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Die Tatsachen sind kaputt

Die Landschaft zieht schneller vorbei, als die Zugbegleiterin das Ticket kontrollieren kann. Eine Verspätung wird angesagt. Dann ein kurzes Flackern der Beleuchtung, ein Knacken in den Lautsprechern. „Sehr geehrte Fahrgäste, auf Wunsch der Umstände ist es derzeit etwas holprig. Wir bitten um Verzeihung und hoffen, das Problem schnell in den Griff zu bekommen.“ Verwundert schaue ich zur Dame schräg gegenüber. Hat sie gerade das gleiche gehört wie ich? Sie zuckt mit den Schultern, und aus ihrem Gesicht fällt ein gequältes Lächeln: „Die Tatsachen sind kaputt, kann man nichts machen.“

Ich schaue aus dem Fenster. Irgendwo da draußen in der Wirklichkeit sucht die Vernunft nach Verbündeten. Ich wünsche ihr Glück, stehe auf, gehe durch die holprigen Umstände zum WC. Besetzt. Warten. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden, in den ich versinke, und manches, das man hofft, ist ein Irrtum. Als ich wieder zu mir komme, liege ich zwischen den Gleisen. Der Himmel scheint noch an seinem Platz zu sein. Meiner im Zug ist jetzt wohl offensichtlich frei geworden. Der Kopf schmerzt, und die seelische Konstitution ist gelegentlich in Konflikt mit ihrer härteren Umwelt. Dann schiebt sich etwas ins Blickfeld. Die Zugbegleiterin reicht mir ihre Hand und will mir aufhelfen. „Aber der Zug!?“, stammele ich. Sie schüttelt den Kopf. „Lassen Sie uns noch menschenfreundlicher denken“, sagt sie, hilft mir auf, und während sie mich wieder zu Platz 68 führt, Vierer-Insel mit Tisch, applaudieren alle Reisenden, denn soeben kam die Durchsage, dass die Umstände entholpert wurden. Ich setze mich hin und versuche mich zu erinnern, wie man klarkommt. Sobald man sich die Welt aneignet, erdrückt sie einen, und jedes Selbst hält sich nur mühevoll zusammen.

Hier die Textverdunkelungen der letzten Tage. Sie können gar nicht bunt genug sein. (Und weil ich neulich gefragt wurde, ob ich das Buch dazu nennen kann, aus dem die Seiten sind: na klar. Jost Nolte, Schädliche Neigungen, Fischer Verlag, 1978)

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