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What Art does - Teil 3: „Arbeiterliteratur“ versus „queere Literatur“ - wie bitte? Mit Gedanken zu Edouard Louis, Manuel Puig und James R. Baker

„Art allows us to share complicated concepts and feelings with each other. This cultural conversation opens doors to shifts – in ourselves and in society.“

Adriaanse, Bette; Eno, Brian. What Art Does: An Unfinished Theory, (p. 108). (Function). Kindle Edition.

Im folgenden suche ich Antworten im Feld der Literatur auf das, was Brian Eno sinnvoll meinen könnte - anhand von Werken von Edouard Louis, Manuel Puig und James R. Baker und wende mich dabei vor allem dem Verhältnis sozialer Positionierung und deren Verarbeitung in Romanen zu

Molina ist Schaufensterdekoratorin - eine fiktive Figur in einem Roman von Manuel Puig - über den habe ich hier bereits geschrieben (Abre numa nova janela) . Puigs Erstlingswerk, „Verraten von Rita Hayworth“, kann als eine Art „Autofiction“ gelesen werden; neuerdings - oder seit Annie Ernaux (Abre numa nova janela) - ein populäres Genre. Puig schildert das Erleben seiner Kindheit und Jugend. Ein tief in der argentinischen Pampa vor sich hin dämmerndes Kaff bildet die Lebenswelt des jungen Autoren, in der nur das Kino einen Ausweg aus der Öde und dem Versteckspiel rund um schwules Begehren des Heranwachsenden erlaubt. Er findet vor allem in Frauen Role Models und Möglichkeiten der Identifikation, damals, in den 50er Jahren.

„Der Kuss der Spinnenfrau“, 8 Jahre später auf spanisch erschienen, ist ein reiner Dialog-Roman mit ein paar Stream of Conciousness-Einschüben - Dialoge zwischen zwei Inhaftierten in einem argentinischen Gefängnis. Buchstäblich inhaftiert war Puig nie. Die Bedrohung, dass dieses geschehen könnte, begegnete ihm jedoch zu Zeiten der Illegalisierung gleichgeschlechtlicher Praxen fortwährend. Er löst sich von Prinzipien der Autifiction und transzendiert, kultiviert die Sujets eigener Erfahrung. Eine der Häftlinge ist Molina, bei der nicht ganz klar wird, ob sie schwul ist, Drag liebt oder sich als trans identifiziert. Man verurteilte sie wegen Sex mit einem Minderjährigen. Sie erzählt dem kommunistischen Widerstandskämpfer Valentin ganze Filme - um dem Gefängnisleben in Gedanken entfliehen zu können. Molina pflegt ihn, nachdem er vergiftetes Essen erhielt. Der jüngst verstorbene Mario Vargas Llosa merkte an, dass Puig sich ja wenig für Literatur interessiert habe, eher fürs Kino. Puig könnte ja gute Gründe dafür gehabt haben.

Seine Eltern zogen mit ihm nach Buenos Aires nach Jahren des Lebens in der Provinz, damit er ein College für das Studium der Literaturwissenschaft besuchen konnte. Anschließend studierte er in Rom Filmwissenschaft, arbeitete als Tellerwäscher, jobbte beim Film, zog durch die Welt, lebte in Mexico City und New York.

Wie Autorenbiographien, schwule Erfahrungen und Werk zusammenspielen können, das soll Thema dieses Textes sein. Sie unterscheiden sich von denen ihrer Hetero-Altersgenossen - es sind andere Moves notwendig, um Liebe und Begehren zu lernen als in all de problembeladenen Entwicklungsschritten der Mitschüler. Wenn es denn stimmt, dass Kunst, also auch Literatur, wie Eno schreibt, Zugänge zu den Lebensentwürfen Anderer schaffen kann, dann ist schwule Literatur dafür vielleicht ein gutes Beispiel.

Kurz Autofiction meinerseits: Wenn ich auf meine Freunde und manche Liebhaber zurück blicke in den Zeiten, als ich noch viel im schwulen Nachtleben unterwegs war, so fallen mir vor allem sehr prekäre Lebensverhältnisse auf. Einer lebte nach dem Zivildienst von der Sozialhilfe, zum Teil in besetzten Häusern, der Hafenstraße, dem Tuntenhaus in der Berliner Mainzer Straße. Bevor er zum Amt musste, befielen ihn Neurodermitis-Schübe. Ein anderer hielt als Handwerker die Bühne in Schmidt’s Tivoli in Ordnung, andere dealten mit Ecstasy. P. firmierte als „Leiter des Wareneingangs“ bei einem Technologiekonzern - was nicht anderes hieß, als dass er für sehr wenig Geld aufgrund eines Schulabschlusses die Arbeit derer organisierte, die dort schon morgens um 7 Kisten schleppten. Er konnte regelmäßig kaum die Miete bezahlen. M., damals sexiest Man Alive, investierte Lebenszeit als examinierter Altenpfleger auf Stundenbasis im Auftrag eines kirchlichen Trägers in die Sterbebegleitung älterer Frauen. Viel verdiente er dabei nicht. Ein anderer Interimslover rührte Lacke bei Bayer in Leverkusen an, ein klassischer Arbeiter. Er wurde bei einem Hamburg-Besuch auf der Reeperbahn als schwul heftigst zusammengeschlagen. Manche arbeiteten in der Gastronomie - Männer zwischen 20 und 30, die in Clubs und Kneipen jobben, gelten als generell nicht kreditwürdig und habe selten sichere Arbeitsbedingungen. Es waren viele derer in meinem Bekanntenkreis. B.s, er lebte zu der Zeit als Barkeeper, Kreuzband riss eines Tages; er konnte dann nicht mehr arbeiten und landete in Hartz IV. Einen meiner liebsten Seelsorger hinter dem Tresen von einst traf ich jüngst wieder. Er ruft nun Touristen zur Hafenrundfahrt, immerhin in Festanstellung und wohl ganz gut verdienend.

Aber woher kommt bei diesen ganzen Debatten rund um „Identitätspolitik“ der Drang, ständig „Arbeiter“ gegen Queers auszuspielen? Als würden die nun allesamt wie Tim Cook leben? Das oben Skizzierte war mein Umfeld zu Zeiten meines Zivildienstes und meines Studiums. Mit anderen Studenten hatte ich wenig zu tun. All diese prekären Beschäftigungsverhältnisse tauchen nie auf, wenn „woke“ gegen die wahren Interessen der Deklassierten ausgespielt wird. Es kommen all die Nancy Frasers dieser welt nicht auf die Idee, dass auch ein Arbeiter in einer Chemiefabrik Interesse daran haben könnte, durch Stärkung von Queer Rights nicht beinahe tot geschlagen zu werden.

Ich war im Vergleich dazu ganz gut situiert qua Herkunft. Noch mehr Autofiction. Beide Eltern hatten „Aufsteiger“karrieren hinter sich. Meine Großmutter mütterlicherseits wuchs noch vaterlos, der war im 1. Weltkrieg „gefallen“, inmitten des „Gesindes“ rund um ein Gut in Pommern auf in bitterer Armut. In ihrer hinterlassenen, beeindruckenden, ja, Autofiction schildert sie eine dennoch sehr herzliche und solidarische Welt zur Petroleum-Lampe inmitten zusammen gewürfelter Ganz- und Halbgeschwister, in der es über sie hieß „sie ist ja ganz nett, aber sie liest!“ Sie ehelichte einen Bürgerlichen, meinem Opa - dessen Vater, ein Volksschuldirektor, hatte sich im Krieg auf dem Balkan das Leben genommen. Er lebte auch nicht bürgerlich; spielte Laientheater und jobbte als als Gerichtsreporter. Die beiden heirateten 1933, weil ein Kind auf dem Weg war - kurz vor dessen Geburt. Als Sozialdemokrat hatte mein Großvater große Probleme, nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus noch Aufträge zu erhalten.

Mein Vater stammte aus einer Eisenbahnerfamilie, die irgendwann aus Duisburg aufs Land mitten in Niedersachsen versetzt wurde - um die Lunge zu schonen. Die war bei Lokführern, sein Vater war ein solcher, argen Belastungen ausgesetzt. Seine Frau, meine Oma, lernte er in einer Kneipe kennen - er brauchte jemanden, der sich um die Kinder aus erster Ehe kümmerte, und sie erschien handfest. Es kamen noch ein paar Blagen zur Welt. Die Mutter meines Vaters verlegte Eisenbahnschwellen in NS-Arbeitsdiensten und zerbrach eines Tages einen Handfeger auf meinem Onkel, als sie ihn verprügelte. Sie starb vor meiner Geburt. Mein Vater ging zur HJ, wurde Flakhelfer, man schickte ihn mit 17 in den „Volkssturm“ und er „verlor“ dort noch ein Bein. Aufgrund der Kriegsversehrtenrente konnte er Jura studieren und legte eine prachtvolle Karriere hin bis hin zur Vizepräsidentschaft des Niedersächsischen Finanzgerichts und zum Staatsgerichtshof in Bückeburg. Meine Mutter absolvierte eine Verwaltungslehre, studierte auf dem „zweiten Bildungsweg“ an einer Fachholschule Sozialarbeit und schloss eine Therapeutinnen-Zusatzausbildung ab. Als Flüchtlingskind hungerte sie in ihrer Kindheit 7 Jahre lang in einem Verschlag auf dem Dachboden eines niedersächsischen Finanzamtes. Dort wohnte die Familie.

Das alles mag irrelevant erscheinen, ist es aber vielleicht nicht angesichts dessen, worauf ich zusteuere. Klar prägt auch die eigene soziale Position den Zugang zu Literaturauf der Rezeptionsebene. Das ist ja auch Thema bei Edouard Louis, um den es später gehen wird - Zugänge zur Möglichkeit von Lektüreerfahrungen. Also: Karten auf den Tisch.

Ich profitierte vom „sozialen Aufstieg“ meiner Eltern und wuchs in einem Reihenhaus auf, umgeben von „Neue Heimat“-Bauten mit 3- und 4-Zimmerwohnungen. Meine Mitschüler*innen auf der Grundschule stammten größtenteils aus Arbeiter*innenfamilien, damals in den 70ern, als es noch stabile Gewerkschaften und so was wie „sozialdemokratische Verhältnisse“ gab. Der Vater meines damals besten Freundes, in den ich wohl heimlich verknallt war, ohne das schon wirklich zu wissen, räumte am Flughafen Langenhagen die Koffer aus den Flugzeugen, seine Mutter putzte in einer Realschule. Der Vater eines späteren guten Freundes auf einer Gesamtschule, dessen Mutter an Krebs gestorben war, arbeitete in einer Bäckerei und kam als Alkoholiker eines Tages mit dem Arm in die Backmaschine. Der Arm war dann kaputt. Mein Kumpel teilte sich ein Zimmer mit seinem verhassten großen Bruder. Über den Fuss des Erzeugers eines noch späteren Schulfreundes rollte eines Tages ein Gabelstapler, den er doch sonst selbst fuhr. Dann war auch mit dessen Arbeit erst mal Schluß.

Unser Zuhause zeigte sich finanziell gut ausgestattet. Mein Vater hatte als Richter und Bürgermeister einen recht hohen sozialen Status, wir hatten alle unser eigenes Zimmer und Instrumentenunterricht wurde ebenso bezahlt wie Sommerurlaub am Wolfgangsee, auf Elba oder in Jugoslawien. Durch die sozialen Umfelder meiner Mitschüler*innen blieben andere Verhältnisse mir aber zumindest nicht völlig fremd. Mein Vater engagierte sich als Sozialdemokrat und pflegte so Freundschaften mit Gewerkschaftlern, wohnte nach der Scheidung in einer nicht sonderlich exklusiven 3-Zimmer-Wohnung. Ich bin mit Büchern aufgewachsen, habe mich in diese geradezu verkrochen, mochte keinen Sport und habe mit Freundinnen Barbiepuppen Ken lieben lassen; kurioserweise, ohne dafür gehänselt zu werden.

Jean Genet, einst berühmter Autor, verbrachte die Zeit bis zu seinem literarischen Durchbruch als Kleinkrimineller. John Rechy, der mit „City of Night“ ebenfalls Autofiction verfasste, schrieb über seine Zeit als Sexarbeiter und beeinflusste mit seinem Werk unter anderem David Bowie. Eine der Hauptfiguren in James R. Bakers „Tim & Pete“ ist Automechaniker. Das Job-Tableau in der US-Ausgabe von „Queer as Folk“ erstreckt sich vom Jungunternehmer bis zu zwei Verkäufern. Einer derer arbeitet in einem Supermarkt und flirtet, um Schwulenfeindlichkeit zu entgehen, mit einer Kollegin. Einen Durchbruch erlebt er, als er sich im Drag auf eine Pride-Parade wagt. Einer seiner Freunde jobbt in einem Klamottenladen und verdient sich sodann sein Geld, indem er vor Kameras onaniert. Klar, ist Fiction. Aber was genau steht nun in so einer TV-Serie Arbeiter*inneninteressen politisch entgegen?


In meinem Leben wandelte sich der Freundes- und Bekanntenkreis irgendwann in ein Umfeld von Medienarbeiter*innen. Bei manchen von denen lief es gut, dann, wenn sie bereit waren, sich ganz auf Heterounterhaltung einzustimmen; Quiz-Show-Einspieler zu basteln, Gäste für Lanz einzuladen oder das „Dschungelcamp“ zu schneiden. Schwieriger wurde es für jene, die sich auf queere Themen spezialisierten. Außer neuerdings bei der Hamburger Filmförderung bietet das, allen Unkenrufen zum Trotze, keine wirtschaftlichen Vorteile. Bis hin zu Führungskräften in öffentlich-rechtlichen Sendern ist eher Vorsicht geboten - seit dem flächendeckende Kampf gegen „woke“ erst recht. Bloß nicht zu sehr „damit“ identifiziert werden und queere Themen allenfalls mal dosiert nach 23 Uhr einreichen. Könnte sonst gegen Dich verwendet werden. Die heftigsten Konflikte gab es in meinem Arbeitsleben direkt oder indirekt rund um schwule Themen - na, von dem mit Charlotte Roche mal abgesehen. Allerdings nie mit meinen direkten Arbeitgebern. Eher den Kunden.

Wieso verkaufen sich eigentlich Bücher so gut, in denen die Queerfeindlichkeit von Arbeiter*innen berichtet wird, aber nicht von der in Medienszenen oder Versicherungen? Klar arbeiten in den Medien viele Queers und organisieren sich ja auch. Manche verdienen auch besser. Aber Facharbeiter*innen bei Audi stehen oft finanziell noch besser da und arbeiten weniger prekär.

What art does? Brian Eno schreibt, dass sie Einfühlung und Perspektivenübernahme ermögliche und so auch soziale Differenzen strukturiere wie auch Gruppenbildung fördere.

Werden die Romane von Edouard Louis von Arbeiter*innen gelesen? Ich habe keine Ahnung. Ich selbst habe „Das Ende von Eddie“ immer wieder angefangen und dann weg gelegt. Gleich zu Beginn wird die Hauptfigur, kommt gleich noch im Originalzitat, ein Selbstporträt des Autors, noch juvenil, brutal verprügelt. Ich hatte davor immer Angst, mir ist das zum Glück nie passiert. Ich wusste auch nicht, was ich lerne, wenn ich das lese. Vielleicht schafft das Einfühlung bei jenen, die hetero durch die Schule liefen. Für mich wäre es befriedigender zu lesen, wie der als „Schwuchtel“ Beschimpfte die Bullies aus der Fußballmanschaft gnadenlos vermöbelt. Ist ja nur Fiction.

Durch „Das Ende von Eddie“ gelangte Edouard Louis zu Weltruhm. Der Roman verweist auf das, was Brian Eno auslässt: was ist denn eigentlich das Material von Kunst? Zunächst einmal Medien wie Sprache, Licht, Farbe, Schall und akustische Signale und in vielen Fällen Zeit. Diese avanciert durch ihre Modulation, durch Taktarten und Bewegungsformen selbst zum Material. Zeit strukturiert Erinnerung; als Abfolge von Ereignissen und parallelen Handlungsverläufen, synchron, asynchron, experimentell aufgelöst oder rhythmisiert. Zu all diesen Komponenten und ihrem Zusammenspiel existieren ganze Bibliotheken, sei es nun ästhetische Theorie, Literatur-, Musik- oder Medienwissenschaft; ich surfe hier ungeachtet dessen weiter auf den Thesen von Brian Eno, weil ich sie pragmatisch für ganz hilfreich halte. Romane setzen wahlweise auf reine Fiktion oder auf persönliche, aktualisierte und in eine Form überführte Erinnerungen oder arbeiten mit einer Mischung aus beidem. Die Romane von Edouard Louis treten auf als so genannte „Autofiction“, siehe oben. Die Geschichte wird am Leitfaden der eigenen Erinnerungen wie auch immer rekonstruiert:

„An meine eigene Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das heißt nicht, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär. Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.

Im Flur tauchten zwei Jungen auf, einer war groß und rothaarig, der andere klein und mit krummem Rücken. Der rothaarige spuckte mich an: Da, voll in die Fresse.

Die Rotze rann langsam mein Gesicht hinab, gelb und dick, wie der heisere Schleim aus der Kehle von Alten oder Kranken, sie roch stark, übelerregend.“

Edouard Louis, Das Ende von Eddy

Louis geht im weiteren Verlauf über zu Beschreibungen seines gewalttätigen Vaters - wie er vor einer Kneipe aus Eifersucht volltrunken anderen die Nase brach und Zähne ausschlug, kleine Katzen in eine Supermarkttüte steckte und an einer Betonwand erschlug und sich an dem Blut eines Schweines erfreute, das aus dessen Kadaver sprudelte. Das sind die ersten Seiten des Buches. These voran gestellt, „Leiden ist totalitär und systemisch“, sodann: erzähle sinnlich - Gerüche - und gehe in die Vollen, das zieht die Leser in den Roman. Vermutlich hat so strategisch zu dem Zeitpunkt des Verfassen seines ersten Romans Louis noch gar nicht gedacht.

Anregung erfuhr „Das Ende von Eddie“ durch Didier Eribon, Journalist, Biograph Michel Foucaults, akademischer Lehrer. Mit „Zurück nach Reims“ gelang ihm in Deutschland ein Bestseller. Die Wirkungsgeschichte des Buches tendierte stark in Richtung Sarah Wagenknecht, wovon Eribon sich jedoch distanzierte. Es schildert seine Biographie als die eines Schwulen aus der Arbeiterschaft, der in Paris sein Begehren zu leben beginnt und zugleich von der Scham geprägt ist, in snobistischen und akademischen Kreisen doch immer als der mit den „proletarischen Wurzeln“ identifiziert worden zu sein oder dieses zumindest zu befürchten. Also soziale Differenzen im Feld, ein Element, das auch Brian Eno thematisiert. Eribon wechselt in seinem Buch zwischen theoretischen Erläuterungen von Pierre Bourdieu über Michel Foucault bis zu Jean-Paul Sartre (und vielen anderen mehr) und erinnert sich und andere dabei zugleich an die doppelte Scham: „Unterschichts“-Herkunft und dann auch noch schwul.

Louis äußert in Interviews, wie er bei einer Veranstaltung mit Eribon die Nähe zu diesem suchte und, von ihm angespornt, sich an seinen ersten Roman setzte. Er schildert in diesem, wie er sich Erwartungen widersetzte, ein „richtiger Mann“ im Sinne seines Vaters zu werden. Louis war zum Zeitpunkt des Verfassens erheblich jünger als Eribon oder ich. Seine Jugend situierte sich in den späten 90er und frühen Nullerjahren. Der erste Teil schildert das Milieu, in dem er aufwuchs, der zweite das Erwachen seines schwulen Begehrens und die Reaktionen seiner Familie darauf, der dritte, poetisiert, die Selbstwerdung im Gymnasium einer nahe liegenden Stadt. Er wechselt zwischen Berichten des selbst Erlebten, Erzählungen Dritter, so seiner Großmutter, und Reflexionen des „Habitus“, ein Begriff Bourdieus, in soziologischen Termini.

Ähnlich wie im Falle Eribons erfuhr das Buch schnell eine immense und auch internationale Resonanz vor allem, weil es schilderte, wie Menschen in Frankreich, die traditionell noch die Sozialisten oder die Kommunisten gewählt hätten, sich nunmehr dem Front bzw. Rassemblement National zuwandten. Beide schilderten ein rassistisches, misogynes, queerfeindliches und durch und durch versoffenes Milieu, in dem sich die Gewalt gesellschaflicher Verhältnisse bündelte. Seltsamerweise unterschied sich die Milieuskizze im Ergebnis gar nicht so sehr von dem, was auch das „Unterschichtenfernsehen“ über „bildungsferne Schichten“ behauptet, freilich mit der „progressiven“ Pointe: diese seien von der Politik allein gelassen so „verkommen“ und könnten deshalb ja im Grunde genommen kaum anders.

Die Werke zeigten sich gegen ihre Intention seltsam anschlussfähig an die Analysen mancher Autor*innen nach der ersten Wahl Trumps zum US-Präsidenten oder sogar an die „Hillbillie-Elegie“ von JD Vance. Eben die Diagnosen der immer weiß gedachten Arbeiter*innen im Rust-Belt, die aufgrund der Vernachlässigung durch die politische Linke und weil diese sich nur noch um die „Identitätspolitik“ von Queers, um Feminismen und BPoC gekümmert hätten, nun aus Notwehr den Rechtsextremen die Stimme geben würden. Louis legte nach mit einem Roman nach, „Im Herzen der Gewalt“, in dem er eine tatsächlich erfahrene Vergewaltigung mitten in Paris durch den Sohn aus Algerien eingewanderter Eltern aufarbeitet. Als sei das Trauma angesichts der Gewalterfahrung nicht schlimm genug, zerrt ihn die Aufarbeitung der Tat hinein in ein Netz „fremdenfeindlicher“, haha, geht um Nachbarn, Perspektiven von Sicherheitsbehörden und auch des eigenen internalisierten Rassismus.

Beide Werke stellen die literarische Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen dar, haben als solche Gewicht und verfügen über literarische Klasse - sie reflektieren sie zudem mit dem Handwerkszeug der Soziologie. Sie beschönigen die Taten nicht und basteln dennoch eine gesellschaftstheoretische Sicht, die - so vermute ich - dabei hilft, durch Distanzierung vom Erlebten Traumata auch zu rationalisieren, ja, demonstrieren eine gewisse Empathie mit den Tätern. In einem Interview mit Thomas Ostermeier begründet Louis (Abre numa nova janela) seinen literarischen Einsatz für die Deklassierten damit, dass man diese ja nicht lieben müsse, um trotzdem für ihre Rechte einzutreten. Er suche bei jedem neuen Werk einen anderen sprachlichen Zugang.

Ich frage mich trotzdem: Wieso unterwirft sich jemand, der beeindruckende Coming Out-Geschichten verfasst, eigentlich so nachhaltig den Milieus, die ihn quälten? Und wieso hat diese Sicht dann auch noch so einen Erfolg? Läuft die Kritik dann nicht aus Versehen doch auf eine Rechtfertigung der Verhältnisse hinaus?

Und, darüber hinaus: wieso fasziniert das Feuilleton-Publikum dieses Grauen? Gehen die dann los, treten in eine Partei ein und kämpfen für queere Rechte und die der Arbeiterschaft? Was ist das für ein Interesse, worin besteht der Genuss, der Menschen zu Veranstaltungen von Louis ins Schauspielhaus lockt, die sich dort auf Lesungen andächtig vortragen lassen, wie Schwule verprügelt und von Arabern vergewaltigt werden? Wieso gelten diese Schilderungen als Aufklärung? Ja, sie erzeugen im besten Fall Empathie, wobei die dann so erhebliche praktische Konsequenzen in der Regel auch nicht nach sich zieht. Ich meine die Frage auch ganz ernst und nicht durch und durch empört. Wieso gelten solche Abbildungen von Gewalt im Rahmen eines als authentisch geltenden sozialen Realismus als Aufklärung?

Zudem, vermute ich zumindest, die Leser*innen von Louis wohl eher nicht aus Bautzen oder Gelsenkirchen stammen, wo Berichterstattungen folgend ähnliche Gruppen entrechtet werden wie in dem Herkunftsmilieu von Louis. Was finden Bildungsbürger eigentlich so prickelnd an solchen Stoffen? Ist das wirklich reine Empathie mit den Entrechteten und Diskreditierten?

Molina im Roman „Kuss der Spinnenfrau“, eingangs in diesem Text erwähnt, verfügt über keinerlei politische Begrifflichkeit, ihre Position in der Gesellschaft des Argentiniens der frühen 70er zu artikulieren. Ihre Sprache nährt sich von kitschigen Filmen, Melodramen, und schmachtenden Liebeslieder. In diesen wird verhandelt, was sie fühlt und allenfalls eingeschränkt leben kann. Purer Eskapismus, aber das, was sie liebt. In diesen Kosmen kann sie ihr - nach Brian Eno - Koordinatensystem erkunden, das, was sie mag, was sie nicht mag, wo sie sich zugehörig fühlt und wo nicht. Diese Produktionen aus dem Reich der Künste helfen ihr dabei. Ansätze klassisch linker Weltdeutung erfährt sie von Valentin, ihrem Zellengenossen im argentinischen Knast - ihr gelingt es jedoch, manche seiner Phrasen auch zu unterlaufen, wenn er von der Liebesbeziehung mit einer Genossin berichtet und dabei zu seinen Gefühlen gar nicht erst durchdringt inmitten revolutionärer Verpflichtungen.

Auch Manuel Puig, Autor des Werkes, das durchaus sehr erfolgreich war und von Hollywood verfilmt wurde, William Hurt erhielt für die Darstellung Molinas einen Oscar, arbeitet mit Theorie. In Fußnoten, die dem durchlaufenden Dialog hinzugefügt sind, referiert er Kenntnisstände rund um „Homosexualität“ von Sigmund Freud bis Herbert Marcuse und erfindet final noch eine Psychologin, die es gar nicht gibt, um seine Sicht der Dinge als fiktiver, wissenschaftlicher Expertise Geltung zu verschaffen. Er verdreht so den dominanzkulturellen Diskurs in das, was er besser findet als Elektroschocks in Konversionstherapien.

Das Werk reflektiert zudem das Verhältnis „niederer Künste“, eben Kinofilmen, Schlagern, wohl die, die tatsächlich auch von den Landarbeitern auf den Rinderfarmen in der Pampa geguckt und gehört wurden, und linken Politiken durch die beiden Protagonisten. Die Grenze wird scharf gezogen - als Molina einen Nazifilm erzählt, dessen Helden sie sexy findet, opponiert Valentin heftig gegen den brutalen Antisemitismus des Filmes, eines, der eine Kombination aus verschiedenen tatsächlichen „Werken“ aus Zeiten des Nationalsozialismus diese literarsch verdichtet, und vertieft dessen üblen - fiktiven - Plot noch in einer Fußnote mit einem erfundenen Pressetext dazu. Dieser pointiert beeindruckend antisemitische Stereotype und klagt sie implizit an. Molina ist beleidigt, dass Valentin glaube, sie habe gar nicht begriffen, dass das ein Propaganda-Film sei. Dennoch: hier ist Schluß. Eine Rechtfertigung, so etwas auch noch schön zu reden, weil die Liebesgeschichte doch so ergreifend sei, bleibt aus.

Ein weiteres Beispiel schwuler Literatur mag illustrieren, worauf ich hinaus will. „Sex Rebellen“, im Original „Tim and Pete“, von James R. Baker spielt im Los Angeles der frühen Neunziger Jahre. Das Buch ist durchzogen von Stories rund um AIDS, lauter Sterbenden und Toten, und atmet eine ungeheure Wut. Diese entlädt sich zum Schluss in den Attentatsplänen auf Ronald Reagan, angestrebt von einer durch und durch amoralischen schwulen Künstlergruppe. Sie sind allesamt auf Droge, basteln Skulpturen aus organischem Material, dessen Verwesungsvorgänge Teil des Werkes sind und haben keine Angst vor Needle-Sharing, wenn sie sich Speed spritzen. Weil sie sowieso alle HIV positiv sind.

Der Plot an sich folgt der Wiederannäherung von Tim und Pete, die sich nach einer intensiven Beziehung getrennt und ein Jahr lang nicht gesehen haben. „Tim und Pete“ wurde in schwulen Kreisen der USA zwar kontrovers diskutiert, aber kein allzu großer Erfolg - und ich bezweifel, dass Eppendorfer oder Othmarschener fasziniert in Lesungen James R. Bakers ins Schauspielhaus strömen würden, wenn er noch lebte. Er wählte den Freitod.

Das Buch ist durchzogen von lustvoll erinnerten Geschichten promisken Sexes vor AIDS, von Songs und Popkultur. Die Lightning Seeds tauchen auf, die Butthole Surfers, Roxy Music - also Brian Eno -; Pete spielt und singt in einer Band. Er schreibt Songs mit Texten, die ich hier ohne Kontext noch nicht einmal zitieren könnte. “Politisch inkorrekt“ avancierte zum Schlagwort der Rechten, es sei jedoch daran erinnert, dass es zunächst z.B. John Waters war, dessen Filme - in einem legendären aß Divine als Hauptdarstellerin Hundescheiße - als „politisch inkorrekt“ wahrgenommen wurden. Lieben Gruß an Josef Wutz, der den Text hier vielleicht liest und in einem Filmverleih für die Produktion von Duftkarten, die an Zuschauer*innen verteilt wurden, verantwortlich war und von den Gerüchen berichtete. Mag da manches noch Provokation um ihrer selbst willen gewesen sein - Baker webt solche Haltungen zielsicher in sein Werk ein und erfindet fiktive Diskussionen über Grenzen dessen, was noch möglich sei und was nicht in der Kunst.

In einer Schlüsselszene erfährt Tim von Petes Erfahrungen zu Zeiten, als die beiden noch getrennt lebten, aus einem Song bei einem Konzert, da Petes Band auftritt - Kunst mutiert dabei zur direkten Kommunikation zwischen Liebenden, nicht etwa zum kulturellen Kapital. Die Protagonisten ziehen durch L.A., begegnen einem wiedergeborenen Christen, einer schwarzen Gang vor den Trümmern der Riots 1992, fürchten sich vor deren Homophobie - um final festzustellen, dass die Mitglieder der Gruppe Aufdrucke einer „Mixed Race“-Gay-Disco auf ihren Jacken tragen. Das Buch ist durchsexualisiert, derart, dass es beinahe ins Absurde kippt und eben auch das offen legt, was zumindest lange Zeit als Desaster in Gay Communities wirkte: dass durch den Zwang, sich in einer heteronormativen Welt über Sexualität definieren zu müssen, weil das die zentrale Differenz IST, sich auf diese zu reduzieren.

Getränkt ist „Tim and Pete“ von einem beinahe heiligen Zorn auf die Politik der Republikaner zu Zeiten von AIDS. Pete greift einen Abgeordneten an, der eine Affäre mit seiner Mutter hat, und behauptet noch, diesen mit AIDS zu infizieren, als er ihm sein Blut in den Mund schmiert - in dem Wissen, dass er negativ ist. Ein Bluff also. Sie wehren sich wortreich gegen einen schwulenfeindlichen Fahrer, der sie trampend in seinem Wagen mit nimmt - das gesamte Buch ist eine einzige Gegenwehr gegen die Stigmatisierung von Schwulen in den USA der frühen 90er Jahre. Mittendrin wird eine eindeutig als esoterische Spinnerei ausgewiesene Theorie von einem der Gesprächspartner Tims referiert: AIDS sei die sich körperlich auswirkende Energie homophoben Hasses der Mehrheitsgesellschaft. Diese würde sich in den Leibern ausbreiten und das Immunsystem schwächen. Als Metapher ist das gelungen.

Beide Bücher, „Kuss der Spinnenfrau“ wie auch “Tim and Pete”, schaffen - ganz wie das „New Queer Cinema“ der frühen 90er Jahre - kaum Identifikationsangebote für das Publikum. Das Meisterwerk Manuel Puigs kreiert ein Setting, in dem das klare Unterworfensein in einem Folterknast durchaus für Empathie sorgt. Die Flucht in kitschige Filme ebenso - Valentin als linker Revolutionär mag für manche in den 70er Jahren, als das Buch erschien, auch ein Role Model gewesen sein. Molina hingegen bringt so radikal alle Geschlechterstereotype durcheinander, dass es eine Herausforderung für Leser*innen ist, die hier selbst Probleme haben, sich dem zu stellen.

„Tim und Pete“ haut Leser*innen schwule Subkultur mit einer derartigen Dichte um die Ohren, dass prüdere Charaketere die ersten Seiten wohl kaum überstehen. Es wird komplett darauf verzichtet, wer auch immer das Buch liest, zu umschmeicheln. Tim als Erzähler plappert sehr charmant, amüsant und pointiert vor sich hin, aber was er da plappert, lässt keinerlei Verständnis für Unterdrücker oder schwulenfeindliche Verhältnisse erkennen.

Beide Romane sind durchzogen von populärer Kultur; „Tim and Pete“ zugleich von subkultureller Erfahrung vom Cruising bis zur Sauna. Eine Parallelwelt, die allerdings auch sehr weit entfernt von Bildungsbürgerverhältnissen situiert ist, mag Tim selbst auch in einem Filmarchiv arbeiten und cineastisches Wissen einfließen lassen. Die Sprache des Buches ist dabei nicht grob oder einfach nur ordinär; Baker kultiviert sie. Eine virtuos gestaltete Erzählelerspektive surft durch die Erfahrungen der beiden Hauptfiguren in L.A. und legt dabei vor allem hinter all dem Sex eine schwierige und zugleich sehr schöne Beziehungsgeschichte frei. „Tim and Pete“ lieben sich, gehen vertraut miteinander um in all den kleinen Streitigkeiten und Zickereien und erfahren auch eine ästhetische Welt gemeinsam, eine, die Normalbesuchern des „Centre Pompidou“ vielleicht als Sündenpfuhl erschiene - aber es ist die ihre.

Kunst erfindet Welten, schreibt Brian Eno - oder aber Ausschnitte aus ihr. Im Falle von James R. Baker, der durchaus auch mit vielen autobiographischen Motiven arbeitet, wenn auch anders als Edouard Louis, entsteht eine, die auf jede Rechtfertigung gegenüber der feindseligen Mehrheitsgesellschaft verzichtet.

Wieso die beiden hier überhaupt zusammen mit Manuel Puig in ein und demselben Text auftauchen - dazu mehr im letzten Teil dieser Serie.

Coming Soon

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Tópico Kunst

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