Shifting Reality - oder die Rückeroberung des vermeintlich „vorpolitischen“ Raumes mittels Intermedialität in Social Media
Es mag absurd erscheinen, in Zeiten des Verfalls von Demokratien, Politiken der Lüge und machtvoller Oligarchen nun ausgerechnet über die Kraft der Ästhetik, der Gestaltung und von Kreativität zu sinnieren. Und das auch noch am Leitfaden von Musik und Malerei, wo allesamt über Künstliche Intelligenz Bescheid zu wissen glauben und sichtbar wird, wie sie in sozialen Medien Weltbilder untergräbt und durch Kitsch und Konservatismen ersetzt.
Mir erscheint es eher absurd, das zu unterlassen. Obwohl doch gerade die mittels KI generierten Bilder, auch manipulierte Videos und Fotos zu realem Geschehen irgendwo auf der Welt, in Kontexte der Unwahrheit gepflanzt, Massen bewegen können. Soziale Welten sind von den „Fun & Thrill“-Bändern, so nennt es Jürgen Link, intermedialer Produktionen durchzogen - ergänzt durch „Schock & Horror“-Girlanden. Die Timelines sozialer Medien füllen sie ebenso wie Chats in Whatsapp-Gruppen von Zuckerbergs Gnaden. Selfies, Videosequenzen, Spotify - die Intensität der Nutzung mag sich unterscheiden. Dass sie Lebenswelten prägen, filtern, Wahrnehmungen beeinflussen und den Fokus gesellschaftlicher Debatten produzieren, das scheint mir nicht erst durch den Einfluss von TikTok auf das Verhalten von Jungwählern belegt worden zu sein.
Seltsamerweise bleibt dennoch gerade in progressiven Strömungen die Orientierung am Text, an Schriftsprache, dominant. Ergänzt noch durch das gesprochene Wort in Podcasts. Die Fortsetzung von Buch, Zeitung und Radio. Auch vieles, was im Fernsehen zu sehen ist, orientiert sich in zumindest intendiert außerfiktionalen Zusammenhängen an Sprache: Talkshows, Quiz-Sendungen. Manche der Reportagen und Dokumentationen wirken auch weniger am Bild denn am Off-Text orientiert (auch manche meiner eigenen). Häufig steuert dieser die Auswahl der Bilder, die geprägt von Ästhetisierungen bereits in der Wahl des Kameratyps, der Einstellungen, der Bewegungen ob mit Gimbal oder Slider Sujets so arrangieren, dass möglichst nichts mehr stört.
Es wird nicht mit einer Ästhetik des „Bad Shootings“ analog zum „Bad Painting“ gespielt, des Fragments oder der Unterbrechung. Alles bleibt im Flow, muss verständlich sein und vermeidet eine denkbare Eigendynamik der Bewegungsbilder, die fimimmanenten Gesetzmäßigkeiten folgen. Eben das meinte ja einst „L’art pour l’art“ - eine Rationalität, ja, es ist eine, die sich nicht ausschließlich am Wahren (das im Falle des Dokumentarischen selbstverständlich zentral bleib) oder moralisch Richtigen orientiert, sondern Gründe und Kriterien aus der Logik ihres Mediums oder auch Materials gewinnt und so die Erfahrung mit dem Werk künstlerisch gestaltet. „Künstlerisch“ und „Kunst“ meint dann im besten Sinne „künstlich“, dem fundamentalen Unterschied zwischen dem Rohen und dem Gekochten oder von Natur und Kultur eine Schöpfung durch Menschen entgegen zu stellen. Seit geraumer Zeit auch unter Zuhilfenahme von Computern.
Das prägt auch die Natur- und, meist ästhetisch weniger anspruchsvoll, die Sozialwissenschaften (Graphen, Türtchendiagramme, Säulen). Vom Atommodell über das der DNA bis zu bildgebenden Verfahren in der Medizin - Gehirnscans, Mikro-Kameras, die Metastasen hübsch ausleuchten so, wie kein bloßes Augen sie je sehen könnte, ganz in Tradition des Mikroskops. Auch Wirtschaft ist durchdrungen von Ästhetiken, nicht nur in Habitus und der Wahl des Anzugs- von Power Point-Präsentationen bis zu aufwändigeren Formen mitsamt Video in der Selbstdarstellung von Marken - Logos etc. -; Geschäftspraktiken, wirtschaftliche Erfolge und ein fantastisches Arbeitsklima lächelnder Menschen füllen Imagefilme, Musik ist zumeist auch mit dabei.
Dass ergänzend bei all dem Grauen, das in Social Media Horror-Clowns in Regierungen schubst, auch ein wahres Wunder der massenhaften Content-Produktion die Gesellschaft verändert, wird dabei manchmal übersehen. Viele beklagen zu recht das Fehlen der Filter, das Kuratieren, das Lektorat - Jürgen Habermas merkte klug an, dass es aktuell darum ginge, dass Menschen selber lernen müssten, Produzierende zu sein und Folgen ihres Wirkens abzuschätzen, auch wenn nunmehr Algorithmen, nicht Redakteure, steuern, was Aufmerksamkeit erhält.
Es gibt unzählige Tutorials, die entschlüsseln, wie man diese für sich nutzen kann, die von TikTok, von Instagram und Youtube. Aktuell gruppieren sie sich weniger um Followerzahlen als um die gescannten und ausgewerteten Interessen der User. Guckst Du ein Tutorial „Wie zeichne ich eine Hand?“, bekommst Du immer mehr davon vorgeschlagen. Weiteres Kriterium: wie lange bleiben die Zuschauenden dran? Es empfiehlt sich, einen Hook an den Anfang zu stellen und in dem Titel den Nutzen, die Problemlösung, anzukündigen. Während bei TV-Dokus mittlerweile Trend ist, erst einmal 30-90 Sekunden allen zu erzählen, was sie anschließend zu sehen bekommen, funktioniert die Social Media-Kommunikation am besten wie im Krimi: es empfiehlt sich, zu Beginn erst einmal jemanden zu ermorden und dann aufzurollen, wie es zu der Leiche kam. Das kann man alles furchtbar finden, aber es darf doch auch nicht übersehen werden, was für ein Masse an Wissen gerade Youtube mittlerweile bereit stellt. Es ist zugleich auch fantastisch, dass eine solche Menge von Hilfstellungen zu wirklich ALLEM angeboten wird von den binomischen Formeln bis hin zur Harmonielehre, vom Umgang mit Acrylfarbe bis hin zu stoischer Philosophie. Guckt man nur in die von Rechtsradikalen verseuchten Ecken der sozialen Medien, dann entsteht ein endloser Slasher-Film beim Scrollen, Klicken und Suchen. Es gibt - noch - jedoch auch eine unendliche Fülle der Demokratisierung von Wissen auf allen möglichen Niveaus zu entdecken. Noch.
Der Witz beim Agieren der allseits gefeierten „Genies“ aus der neuen Oligarchie besteht ja darin, dass sie selbst anders als die großen Erfinder*innen und noch Ideenentwickler wie Steve Jobs gar nichts kreieren. Sie investieren, sammeln ein, schöpfen ab und kanalisieren. Musk hat Tesla nicht erfunden, er hat in ein existentes Unternehmen investiert. Peter Thiel hat über Paypal Geldströme umgeleitet. Zuckerbergs Meta stellt ebenso wie Youtube die Plattform für das bereit, was andere, zunächst ohne dafür entlohnt zu werden, produzieren. Sie mussten Monetarisierung einführen ab einem gewissen Niveau der Verbreitung. Verglichen mit jenen, die viele Arbeiter*innen an Fließbänder stellen mussten und dafür schlecht entlohnen, dennoch ein ziemlich raffiniertes Modell, um Geld zu verdienen. Amazon produziert zwar mittlerweile auch selber, z.B. Fiction, aber es ist zugleich eine Plattform für das, was Andere produzieren - wenn auch im Vergleich zu Meta oder Paypal mit einer recht aufwändigen angeschlossenen Logistik. Und das ist auch alles gar nicht nur furchtbar, weil z.B. für Selfpublisher hier im eBook-Geschäft eine Infrastruktur geschaffen wurde, in deren Fall mehr bei den Autor*innen hängen bleibt als im Falle klassischer Verlage. Es ist leichter, auf englische Literatur Zugriff zu erhalten. Wenn auch Amazon gerade die Antidiskriminierungsrichtlinien nach Trumps Diktat entfernt hat, bietet es zumindest bisher eine Möglichkeit des Zugriffs auch auf queere Literatur, von der ich als Teenie nur träumen konnte.
Noch. Das Problem ist, dass diese Oligarchen eben auch über die Mittel verfügen, diesen Aufbruch umzukehren, einzuschränken, Wissen zu unterdrücken. Ansätze davon zeigen sie bereits, z.B., wenn Anzeigen für die „Pille danach“, wenn ich das richtig verstanden habe, nunmehr bei Facebook als Spam gelten. Meines Wissens darf dafür in Deutschland aber auch nicht geworben werden, ich bitte um Aufklärung z.B. in den Kommentaren.
Viele plädieren deshalb längst für öffentlich-rechtliche Plattformen. Liest sich nett, aber es können sich ja alle vorstellen, was passiert, wenn die der AfD, den Melonis und den LePens in die Hände fallen.
Und was machen progressive Kräfte im Gegenzug zu den Oligarchen? Sie schreiben Bücher für Suhrkamp - z.B. - und lesen Texte.
Ja, es gibt mittlerweile Mastodon als dezentrales Netzwerk mit Foto- und Videocontent-Ablegern. Formal mit Sicherheit ein Vorbild. Die kommunikative Infrastruktur setzt, wie in den Welten, die man in meiner Jugend noch „Independant“ nannte, eher auf Binnenwirkung in kleinen Szenen, die dort dann übereinander herfallen, um sich wechselseitig zu belehren. Natürlich nicht nur. Aber auch.
Dabei wäre von den Libertären aktuell tatsächlich etwas zu lernen; das, was zu Zeiten, da „Indie-Label“ gegen die „Majors“ sich behaupten wollten und dann Pleite gingen, in der so genannten „Alternativbewegung“ letztlich auch libertär und staatskritisch sich positionierte. Das ist eine der Gründe, dass die herrschenden Oligarchen, mittlerweile angeschlossen an die US-Regierung und ihr unterworfen, sich derart als Anti-Establishment-Outlaws aufspielen können auf ihrem Weg in die Unternehmerdiktatur mit teils faschistoiden Inhalten: sie haben von der Linken der 60er, 70er und frühen 80er Jahre - über die frühen basisdemokratischen Internet-Pioniere vermittelt - gelernt. Sie haben manche Rezepte sich so erfolgreich angeeignet, dass diese flächendeckend wirken konnten: Alternative Öffentlichkeiten erzeugen zu staatlicher Kommunikation, dafür Strukturen schaffen und sie von den Usern füllen lassen wie auch Indymedia, alternative Buchläden oder Radios wie das FSK. Klar, mit völlig anderen Inhalten und Geldgebern im Rücken. Aber strukturell bietet das auch Potenziale. Die Rechten wussten diese neuen Internet-Ökosystemen gut zu bespielen. Sie konnten an Talkradios und natürlich Fox News, von Milliardären finanziert, anknüpfen, produzierten dann aber auch Audiovisuelles wie der ultrarechte Verschwörungstheoretikers Alex Jones (viele Motive, die bei seinen “Infowars” auftauchten, waren lange eher in der Linken verbreitet, Mathias Bröckers, der die taz mit gründete, mag hier das Paradebeispiel sein, wenn man das nachvollziehen möchte). Sie haben das langfristig erfolgreicher gemacht als progressive Kräfte, so furchtbar die Inhalte auch waren und sind.
Man wird dem mit staatlicher Finanzierung oder angekoppelt an Universitäten, geschweige denn mit einem Schwerpunkt auf Text und Buch, wenig entgegen setzen können. Auch „Democracy Now“ und ähnliche Plattformen in den USA haben das nicht geschafft.
Es ist jedoch die aktuell einzige Möglichkeit. Klar mögen meine bescheidenen Versuche, hier doch immer wieder bei Text zu landen, vor allem bei Youtube dazu Musik- und Bildwelten zu schaffen, auch keine Konterrevolution initiieren. Aber solche Wege zu bündeln und überhaupt mal wahrzunehmen, auch bei Youtube gibt es produktive Ansätze, statt sich über den letzten Talkshow-Auftritt eines FDP-Politkers tagelang zu echauffieren, das könnte ja vielleicht helfen. Und Menschen mit Kapital davon zu überzeugen, beim Aufbau zu unterstützen. Das gibt ja auch welche, die den Putin-Weg nicht einschlagen wollen.
Diese unglaubliche Fülle an Tutorials bei Youtube kann dabei helfen. ALLE können dort lernen, wie man zeichnet, Musik macht, Videoschnittprogramme, auch kostenlose, und die Smartphone-Kamera bedient. ALLE Wissenszweige können Wege finden, sich anders zu artikulieren als in Publikationen für die eigene Veröffentlichungsliste im akademischen Kontext. Die Rechten haben ja recht: es läuft über den vermeintlich „vorpolitischen“ Raum, und der wird aktuell zumindest auch über Social Media bespielt.
Eine meine Intuitionen dabei ist aktuell, dass es angesichts der Hypnose durch Timelines in Smartphones und Computern auch um die Wiedergewinnung von Sinnlichkeit gerade angesichts von KI geht. Ohne in plumpe Kulturkritik zu verfallen. Diese kann ja all das nicht, was ein Acryl- oder Ölbild kann - selbst wenn sie es simuliert. Malen ist leiblich anders situiert. Sie greift auch in Musikproduktion ein, aber auch mit digitalen Mitteln ist es möglich, aktuell genau das machen, was ihr nicht gelingt - das „Fun & Thrill (und Schock-)Band“ zu unterbrechen. Störfunk sein. Das Gegenteil von dem machen, was die Rechten wollen. Nicht einfach nur auf Sichtbarkeit als solche setzen, sondern in den Sichtbarkeiten Welten zu modulieren so, dass sie einfach sexier sind - wie Künste das halt machen. Man stoppt damit keine verfassungswidrigen Bundestagsentscheidungen. Man generiert jedoch ästhetische Gegenentwürfe, die in Lebenswelten wirken. Es geht nicht mehr, wie David Bowie über „Top of the Pops“ oder Curtis Mayfield über „Soul Train“ Wirkung zu entfalten. Wenn es sich ballt und eigene Plattformen schafft, dann könnte aber etwas passieren. Bein Bluesky klappt das ja auch schon ganz gut.
Ein bescheidenes Video mit eigenen Versuchen habe ich zu diesem Zweck mal zusammen gebastelt. Das sind Bilder, die zum Teil mitten in recht aufwändigen TV-Produktionen entstanden sind.
https://www.youtube.com/watch?v=cvYuPo3tsQg (Abre numa nova janela)Das Bild bei 01.46 war ein Kommentar zur New Economy-Rhetorik in der Firma MME, in der ich arbeitete und in die frisch Investoren eingestiegen waren. So was malt man vermutlich eher nicht, wenn man als Bürgergeldempfänger*in alleinerziehend ums Überleben kämpft, von Abschiebung bedroht ist oder in sich in der Pflege körperlich ruiniert. Andere haben für so etwas Raum.
Ich sehe das als aktuell einzige Chance: die Koordination und das Schaffen von Plattformen, die den neuen Oligarchien etwas entgegen setzen. Das kann nur entstehen, wenn intermedial gedacht ästhetische Pluralität sich zeigt - und lockt.
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