Douze Novembre
Feiertag für eine Person/Serie über Mani Pulite/Kazim fährt durch Deutschland/Linsengericht
Mein Vater hatte einen Studienfreund, dessen Geburtsort die alte Stadt Bagdad war. Zu meinem unermüdlichen kindlichen Erstaunen wusste er aber das Datum nicht. Wahab konnte also nie Geburtstag feiern – in seinem Fall löste er es aber anders und feierte mehrmals im Jahr. Als Kind konnten ich mir das nicht vorstellen – ohne Geburtstag, das wäre, als hätte man keinen Namen. Dass es Umstände und Kulturen gibt, in denen die Obsession mit Daten nicht so ausgeprägt ist, die Zeitrechnung ganz anders läuft und die Erwachsenen vielleicht gerade anderen Huddel haben, kam mir natürlich noch nicht in den Sinn.
Geburtsort und Datum sind heute Bestandteile unserer Identität wie Name und Vorname. Wenn ich in Berlin zu Veranstaltungen oder Terminen gehe, muss ich das angeben für die BKA-Überprüfung und ich frage mich dann kurz, ob es nicht relevantere Infos abzufragen gäbe. Aber sie prägen die Erfahrung des Lebens. Wie ist es, wenn man an einem 29.Februar zur Welt kommt? Oder am 24.Dezember? Mitten in den Sommerferien?
Achtundfünfzig Mal habe ich also diesen Tag im Jahr gefeiert und, fast ein Wunder, nicht einmal war es nicht perfekt. Die herbstliche Stimmung, das sparsame Licht, in dem die Kerzen um so intensiver leuchten und dann der lange Abend – für mich ist es das ideale Geburtstagsdatum. In der Kindheit lag manchmal schon Schnee und der Tag begann, wenn die französische Verwandtschaft angereist war, in aller Frühe mit politischen Debatten. Unweigerlich wurde auch das Datum interpretiert – es hätte ja nicht viel gefehlt, da wäre das deutsch-französische Kind am Onze Novembre zur Welt gekommen, dem Tag des Waffenstillstands 1918. Die Kindergeburtstage waren damals, in der post-Achtundsechziger Zeit und im Geist von Astrid Lindgren, ausufernde Angelegenheiten ohne Teilnehmerbeschränkung. So war das in allen Familien: Der Vater eines Nachbarjungen arbeitete in einem Kaufhaus und zu Haralds Geburtstagsfeiern wurden Leinwand und Projektor aufgebaut. Dann saßen die Kinder der Straße auf Polstersesseln und folgten den Abenteuern von King Kong versus Godzilla. Die Erwachsenen stressten sich nicht mit Bespaßung oder Überwachung, sondern feierten selbst.
Im Studium gab es November Parties, die mich eher stressten und denen ich mit eigenwilligen Kalkulationen zu begegnen suchte: 1 Huhn pro Person, würde man damit auskommen? Frühester und meist auch spätester Gast war über viele Jahre mein Doktorvater Richard van Dülmen, er hatte ehrlich eine unendliche Feierenergie.
Der dreißigste Geburtstag verging im Zug, da war ich auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch bei Roger Willemsen in Hamburg. Fünf Jahre später lernte ich meine Frau kennen, seitdem wird es jedes Jahr noch besser. 40, 45 – legendäre douze novembres! 57 war wieder super. Noch besser als 56, das schon äußerst gut war. 58 begann schon mal sehr interessant – der Drucker ging zu Bruch, der Kühlschrank streikte und die Heizung fiel aus. Kenner der Wikinger-Kultur wissen: Mit solchem Schabernack grüßen die Hausgeister.
Im Feuilleton sind Geburtstage ein wichtiges Genre und ich habe zig Geburtstagsartikel geschrieben – sie sind einfach ein guter Anlass, um mal jemanden zu grüßen. Es gab in der FAZ regelmäßige, ausführliche Geburtstagskonferenzen und ein kompliziertes Regelwerk, wann runde und wann nur halbrunde Jubiläen zu einem Artikel führen. Patrick Bahners war der Zirkusdirektor in der Arena dieser Debatten und fasste sich erschüttert an die Stirn, wenn die Runde befand, der Geburtstag eines führenden schwedischen Numismatikers müsste nicht unbedingt in der Zeitung für Deutschland gewürdigt werden.
Ein mittelalterlicher Fürst konnte genauso vorkommen wie eine Schauspielerin oder ein Anglist, die allesamt kaum je ins Blatt gekommen wären– nur an ihrem Geburtstag war das möglich. Obwohl streng genommen gar nichts passiert ist, geleistet wurde und keine News zu vermelden war. Manchmal nutzte ich die Gelegenheit, um etwas zu korrigieren. Eine Literaturkritikerin, die in sämtlichen Artikeln der FAZ über sie nur geärgert worden war, las plötzlich einen freundlichen Text zu ihrem runden Geburtstag. Sie mailte noch am selben Tag und fragte, was eigentlich bei uns los sei.
Ich verstehe die Zufälligkeit, die völlige Kontingenz des Datums und lese Horoskope mit herzlichem Spott. Man kann sich mit Datumsmystik auch stressen : Isabella Rossellini schreibt in ihrer Autobiografie, dass sie jeden neuen Kalender einweiht, in dem sie die Geburtstage ihrer Lieben markiert und ihren eigenen natürlich auch, das ist der 18. Juni. Dann denkt sie, dass einer dieser Tage auch ihr Sterbedatum sein wird und begegnet so jedem Datum mit gruseligem Respekt. Scheint zu wirken, denn sie ist heute 72 und fitter denn je.
Der 12. November ist ein eingeübter Feiertag, der nur mich betrifft. Ich bin dann viel sensibler: Freue mich mehr über die vielen durchdachten und intensiv vorbereiteten Überraschungen meiner Frau und der Kinder, und bin andererseits auch heftiger irritiert, wenn irgendetwas anders ist. Dieses Mal kam ein Brief vom Finanzamt, den ich sonst nur stupide bearbeitet hätte, nun aber konnte ich ihn in der Luft schwenken und empört ausrufen Am Geburtstag! Also echt! Durch die sozialen Medien und andere Kanäle bricht die Zahl der Gratulationen alle Rekorde, ich freue mich über jedes einzelne Signal. Jedes Jahr gibt es noch eine Regel: die Freunde, die mir am nächsten stehen, melden sich kurz vor Mitternacht oder vergessen ihn ganz. So ist das aber bei mir auch – ich vergesse viele Geburtstage.
Nun werfen die kommenden Geburtstage der Familie ihre Schatten voraus, im Januar hat unsere Tochter Geburtstag, im Sommer der Sohn und meine Frau wird sechzig. Eigene Menschen, andere Persönlichkeiten, je ein anderer Geburtstag. Und dieselbe Freude, auf die Welt gekommen zu sein.
Lange vor Donald Trump gab es schon einmal einen Putin- verehrenden, strafrechtlich dubiosen und aus dem Fernsehen bekannten Entertainer an der Spitze eines großen Landes, nämlich Silvio Berlusconi in Italien. Einmal mehr erweist sich Italien als ein politisches Laboratorium, in dem schon mal probiert wird, was andere dann später übernehmen. Natürlich hat Italien aber nicht nur Berlusconi zu bieten, sondern auch einen Mario Draghi, der unsere Währung gerettet hat. Es war eben nicht, auch wenn viele Journalistenkollegen es gerne anders sehen, Wolfgang Schäuble. Der hatte aber andere Qualitäten.
Die Serie erinnert daran, auf die dialektischen Prozesse zu achten: Nirgends wird das organisierte Verbrechen so effektiv und engagiert bekämpft wie in Italien. Eine neue Serie erinnert nun an die diversen Versuche in den neunziger Jahren, Korruption und Politik wieder voneinander zu trennen. Auch dieses Italien gibt es weiter hin.
https://www.arte.tv/de/videos/RC-025752/1992-1993-1994/ (Opens in a new window)Beim Spiegel waren wir noch ferne Kollegen, doch seit vielen Jahren ist Hasnain Kazim eine autonome und kritische Stimme in der deutschen Öffentlichkeit. Nun hat er sich etwas vorgenommen, nämlich mit dem Rad durch Deutschland zu reisen und den Stand der Dinge zu notieren. Er wollte wissen, wie das nun eigentlich ist: Ist das Land gespalten wie nie, mit aufsteigenden Extremen überall? Macht jeder nur noch sein Ding? Sind die Wutbürger tonangebend?
Kazim setzt dabei auf die Kombination von Bahn und Klapprad, um nicht nur in die großen Zentren zu kommen, sondern eben auch in die bildungsbürgerliche Provinz. Er schreibt das alles mit sehr viel Humor auf und etwas Nostalgie nach den Tagen seiner Kindheit in Norddeutschland ist auch dabei. Es geht um die brisanten Fragen wie Arbeitskräftemangel, Rassismus und Energiesicherheit, aber eben anhand vieler kleiner Beobachtungen. Diese politische Ethnografie wird mit viel Charme und Sinn für Details vorgenommen, so wird die Lektüre niemals langweilig und einseitig, sondern auf angenehme Weise unvorhersehbar. Plötzlich tauchen Wolfgang Grupp und Boris Palmer auf! Der großen Wut begegnet er an zwei Orten: Im Netz und im Auto. In der analogen Welt und zu Fuß oder auf dem Rad sind die Deutschen ein Volk, das Fünfe gerade lassen kann. Und zum Schluss findet er sogar noch eine Form von versöhnlicher Leitkultur. Man beendet es voller Schwung und möchte gleich wieder von vorne anfangen!
Die symbolische Überhöhung aller gastronomischen Fragen ist ein Wesenszug der französischen Öffentlichkeit. Im Portrait von Le Monde über den Wirt Jean-Gabriel du Bueil gerät die Verwendung eines simplen Reservierungsbuches aus Papier statt App schon zum Akt des Widerstands! Doch es lohnt die Lektüre dennoch, weil es hier auch um die Dimension des Gedenkens geht – Kochen ist eine kulturelle Praxis der Weltausdeutung und ergänzt oder ersetzt religiöse Rituale. Wenn du Bueil seiner früh verstorbenen Mutter gedenkt, kocht er ein Linsengericht und vice versa.
https://www.lemonde.fr/m-styles/article/2024/11/15/le-saucisse-lentilles-la-recette-de-jean-gabriel-de-bueil_6394986_4497319.html (Opens in a new window)Kopf hoch
ihr
Nils Minkmar
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