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Eine chronische Krankheit

Hamburg, Holstenkamp 76/78, Abriss 2020 (Bild: Martina Schrei)

Den Ruf der "Freien und Abrissstadt" wird Hamburg angesichts fortlaufender Verluste von Bauten jeglicher Epochen mühelos gerecht: Kaum noch zählbare  Wohnhäuser der Gründerzeit sind in den vergangenenen Jahren verschwunden. Praktisch jede nicht denkmalgeschützte Villa mit großem Grundstück wird zuverlässig von Investoren geschnappt, plattgemacht und durch eine gewinnträchtige Wohnanlage "im Bauhaus-Stil" ersetzt - derweil etwa das 1929 errichtete Deutschlandhaus am Gänsemarkt einem (immerhin ähnlichen) Neubau Platz gemacht hat. Und der Umgang mit der Architektur nach 1945 müsste eigentlich Heulen und Zähneklappern auslösen. Hier fällt alles, was nicht mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, dem Markt - sprich: der Spitzhacke - zum Opfer. Der  City-Hof von Rudolf Klophaus (1956-58), Bernhard Hermkes’ Allianz-Haus (1971), das Postamt 60 von Ingeborg und Friedrich Spengelin (1974) und das HEW-Berufsbildungszentrum (1986-90) von Gerkan, Marg und Partner sind nur einige Beispiele. Demnächst folgt das Commerzbank-Hochhaus von Godber Nissen (1964), und noch immer nicht vom Tisch ist der Abriss des Restarants See-Terrassen ( Ferdinand Streb, 1953). Die kultige Fischgaststätte auf der Veddel (1932/46), die niemandem wirklich im Weg steht, soll ebenso verschwinden wie die weltberühmte Köhlbrandbrücke (1974, Paul Boué/Egon Jux).

Hamburg, Fischgaststätte auf der Veddel (Bild: Christian Butzke)

Angesichts der fortlaufenden Abrisse mag man kaum glauben, dass in Hamburg überhaupt noch bedeutende historische Bauwerke stehen, erst recht solche aus den Jahren 1945-1975. Das Denkmalamt ist freilich nicht untätig, sondern hat eher alle Hände damit zu tun, das Schlimmste zu verhindern. Dazu gehört auch, sich bei der nächsten Gebäudegeneration umzusehen, die den Heuschrecken - pardon, Investoren - zum Opfer zu fallen droht: In den vergangenen Jahren wurden die Bauten der Jahre 1975 bis 1995 gesichtet und 19 Stück unter Denkmalschutz gestellt, weitere werden wohl folgen. Nicht wenige hat man damit (zumindest vorerst) vor der Abrissbirne gerettet, denn natürlich sind gewinnträchtige Neubauplanungen für Objekte in Bestlagen schon Jahre, bevor die Öffentlichkeit davon irgendetwas erfährt, im Gange. Das mittlerweile geschützte Hanseviertel (Volkwin Marg, 1980) war lange Abrisskandidat.

Hamburg, Hanseviertel (Bild: Uwe Rohwedder, CC BY-SA 4.0)

Das Problem Hamburgs mag eher der hohe Veränderungsdruck sein als eine schläfrige Politik, erst recht nicht eine gleichgültige Bevölkerung: Es gibt etliche Bürgerinitativen gegen drohende Abrisse, den Denkmalverein Hamburg, und der bisweilen tatkräftige Widerstand von linksaußen hat Refugien wie die Hafenstraße und die Rote Flora gerettet. Man kann den Turbokapitalismus zwar nicht aufhalten, aber gelegentlich kleine Siege gegen ihn zu erringen, stimmt hoffnungsvoll. Auch, wenn ein Mogul wie René Benko gerade mal wieder in Hamburg zugeschlagen hat und in den kommenden Monaten die Gänsemarkt-Passage (1980) abreißen lässt - zugunsten eines Shopping-Neubaus, den wir gewiss alle sehr dringend brauchen. Sicher wird derzeit mehr abgerissen denn je, doch das ist kein Hamburg-eigenes Problem, sondern hat Deutschland schon seit Jahren im Griff. Das Bonmot der "Freien und Abrisstadt" wird ja schließlich auch Alfred Lichtwark zugeschrieben. Der Museumspädagoge und ehemalige Direktor der Hamburger  Kunsthalle ist 1914 verstorben. Mithin hat man schon vor über 100 Jahren die grassierende Abreißeritis als Missstand empfunden. Sie ist offenbar eine chronische Krankheit, die es dauerhaft im Auge zu behalten gilt.

Daniel Bartetzko, 4. April 2022

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