Aufgewacht!
Die Demonstration/ Marcel Reich-Ranicki/Streit um Butterchicken
Ich war etwas zu spät am Marktplatz angekommen. Der Zug war schon eine gute Stunde unterwegs und ich postierte mich so, dass ich die ankommenden Menschen gut sehen konnte. Sie kamen über die breite Bahnhofstraße , bildeten dichte Reihen und liefen in Richtung Rathaus.
Ich stand und staunte, wie viele Menschen gekommen waren, um gegen die AfD zu demonstrieren. Wiesbaden ist eine ruhige Stadt. Es waren nicht die üblichen Verdächtigen der politisch besonders Aktiven, sondern viel, viel mehr. Menschen in Funktionskleidung, Büroklamotten, junge Familien, Cliquen, Kolleginnen und Kollegen. Rentner und Schüler. Es war einfach alles dabei, was eine Stadt so ausmacht. Sie haben Schilder dabei – perfekt selbst gemacht – die man sich Deutscher nicht vorstellen kann.: Müll trennen statt Menschen oder Demokratie und Toleranz statt Hass und Unvernunft. Die meisten Schilder verbanden die AfD mit Fäkalien, ganz in der Tradition Martin Luthers.
Die Botschaft der großen Demonstration ist ebenso schlicht wie ergreifend und dreht sich gar nicht groß um Weidel, Höcke und Co. Sie lautet: Nazis haben schon mal regiert und das war so, dass das in Deutschland nicht noch einmal geschehen wird.
Unter Menschen, die von der Enthüllung von Correctiv.org (Opens in a new window) nicht sonderlich überrascht waren, lösen die Demonstrationen erleichtertes Staunen aus. Aber warum gerade jetzt? Es ist, als seien hundert Jahre vorüber und aus dem Kyffhäuser reitet Kaiser Barbarossa mit seinen Getreuen. Die guten Geister Deutschlands haben lange geschlafen, nun sind sie wach.
Der Artikel wirkte wie ein Schlüssel zur Familiengeschichte. Nun wird der alte Spruch Nie wieder! ganz persönlich. Alle erinnern sich an Flucht und Vertreibung, an Gefallene und zerstörte Städte, die Geschichten, die man sich in den Familien erzählte, je einzeln, als geheime Privatsache. Die Arbeit von Correctiv hat die AfD-Truppe als Lügner enttarnt und ihr Plan kam allen erwachsenen Deutschen wohlbekannt vor. Tausende von Talkshow-Stunden haben immer nur die Benutzeroberfläche der rechtsextremen Partei aufleuchten lassen, nun wird der Sinn der ganzen Sache klar. Die Deportationen wären erst der Anfang. Jeder weiß, was dann folgt bis das ganze Land in Trümmern liegt. Der Plan dazu ist weit fortgeschritten und Menschen, die diesen Wahnsinn finanzieren, gibt es auch. Und weil Höcke und Co das nicht offen sagen möchten, lügen sie eben.
Das Bild ist eindeutig und stellt alle Wählerinnen und Wähler vor eine klare moralische Entscheidung. Niemand kann sich mehr herausreden und sagen, man habe nur gegen die da oben protestieren wollen, als man die extreme Rechte gewählt hat.
Michel de Montaigne schrieb – lange vor der parlamentarischen Demokratie – dass unser Austausch und unsere Wahrheitsfindung auf dem Vertrauen in die Wahrheit der Aussagen des anderen beruhen. Die Lüge, folgerte er, verrät die gegenseitige Verständigung und somit das Wichtigste, das wir Menschen haben.
Eine Republik beruht auf dem Austausch von Argumenten im öffentlichen Diskurs. Darum hat eine Partei, deren Programm eine Lüge ist, dort nichts verloren.
Der Zug hörte und hörte nicht auf. 15 000 Menschen haben sich an diesem Donnerstag auf den Weg gemacht, in Wiesbaden.
Am 27.Januar, dem Datum, an dem wir der Opfer des Massenmords an den europäischen Juden gedenken, erinnere ich mich an den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki . Leider ist er ein wenig vergessen, genau wie sein Weggefährte und Bewunderer Frank Schirrmacher, der Herausgeber der FAZ. Beide standen für ein engagiertes und debattenfreudiges Feuilleton. Sie gedachten, die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, auch zu nutzen. Weil sie das Feuilleton ernst nahmen, wurde es auch ernstgenommen. Heute ist das leider nicht mehr in allen Zeitungen oder Zeitschriften so.
Ich denke aber heute nicht an diese Dimension, auch nicht, die Erinnerung filtert ja gnädig aus , an ihre vielen sehr problematischen Seiten. Sondern an ihren Humor. In diesem Artikel Schirrmachers über die Verfilmung von Reich-Ranickis Buch Mein Leben blitzt er beiderseits sehr schön auf. Und auch der Film lohnt sich.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/marcel-reich-ranicki-im-film-die-quellen-seiner-leidenschaft-1626378.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3 (Opens in a new window)https://www.youtube.com/watch?v=Wz6ISQlbI4w (Opens in a new window)Die Gemeinde der Freunde des guten Huhnrezepts wurde durch diesen Artikel im Guardian alarmiert: Kampf um das Butter Chicken -Originalrezept! In Indien kann man ja die feinsten Hühnergerichte essen. Und offenbar wird die Sache dort sehr ernst genommen. Den Text des Guardian durchzieht zwar leiser Spott, aber das ist eben der Neid der nach Brexit ganz an den Rand der Welt gerutschten Briten.
https://www.theguardian.com/world/2024/jan/25/indias-courts-to-rule-on-who-invented-butter-chicken (Opens in a new window)Wer es zuhause nachmachen möchte, kann sich an dieses Rezept halten:
https://www.youtube.com/watch?v=a03U45jFxOI (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Wer diesen Newsletter gerne liest und die Arbeit daran finanziell unterstützen kann, möge es bitte hier tun: