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Zum 100. Geburtstag von Jean-François Lyotard - und den Auseinandersetzungen mit Jürgen Habermas

"Ich habe bekanntlich selbst den Terminus postmodern verwendet. Das war eine etwas provokative Art und Weise, die Debatte über die Erkenntnis ins volle Licht zu rücken. Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihre Anmassung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist, wie gesagt, schon seit langem in der Moderne selbst am Werk." Jean-François Lyotard (Abre numa nova janela)

 Hans-Joachim Lenger war zunächst mein Doktorvater, bevor er plötzlich verstarb. Nach einem kurzen Gespräch in der Mensa der Hochschule für Bildende Künste Hamburgs akzeptierte er mich und mein Dissertations-Projekt, am Leitfaden der System-/Lebenswelt-Differenz in der "Theorie des Kommunikativen Handelns" von Jürgen Habermas die Produktion von Musikdokumentationen analysieren zu wollen. Um damit zugleich ein Instrumentarium zu entwickeln, eigene Erfahrungen in eben diesem Feld in verschiedensten Funktionen, als Redakteur, Autor, Executive Producer und Produzent zu reflektieren und wohl auch zu rechtfertigen. Eine Freundin, frisch an der HfbK eingeschrieben, berichtete mir, dass dort nunmehr auch in "künstlerischer Forschung" promoviert werden könne. Nachdem ich bereits viel zu Dokumentarfilm in medienwissenschaftlicher Forschung gelesen, erschien mir die Methodik sehr steif. Ich fand Ansätzen, die nur die Rezeption berücksichtigen oder Inhaltsanalysen betreiben, ohne die Produktionsbedingungen zu kennen, als teilweise unsinnig. Ich erhoffte mir im Rahmen einer Kunsthochschule Freiraum, das Ganze profunder angehen zu können.

 Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, als wir rauchend, obwohl man das da nicht durfte, in dieser Mensa saßen, dass Hans-Joachim Lenger sich zu Zeiten der "Postmoderne-Debatte" in den 90er Jahren ganz auf die Seite von Lyotard, Derrida und Deleuze geschlagen hatte, Habermas eher wütend in Texten bekämpfte. Erst später spürte ich, dass Habermas, Manfred Frank und andere, die mit viel institutioneller Macht gesegnet harsch auf "die Postmodernen" als Vernunftkritiker eindroschen, ihm und vielen aus dieser Generation tiefe Wunden geschlagen hatten.

 Da pochte immer noch eine schlecht verheilte Narbe, die mitten in Seminaren aufbrechen konnte und in geradezu Wutausbrüche gegen manche Thesen von Habermas zu "den Postmodernen" in "Der philosophische Diskurs der Moderne" mündete. Eine der Anekdoten, die er am häufigsten erzählte, begab sich aber zu der Zeit, da Habermas im "Audimax" der Universität Hamburg einen vielbesuchten Vortrag hielt. Es muss der wirkungsmächtige zu "Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft" gewesen sein, 1987. Lenger und andere Mitarbeiter der von ihm geleiteten HfbK-Zeitung "Spuren" seien nach dem Vortrag zu Habermas geeilt. Um ihm mitzuteilen: auch Lyotard sei gerade in Hamburg bei einem Symposion am Lerchenfeld! Das sei doch die Gelegenheit, dass die beiden philosophischen Kontrahenten direkt miteinander in die Diskussion einträten! Ganz Europa warte darauf! Habermas jedoch habe entgegnet, er ginge jetzt lieber zu einer SPD-Veranstaltung ...

 Ja, Hörensagen. Und doch: Das ähnelt schon Habermas' Auseinandersetzung mit den "Postmodernen" auch in seinen Schriften. Kaum eine Interviewpartner*in im Falle meiner ARTE-Dokumentation "Habermas - Philosoph und Europäer", die sich nicht im Nachhinein darüber wunderte, zu was für einer Schärfe sich "die Deutschen" damals gegen "die Franzosen" legitimiert sahen. Ob Gerard Raulet, Isabelle Aubert oder Katia Genel, alle zeigten sich im Nachhinein irritiert, dass so ein großer Philosoph sich als so schlechter Leser gezeigt habe.

Die Fronstellung war in etwa jene: durch eine Ästhetisierung der Philosophie der Moderne im Gefolge Nietzsches hätten sich "die Postmodernen" dem Erheben von Geltungsansprüchen auf normative Richtigkeit, propositionale Wahrheit und expressive Wahrhaftigkeit entzogen und seien so in eine Form beinahe schon Bennscher, doch philosophischer "l'art pour l'art" entrückt, die alle emanzipatorischen Ansprüche der Moderne, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, einem beliebigen Spiel der Zeichen opferten. Das münde in einen Konservatismus der Affirmation, der zwischen Literatur und Philosophie nicht mehr unterscheiden könne, Willkürspielräumen und Relativismus die Türen öffne. Schwundstufen dieses damals sich immerhin noch auf einem recht hohen Niveau bewegenden Streits finden sich heute als Trivialversion in Susan Neimans "Links ist nicht woke".

 Auch Lyotard reagierte empfindlich, wetterte gegen "Professor Habermas", der ihn des Konservatismus bezichtigt habe. Als Studenten neigten wir sowieso den uns rebellisch erscheinenden Franzosen zu, erlebten Habermas als illegitim autoritär. Wie kann man nur Konsens gegen ein Denken des Widerstreits und der Differenz ins Feld führen?

 Mittlerweile lese ich Habermas anders, und trotzdem: dass das Ganze doch etwas von einem deutsch-französischen Konflikt hatte, das habe ich später in unzähligen Meetings mit der französischen Seite von ARTE wirklich begriffen und gefühlt. Oft haben wir in Runden mit ARTE France und den Pariser Produzenten von TRACKS zusammengesessen, und immer wieder entstand die Situation, dass diese zupackende - also auch identifizierende - Direktheit der deutschen Seite, Sachverhalte und Regeln für gemeinsames Produzieren zu begründen, als übergriffig und geradezu brutal empfunden wurde, als Zerstörung eines Spiels rund um Musik und Bilder und auch die durchaus lustvolle Selbstinszenierung der Produzierenden. Es gibt mittlerweile Studien dazu, dass auf französischer Seite eher auf Originalität, auf deutscher Seite auf Sicherheit geachtet würde. Bei zu eindeutigen, einengenden Vorschlägen reagierten sie oft, als wolle nun die Bundeswehr gleich wieder über den Rhein in Paris einmarschieren. Ich lernte, auch das, was ich in Einigungsbereitschaft, also konsensorientiert ins Feld führte, zunehmend anders zu formulieren. Weil ich spürte, dass das als grobschlächtig, aggressiv und auch unästhetische Kommunikation rezipiert wurde. Auf der anderen Seite war die "Ligne Editorial", die als Rahmen der binationalen Produktion eines Popkulturmagazins eine halbwegs einheitliche Gestaltung gewährleisten sollte, immer auch ein Mittel, Spielräume zu schaffen, die Macht der französischen Seite zu stärken. Um sich nicht durch teutonische Regelwerke unfrei fühlen zu müssen.

 In dieser anedoktischen und subjektiven Rückschau steckt, glaube ich, vieles, was damals die Debatte prägte. Habermas' Philosophie ist in Gänze eine Absicherung gegen den Rückfall in den Nationalsozialismus, setzt tatsächlich auf Sicherheit. Er öffnet sich dabei sehr weit angloamerikanischen Strömungen, durchaus und ich glaube auch intendiert, der Reeducation verpflichtet und für die Befreiung dankbar. Wie viele Deutsche in der Politik übersieht er dabei jedoch die teutonische Dominanz in der EU und auch das, was an westlichem Denken aggressiv einebnen und unterwerfen kann.

 Lyotard stammte aus anderen Zusammenhängen. Als Teil der französischen Linken in Gruppen wie "Sozialismus oder Barbarei" geprägt agierte er, so habe ich ihn zumindest gelesen, als Kritiker einer von der Kommunistischen Partei Frankreichs geprägten Diskussion. Ein Äquivalent gab es in Deutschland ja wenn, dann nur in der DDR. Er agierte dezidiert antistalinistisch und somit antitotalitär. In "Das postmoderne Wissen" formulierte er eine Kritik der "großen Erzählungen" von DER Geschichte und DER Emanzipation und DEM Fortschritt auch durch Technik und Wissenschaft, alles Motive, die eben auch in dem, was Robert Kurz den "exoterischen Arbeiterbewegungsmarxismus" nannte, auftauchen.  Die den "historisch-dialektischen Materialismus", der behauptete, notwendig auf eine erlösende Utopie zuzulaufen und doch den Gulag und totalitäre Institutionen hervorgebracht hatte, prägte. Noch bei Sartre findet sich diese Berufung auf "DIE Geschichte" als Richter, als er seinen Existentialismus auf eine "innermarxistische Enklave" reduzierte. Der Impuls gegen diese Variante des Marxismus einte meines Erachtens auch Lyotard, Foucault und Derrida, obgleich sie ansonsten komplett differente Ansätze vertraten. Solche, die wohl vor allem in Deutschland und den USA unter dem Label "die Postmodernen" oder auch "French Theory" zusammengefasst wurden, in Frankreich jedoch meines Wissens nicht einem Atemzug genannt würden.

 Die großen Legitimationserzählungen schlügen um Gleichmacherei und Unterdrückung, dienten dazu, auch Grausames und Menschenverachtendes zu rechtfertigen. Ja, in der Tat ist das eine These, die auch immer wieder von Konservativen vorgebracht wird. Habermas folgte da keiner völlig falschen Intuition.

 In der konkreten Ausführung jedoch landete Lyotard auf Terrains des Denkens, die sich analog zu Adorno dem Besonderen statt dem Allgemeinen zuwandten, Widersprüche nicht aufheben wollten und jegliches Totalisieren geißelten. In denen Spielräume und Sprachspiele, hier folgte Lyotard dem späten Wittgenstein, die alle Nivellierungen unterlaufen und gesprengt werden könnten. Denken und handeln, das im Moment, im Unterbrechen von automatisierten Reihen, in Intensitäten, die Kunst sich hingeben und so alles identifizierende Denken auflösen. Die Analogien zu Adorno lese ich nicht hinein, es gibt explizite Bezugnahmen. In "kleinen Erzählungen" das falsche Ganze subversiv unterlaufen zu können und vielleicht punktuell auch Brüche und Diskontinuitäten als Keim des Besseren pflanzen. Lyotard schwärmte von einem "Patchwork der Minderheiten", Subkultur, dem Ausbrechen aus spießigen Mainstream-Welten; radikaler Pluralität, die ganz wie oben skizziert im ARTE-Kontext insofern eine spielerische Note hat, dass Regelbegründungen auch einengen und unterwerfen können und die somit unter Zurhilfenahme ästhetischer Mittel umspült werden sollten. Man kann mit Lyotard keine europäische Verfassung begründen. Das ist aber auch gar nicht sein Thema. Sein Denken korrigiert da, wo diese Verfassung, mit administrativer Macht verbunden, zum Missbrauch und zu Unterwerfung einladen könnte.  

Der Witz ist, dass, wie schon im Eingangszeit von Lyotard deutlich wird, das gar nicht völlig quer zu Habermas steht. Nichts von dem würde der zurückweisen. Er würde jedoch anmahnen, dass die Möglichkeiten zu diesem freien Spiel durch einen normativen Rahmen gewährt werden müssten. Damit nicht Neonazis kommen und die CSD-Party in Bautzen verhindern. Diese wiederum ist da, wo es nicht lediglich um das Anmahnen gleicher Rechte geht, sondern um das Zurückweisen heteronormativer und cisgeschlechtlicher Regime, ein durchaus Lyotardsches Unterfangen. Sich den Definitionszwängen entziehen, um im Widerstreit auch Freiheit zu finden, ich denke, das ist sein Ansatz. Habermas würde anführen, dass verständigungsorientierte Vernunft aber schon noch das Medium sei, das fordern zu können. Ich stimme ihm zu, käme aber nicht auf die Idee, die philosophische Arbeit  von Lyotard deshalb im Archiv liegen zu lassen.

 Tatsächlich ist das ein Redigieren der Moderne, Lyotards Projekt, das totalitäre Gefahren feinfühliger erkennt als Habermas. Ein Unterfangen, das selbst , und das ist die entscheidende Pointe, nie an der Tradition, dem Ursprung, dem Authentischen oder dem Natürlichen sich orientiert, sondern die Freiheit losgelöst davon, somit außerhalb von Parteilinien wie jener der KP, heute BSW, AfD, Le Pen und wie die alle heißen, als unabschließbaren Prozess in Subkulturen als Avantgarde zu begreifen.

Das sind, Habermas zufolge, lebensweltliche Ressourcen, die ganz und gar der Moderne eingeschriebene Potenziale der Kritik bereitstellen. Bis heute glaube ich, dass "beide Seiten" sich ergänzen. Nur muss Lyotard halt auch dabei sein.

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Tópico Gesellschaft

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