung) vereint das Beste aus beiden Welten: die Tiefe des intuitiven Denkens mit der analytischen Kraft der KI.
creativGPT: dein persönlicher “Gedankenkartograf”
Ein Custom GPT ist ein von dir selbst angepasstes KI-Modell, das genau nach deinen Vorgaben arbeitet – wie ein maßgeschneiderter digitaler Assistent für deine speziellen Bedürfnisse. Und dein eigenes KI-Modell, das du im Laufe der Zeit entwickeln wirst.
Wenn du an deinem Custom GPT arbeitest, wirst du deine digitalen Aufschrieben dort einfügen.
Du zögerst? Zu Recht!
Das Hochladen deiner “automatischen Gedanken” an ein US-LLM ist eine Herausforderung für deinen Datenschutz-Nerv. Das ist verständlich. Entferne vorher alle persönlichen Informationen, also Namen und Ortsangaben.
Nur dann sind diese Informationen – und das Ergebnis deiner Nachfragen – gutes Futter für dein creativGPT.
Du kannst ein KI-Modell deiner Wahl bitten, deine Denkweise in einen Prompt zu fassen. Die Anweisung könnte so lauten:
“Du hast hier viele meiner Gedankengänge. Wie würdest du meine Art zu denken beschreiben? Formuliere es so, dass ich das in einem Prompt in einem Custom GPT verwenden kann. Gehe dabei auf alle wesentlichen Aspekte ein.”
Die Antwort könnte schon genügen, sodass du das Kontext-Fenster nicht zu groß gestaltest. Das war ein Thema letzte Woche. Und das wurde auch von Google-Forschern bestätigt: https://the-decoder.de/deepmind-forscher-ki-kontexte-gezielt-und-nicht-maximal-lang-sein/ (Abre numa nova janela)
Was nun?
Ab heute weißt du: Wenn dein Tag voller Herausforderungen und spannender Erkenntnisse ist, zwinge dich, Pause zu machen. Nichts macht dich produktiver als eine Runde im Default-Mode Network.
Ich wünsche dir kreative Entspannung.
Paul Jonas