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Die Reise nach Hanau

Umberto Eco/Patrick Modiano/Leib und Seele

Einer der vielen Vorteile, im Saarland aufzuwachsen, liegt darin, dass einen selbst die brutale Hässlichkeit einer Stadt nicht mehr schockt. Im Gegenteil, man schaut dann erst richtig hin!

Neulich habe ich meinen Sohn nach Hanau begleitet, er nahm dort an der Eignungsprüfung für die Zeichenakademie teil. Ich hatte derweil Zeit, mich umzusehen. Mein Versuch, von der Innenstadt aus zum Main zu flanieren, scheiterte kläglich. Der Fußweg führte über eine alte, gefährliche Brücke, die nur für Autos gedacht war. Bald war ich zwar am ikonischen Gebäude aus den zwanziger Jahren, an dem Mainhafen Hanau steht und das jeder Zugreisende kennt, aber von Wasser keine Spur. Ich verirrte mich aufs Schönste, wanderte, lange, leere Straßen entlang. Dann entdeckte ich eine große Siedlung, wie es sie in meiner Kindheit oft gab: Nachkriegsbauten mit beiger Fassade, vier Stockwerken und Dach, nur echt mit der Teppichstange im Hof. Da standen bestimmt 20 solcher Wohnhäuser. Die Scheiben waren zerstört oder durch Holzplatten ersetzt worden. Hier und da waren Graffiti, Spuren von Feuern. Das riesige Areal war mit einem Bauzaun abgesperrt. Ein ganzes Wohnviertel wird zum Lost Place. Warum ist das so? Statt des Mains fand ich nur Fragen.

Ich verzog mich, um etwas Ruhe zum Lesen zu finden, auf den Hauptfriedhof und fand dieses Nebeneinander zweier Gedenkmotive.

Selten sieht man so klar die Linie, die sich vom imperialen Wahn 1870/71 zum Ersten Weltkrieg ziehen lässt. Etwas weiter, in der Innenstadt bildet dann die Wallonische Kirche, die als Mahnmal im Zustand der Zerstörung nach den Bombenangriffen 1945 belassen wurde, einen weiteren Punkt der Linie des Schreckens, die der Rechtsextremismus quer über Herz und Gesicht der Stadt gezogen hat. Auch der 250 Hanauer Juden, die während der Shoah ermordet wurden, wird an ihren einstigen Wohn- und Gotteshäusern prominent gedacht.

Irgendwann steht man dann vor einem besonders aufwühlenden Ort, dem Sitz der Initiative Say their Names, gegründet im Gedenken an den rassistischen Massenmord vom 19. Februar 2020. Man kann das unermüdliche und kreative Engagement der Angehörigen, der ganzen Hanauer Zivilgesellschaft im Umgang mit dem Gedenken an dieses rechtsradikale Verbrechen nur bewundern. Auch wenn die erhoffte politische und juristische Aufklärung nur im Schneckentempo erfolgt.

Im Kontext der Stadt und ihrer, der deutschen Geschichte erscheint diese Tat noch einmal in einem anderen Licht. Auch wenn nur eine Person geschossen hat, so war es doch kein isoliertes Ereignis. Hier kündigte sich bereits die Wiederkehr jener alten Gespenster an, die heute über alle Bildschirme spuken. Wenn Elon Musk den Hitlergruß macht, Donald Trump mit militärischen Überfällen auf Nachbarstaaten droht und JD Vance die europäischen Regeln gegen Hassrede im Netz angreift, so bereiten sie wieder das Klima für rechte Gewalt. Ebenso jene Partei, die diese amerikanischen Rechtschaoten und der russische Präsident unisono empfehlen, nämlich die AFD.

In Hanau kann man sich anschauen, wohin deren Warnung vor Bevölkerungsaustausch, migrantischer Bedrohung und Überfremdung führt:

Aber man sieht auch die Zukunft. Hier sind Mieten und Kneipen noch bezahlbar. Die Cafés und Kebabläden sind voll, in den Suhsibars drängeln sich SchülerInnen, Studierende und Azubis und üben beim Splitten der Rechnung ihr Kopfrechnen. Das Hotel war laut und seltsam vernachlässigt, aber voll belegt mit Geschäftsreisenden aus Indonesien, den USA und Süddeutschland. Gute Geschäfte, Jugend und Migration hängen eben zusammen.

Eignungstest lief “jo, ganz okay.” Abfahrt mit der Linie S9, die das arme Hanau mit der EZB, der Frankfurter Börse und dem Flughafen verbindet und im schwerreichen Wiesbaden endet. Eine Benetton-Werbung (Opens in a new window)-Bahn, in der kaum zwei Menschen die gleiche Hautfarbe haben. Neben mir saß ein Kollege in Engelbert-Strauss Hose, durch und durch Hesse, auch noch Chinese und las seinen Kindle mit Schriftzeichen Mandarin.

Hanau erklärt, warum die radikalen Rechten derzeit so virulent sind, so aggressiv und gefährlich; warum sie die offene, mutikulturelle Gesellschaft hassen und mit ihrem Terror einschüchtern wollen: Sie haben verloren.

Im Kino habe ich ihn leider verpasst, aber nun ist der Dokumentarfilm über Umberto Eco und seine Bibliothek endlich online erhältlich. Richtig sympathisch konnte ich den großen Gelehrten nie finden, aber dennoch lohnt sich der Film unbedingt. Eco skizziert in einem heiteren Ton all jene Probleme, unter denen die digitale Öffentlichkeit heute leidet. Wahres Wissen stellt sich erst ein, wenn man aussortiert, filtert und vergisst, so Eco. Die dauernde Fülle an News führt notwendigerweise zu allgemeiner Ignoranz. Sehr inspirierend war auch sein Gebrauch des Mobiltelefon: Das brauche er, um erreichbar zu sein. Allerdings ist es immer ausgeschaltet. Dennoch kämen dort Anrufe und Nachrichten an, die Leute können ihn also erreichen. Nur checkt er sein Telefonino eben nie. Das sei auch völlig unnötig. Nur auf das Prinzip kommt es an, den guten Willen. Die Nachrichten selbst könne man alle unbesehen löschen.

Für ihn war die Lektüre das bessere, lebendigere Leben. Nur wer liest, lebt wirklich, dachte er: ”Es gibt nicht viele lebendige Menschen auf der Welt.”

https://www.amazon.de/Umberto-Eco-Eine-Bibliothek-Welt/dp/B0DC2XM7G8/ref=tmm_aiv_swatch_0 (Opens in a new window)

Das Café Le Raspail an der Ecke des gleichnamigen Boulevards und der Rue du Cherche-Midi gibt es schon viele Jahrzehnte. Es ist ein Lokal ohne Gedächtnis: früher Studentenkneipe, heute Touristenfalle und Nachbarschaftskantine abwechselnd, je nach Uhrzeit und Datum. Dort sitzen sich zwei Männer in den besten Jahren gegenüber. Seltsamerweise ist der Laden völlig leer. Sie sind spontan hier hinein geweht. Der Erzähler hat in dem anderen Mann, der unschuldig an der Ampel herum stand, einen gewissen Serge Versini erkannt. Doch der leugnet. Nie gehört. Nun soll die Frage bei einer Grenadine geklärt werden. Erschwert wird die Position des Passanten durch seinen Siegelring . So einen trug auch Serge immer, Initialen: SV. In Szenen, Fragmenten und Erinnerungen an Träume rekonstruiert Patrick Modiano in seinem nun auf Deutsch erscheinenden Roman Die Tänzerin das geheimnisvolle Paris seiner Jugend. War auch die Liebe nur geträumt?

Wirkt augenblicklich und nachhaltig erhebend, wie eine Meditation!

Die Welt steht Kopf – das ist nicht unbedingt eine heiße News, sondern ein beständiges Motiv seit Beginn aller Aufzeichnungen. Zugegeben, dieser Tage haben wir dafür besonders viele Belege. Aber schon früher versuchten Leute, sich einen Reim zu machen und nicht unterkriegen zu lassen - siehe das berühmte, anonyme Gedicht aus dem Mittelalter:

Ich leb und ich waiß nit, wie lang
Ich stirb und waiß nit wann
Ich far und waiß nit, wahin
Mich wundert, daß ich froelich bin.

Auch in verrückten Zeiten hält ein gutes Essen Leib und Seele zusammen und ich empfehle ein klassisches Sonntagshuhn:

https://www.brut.media/fr/videos/culture-lifestyle/cuisine-recettes/le-poulet-roti-dalexandre-giesbert (Opens in a new window)

Wer kein Fleisch isst, kann es auch mit der Empfehlung von Le Monde in dieser Woche versuchen, einer frühlingshaften Interpretation des Studentenküchen-Klassikers:

https://www.lemonde.fr/les-recettes-du-monde/article/2025/02/28/les-lasagnes-aux-epinards-et-petits-pois-la-recette-de-lisa-gachet_6569256_5324493.html (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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