Guten Appetit
Was der CEO-Mord über Memes und Machtstrukturen aussagt — und wieso das Thema 2025 nicht gegessen ist 👩🍳

Hat er nicht gesagt!
Eat the Rich. Die Reichen essen. Das klingt so schön plakativ und provokativ. Das perfekte Bild für eine von tatsächlichen oder metaphorischen Hungersnöten gebeutelte Bevölkerung, in der Wenige viel haben.
Angeblich stammt das Zitat von Jean-Jacques Rousseau, der es im Kontext der Französischen Revolution gesagt haben soll. Er starb 1778, der Sturm auf die Bastille, die Geburtsstunde der Revolution, fand elf Jahre später, 1789, statt.
Gut, so eine Revolution ergibt sich nicht spontan. Das französische Volk litt seit Jahren unter der Dekadenz seiner Herrscher, die das Land zugrunde wirtschafteten. Es folgten Guillotinen, die Abschaffung des Absolutismus, eine Terrorherrschaft und später Napoleon (der sich dann doch nochmal zum Kaiser krönte, soviel dazu).
Als im Oktober 1789 noch der Duft von Freiheit in der Luft hing, hielt der Generalstaatsanwalt Pierre Gaspard Chaumette seine “Rede gegen die Kaufleute”, in der er Rousseau das berühmte Zitat in den Mund legte (Abre numa nova janela).
« Rousseau était peuple aussi, et il disait: Quand le peuple n'aura plus rien à manger, il mangera le riche.»
“Rousseau, selbst ein Mann des Volkes, sagte: Wenn das Volk nichts mehr zu essen hat, wird es die Reichen essen.”
Heute (wie damals) ist der Ausdruck selten wörtlich gemeint. Er macht auf die ungleiche Verteilung von Reichtum und damit einhergehende Privilegien auf der einen und sozioökonomische Probleme auf der anderen Seite aufmerksam. Wer reich ist, hat erstmal weniger Existenzängste und wer arm ist, hat weniger Möglichkeiten teilzuhaben — alles kostet Geld. Der Ausdruck fordert das Ende einer Zeit, in der wenige Menschen so unfassbar viel Geld haben, das sie niemals in ihrem Leben ausgeben könnten, selbst wenn sie wollten.
Hier ist nicht die Rede von Menschen, die sich in den 80ern ein Eigenheim leisten konnten. Oder Menschen, die 5000 Euro brutto verdienen. Oder dir — du bist höchstwahrscheinlich nicht mitgemeint.
Wenn ich “Eat the Rich” sage, meine ich “Milliardäre abschaffen”. Dazu einige kurze Einordnungen:
Eine Milliarde sind tausend Millionen. Das sind neun Nullen und sieht so aus: 1.000.000.000.
Eine Million Sekunden sind 11 Tage. Eine Milliarde Sekunden hingegen 31,7 Jahre (Abre numa nova janela).
Als die Sonde “Mars Express” Bilder von der Erde machte, war der rote Planet nur etwa 290 Millionen Kilometer (Abre numa nova janela) von uns entfernt. Um einen Abstand von einer Milliarde Kilometer zu erreichen, muss man 1-2 Planeten (Abre numa nova janela) weiter reisen.
Selbst wenn eine Banane 10 Euro (Abre numa nova janela) kosten würde und ein Milliardär jeden Tag eine Banane bräuchte, hätte er genug Geld, um 273.973 Jahre Bananen zu essen.
Wir sprechen hier nur von einer Milliarde. Die fünf reichsten Menschen der Welt haben zusammen 940 Milliarden US-Dollar (Abre numa nova janela).
Warum?
(Und wieso sind sie alle weiß und männlich, das ist eine rhetorische Frage).
Die Unterschiede zwischen sehr reichen und anderen Menschen (uns) können auf ganz unterschiedliche Weise sichtbar werden. Zum Beispiel anhand des gesunden Menschenverstands.
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Für Bonus-Mitglieder gab es dieses Jahr schon reichlich Content!
Meine 2024 reads: alles, was ich 2024 gelesen habe.
Ein Behind the Scenes zu Life is Strange anlässlich seines 10-jährigen Jubiläums.
Später dieses Jahr hat ein weiteres Spiel 10-jähriges Jubiläum, zu dem ich mal ein Behind the Scenes schrieb. Den Text überarbeite ich gerade, er erscheint zum Geburtstag des Spiel für Bonus-Mitglieder.
(Wer mir bis dahin über die Plattform seiner/ihrer Wahl das Spiel nennt, bekommt in dem Monat eine Gratis-Mitgliedschaft und liest den Text for free).
Außerdem habe ich endlich Sticky Business durchgespielt und ein neues Projekt drüben auf der Videoplattform gestartet.
https://www.youtube.com/watch?v=LxWixlS1JOk&ab_channel=Christina (Abre numa nova janela)Wir erinnern uns zurück: Am 18. Juni 2023 verschwindet das Tiefsee-Tauchboot “Titan” mit fünf Personen an Bord. Darunter der Geschäftsführer des Unternehmens OceanGate, das diesen Tauchgang zum Wrack der 1912 gesunkenen Titanic für 250.000 US-Dollar anbot. Das Boot implodierte. Erst im Oktober 2023 wurden Trümmer und menschliche Überreste gefunden.
Eine Tragödie, die umfassend memisiert wurde.

Diese Memes machen sich nicht über den Tod der Personen lustig. Sie heben die Absurdität hervor: Eine Viertel Million, um in eine mit einem Gaming-Controller gesteuerte Dose zu steigen, um sich ein Wrack anzusehen.
Auch abgesehen von ökonomischen Fragen, erscheint diese Entscheidung absurd .
Für dieses abhanden gekommene Gefühl zur Realität gibt es auch zahlreiche Beispiele von Promis. Gwyneth Paltrow “lost half a day of skiing” (Abre numa nova janela) und Kim Kardashian verlor ihren Diamantohrring “in the fucking ocean” (Abre numa nova janela).

“Oh my god, what is that?!”
Das kann ich nicht nachvollziehen. Es ist zu weit entfernt von meiner Lebensrealität. Diese Nicht-Erfahrung verbindet allerdings Meme-Ersteller:innen und Meme-Rezipient:innen, die hier eine zu große Diskrepanz zwischen der (Eigen-)Wahrnehmung von Promis und ihrem Verständnis gesellschaftlicher Strukturen erkennen. Oder um es mit den Worten von Kourtney Kardashian zu sagen: “Kim, there’s people that are dying.”
Probleme anderer als lächerlich darzustellen, grenzt schnell an Whataboutism (ein Problem gegen ein anderes Problem zu rechnen und das eine als wichtig, das andere als egal anzusehen). Das machen wir hier nicht. Aber wir machen auf Unverhältnismäßigkeit aufmerksam und die Absurdität, dass sich das, was man als wichtig und richtig empfindet, in Relation zum eigenen Vermögen schnell ändern kann.
Das Internet liebt einen Mörder

Am 4. Dezember 2024 wurde Brian Thompson, CEO von United Healthcare, auf der Straße erschossen. UHC ist die größte Krankenversicherung der USA und berüchtigt dafür Kostenübernahmen für lebensnotwendige Behandlungen zu verweigern.
Anstatt den Täter zu verurteilen, hat das Internet ihn gefeiert. So heißt es zumindest, aber “das Internet” ist eine heterogene Masse aus Meinungen und Memes, die ich hier nur für eine knackige Überschrift über einen Kamm schere.
Einer gefühlt breiten Masse jedenfalls geht es bei der Memifizierung des Mords nicht um Selbstjustiz, sondern das Aufdecken von Missständen. Endlich darauf aufmerksam zu machen, dass das Gesundheitssystem in den USA tödlich sein kann. Ein System zu entlarven, das gar nicht kaputt ist, sondern astrein den Status Quo erhält, der Menschenleben fordert, um den astronomischen Wohlstand anderer zu erhalten.
Gleichzeitig werden Parallelen zum Titan Tauchboot gezogen — die Milliardäre hätten es kommen sehen soll, sie seien selbst Schuld.
Erschwerend kam hinzu, dass der vermeintliche Täter wenige Tage später gefasst wurde und cute ist. Er wurde zur Mediensensation und ich habe seit Wochen einen Ohrwurm von dem Britney Spears Song (Abre numa nova janela) — 🎶 Mama, I’m in love with a criminal. 🎶

Das ist überhaupt nicht verwunderlich! Wir sind fasziniert von normschönen Menschen, deren Handlungen in einer moralischen Grau-bis-Schwarzzone liegen. Stichwort Dark Romance (Abre numa nova janela) oder Colin Farrell in den 2000ern.
Doch es gibt auch reale Beispiele: Auf Instagram gibt es zahlreiche Kanäle, die “mugshot hotties” oder “mugshawties” heißen. Letztes Jahr wurde Wade Wilson wegen Mordes an zwei Frauen zur Todesstrafe verurteilt. Kommentare unter Posts von Nachrichtenmagazinen hoben stattdessen seine “hotness” hervor.
(Ich konnte mich nicht an den Namen erinnern und diesen bestimmten Fall zu finden, ist gar nicht so leicht. Ihr glaubt nicht, wie viele Männer letztes Jahr Frauen umgebracht haben).
Die CEO-Mord-Memes sind nur die aktuellsten in einer langen Reihe gesellschaftskritischer Auseinandersetzungen. Ja, Memes sind lustig und manche davon brain rot (Abre numa nova janela). Aber sie können eben auch politisch sein. Eine niedrigschwellige und kreative Möglichkeit, sich mit Ereignissen auseinanderzusetzen.
“There’s people that are dying”
Irgendwann hat sich ein Neandertaler vor eine Höhle gestellt und Eintritt verlangt (oder so ähnlich) und deshalb müssen wir heute für Grundbedürfnisse wie Nahrung und Obdach Geld zahlen.
Das lässt sich erstmal nicht ändern. Was sich aber ändern ließe, ist die irrsinnige Verteilung von enormem Wohlstand, der immer auf der Ausbeutung anderer beruht. (Dazu empfehle ich diesen Artikel über den reichsten Mann Deutschlands, der z.B. in Hamburg Geld auf Kulturprojekte wirft. (Abre numa nova janela)) Nichts anderes meint “Eat the Rich”. Reiche vernichten, aber nicht die Menschen, sondern die Möglichkeit solch überproportionalen Reichtum anhäufen zu können.
Wohlstand für alle. Faire Bezahlung für alle. Faire Lebensbedingungen für alle. Gleichberechtigung. Vor dem Gesetz, auf der Straße, bei der Arbeit, Zuhause.
Geh wählen!
Wenn auch du etwas ändern möchtest, geh wählen. Am 23. Februar ist Bundestagswahl. Wenn du Hamburger:in bist, geht’s am Sonntag drauf direkt nochmal zur Wahlurne.
Wahlprogramme zu lesen ist anstrengend, deshalb hier ein Highlight. Oder Lowlight, wie man’s nimmt.
Wem helfen die Steuerpläne am meisten? (Abre numa nova janela) Was genau die Parteien planen, wird außerdem hier zusammengefasst (Abre numa nova janela).

Nach Themen oder Parteien könnt ihr außerdem an folgenden Stellen filtern:
Programmvergleich der Tagesschau (Abre numa nova janela)
oder der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung (Abre numa nova janela)
An Stelle des Wahl-O-Mat probiert’s mal hiermit: Der Real-O-Mat (Abre numa nova janela) vergleicht eure Angaben mit tatsächlichen Abstimmungsergebnissen der aktuellen Regierung.
Meme der Woche

Ein herrliches Beispiel für Meme-Genese: Rekontextualisierung und Überraschung.
Danke
Danke, wenn du am 23. gegen rechts wählst. Und natürlich für dein Abo, das dir diesen Newsie ins Postfach geschickt hat <3
Das war nicht die leichteste Ausgabe zu recherchieren und schreiben. Nächsten Monat wieder was entspanntes, ok?!
Bis dahin folgt oder schreibt mir hier:
Auf Wiedersehen!
Christina