Anmerkung des Chefredakteurs: Juten Morjen, die Zahlen sehen hervorajend aus. 906 Newsletter-Abonennten. Bei unter 100 hätte man sich ja keene Mühe jeben müssen. Aber Menschenskinder, 900plus ist nen Hochhaus von Newsletter. Mit der zweiten Ausjabe müssen wir deswegen mit dem Fahrstuhl hoch. Ein zeitkritscher Weitblick! Und vielleicht was mit Drogen. Judith, wir brauchen jetzt Themen, die den Lesern uff der Kopfhaut brennen. Wir brauchen Kontroverse! Hier, der verrückte Rapper ausm Amiland. Kanye West. Die Doku da. Ach und die Idee mit den Briefzitaten jefällt mir. Aber bloß nicht zu viele Kitschrubriken! Ortheil ist jenehmigt.
Grüße, Dr. Alfred Kaplinsky
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Aus dem Logbuch
7. bis 11. März
7. Ein wenig sind wir angeschlagen und S. schrieb, dass C. sich positiv auf Corona getestet hat. Freitagabend saßen wir nah zusammen, auweija. Ich hoffe, wir haben nicht Corona, sondern nur eine Grippe. Tests sind negativ.
8. Ganzen Tag zu Hause. Tests immer noch negativ, aber es ging mir schon wirklich sehr schlecht. Kopf vor allem, Schnupfen, Husten. Jonas leicht Fieber, aber fit. Hat mir erlaubt, die Legosteine im Liegen zu bauen. Mutterliebe bewegte den Arm zum bunten Plastikturm. Zu mehr bin ich heute nicht in der Lage zu schreiben.
9. Positiv. Dann ist es jetzt wohl soweit. Wir haben Corona. Das erste, was ich gedacht habe: ich muss eigentlich runter in den Keller. Als nächstes habe ich nachgeschaut, wie viele Päckchen Heets noch da sind. Texterschicht nur mit halbem Hirn. Mein tapferer Junge mit Dinozug und Wachsmalstiften.
10. Gestern Abend noch einen Heroin-Moment gehabt. Fieberwahn. Hätte mir einer Heroin hingehalten, ich hätte es genommen. Nach Heroin kommt nichts mehr, ist einfach die Endstation. Ich war so fertig und kaputt, ich hätte es gemacht, weil jetzt ist eh alles egal. (Meinen letzten Heroin-Moment hatte ich bei der Geburt.)
Burghard hat vormittags Essen für uns eingekauft und vor die Tür gestellt. Mit Kartoffelauflauf. Peter wollte die Reise abbrechen, aber ich erklärte, wir kämen hier schon klar. So ganz sicher war ich mir nicht. 300 km südlich von uns. Den kleinen A. hat es auch erwischt.
Dritten Teil der Kanye-West-Doku gesehen.
11. Läuse. LÄUSE! Schlagartig fiel mir der Läuse-Alarm von letzter Woche in der Kita-Whatsapp-Gruppe wieder ein, als ich eine bei Jonas entdeckte. Sofort den ganzen Kopf untersucht. Laut Scheiße geschrien. Mein Kopf auch. Weiter geschrien. Anschließend auf Norman mit dem Läusemittel gewartet. Mich immer noch nicht wegen der Nachbarn getraut, die Wohnung zu verlassen und die Kiste mit Zeug in den Keller zu bringen.
NOTIZ
Was in den Keller kommt: Dinge, die man nicht braucht, aber gut, wenn es sie noch irgendwo gibt.
Netflix-Dokumenation
"Jeen-Yuhs: A Kanye Triology"
Der Rapper mit der Zahnspange
Was ist das eigentlich für ein Typ fragt man sich. Ich mache das jedenfalls ständig. So wie ich auch ständig Musik von Kanye West höre. Dem Rapper, den alle verrückt nennen, ist ziemlich egal, dass ihn alle verrückt nennen, aber findet, wenn sie ihn schon irgendwie nennen wollen, dann doch bitte Ye. Was ist das bloß für ein Typ? Den Versuch einer Antwort gibt sein Freund Clarence "Coodie" Simmons jr. Für seine dreiteilige Dokumentation hängt er Anfang der Nullerjahre seine Karriere als Stand Up Comedian an den Nagel, um -und das muss man mal wirklich fließen lassen, seinen Freund Kanye mit der Kamera zum Kieferothopäden zu begleiten. Ye ist zu diesem Zeitpunkt schon bekannt in der kommerziellen Rapszene. Er ist aber noch derjenige, der für andere die Beats macht, keiner von denen nimmt ihn als Rapper ernst. Da sitzt Ye also mit Zahnspange beim Kieferorthopäden und summt tapfer Through the Wire (Opens in a new window) durch den Mund mit einem dreifach gebrochenen Kiefer. Ein Autounfall. "Thank god I ain`t to cool for that seat belt" ist eine Zeile in diesem großartigen Song, der da noch nur in seinem Kopf ist. Ye hat eine Vision von sich. Er will der erfolgreichste Rapper der Welt werden. Eine Vision, die seine Mutter auf rührende Weise mit ihm teilt. In einer Szene besuchen sie Mama West spät abends zu Hause. Ihr Kühlschrank ist leer, ihre Augen sind müde, aber sie spürt sofort was den Sohn gerade umhertreibt. Sie versucht ihn aufzubauen, als er ihr nervös von einem bevorstehenden MTV-Interview erzählt.
"Kannst du es glauben?", fragte er sie.
Mama West sagt: "Ich kann es glauben, so wie du bist. Du machst Tracks wie Michael Jordan Dreier wirft."
Das ist alles so unfassbar schön festgehalten und erzählt und man will gar nicht wahr haben, dass genau dieser liebenswürdige Künstler mit der liebenswürdigen Mutter und den liebenswürdigen Freunden heute all diese fragwürdigen, hässlichen Sachen von sich gibt.
Der Tod von Donda West 2007 verändert Ye und auch die Doku. Coodie macht aus Respekt seines Freundes gegenüber mehr als einmal die Kamera aus, die ihn in seiner bipolaren Störung zeigen. Irgendwo da fängt es an für Ye schiefzugehen. Anmerkung des Chefredakteurs: Und Erfolg macht Leute auch nicht besser. Kommt noch nen zusammenfassender Schlusssatz? AK Was für eine Riesendoku, die das alles mit einer Handkamera 20 Jahre lang begleitet hat.
Briefzitat
„Ich mach‘ mir letzten Endes verflucht wenig draus, kleine Sachen zu schreiben. Ich fange nun mal erst an, meine Menschen … von der 40. Seite an zu lieben. Und erst ab der 100. Seite kann ich mich richtig mit ihnen verständigen und an ihrem fremden Leben restlos teilnehmen. So geht's mir ja auch im normalen Leben.“
Irmgard Keun an Arnold Strauss, 1934
Anmerkung der Redaktion: Es empfiehlt sich an dieser Stelle, eine kleine Pause vor dem Weiterlesen zu machen. Den Kaffee aufbrühen, mal raus aus dem Fenster schauen, was das Wetter heute sagt. In Berlin sollen es 7 Grad und Wolken geben. In Hamburg ebenfalls 7 Grad, aber Sonne. In München fällt Schnee bei einem Grad. Sollten Sie das Haus verlassen und entlang eines Flusses oder Kanals laufen, versperrt Ihnen hoffentlich nichts die Sicht aufs Wasser. Die Städte sind voll mit Baugerüsten, die machen auch längst vor Ufern keinen Halt mehr. Lesern und Leserinnen vom Land wünschen wir ausnahmslos nur zufällige Begegenungen, bei denen man sich was zu sagen hat.
Kunst und Literatur
Das Kind, das schreibt
Hanns-Josef Ortheils "Der Stift und das Papier"
Eigentlich bin ich noch mittendrin, aber es soll mich nicht aufhalten, wer weiß, was morgen in der Welt schon wieder los ist.
Ein Kind, das nicht spricht, lernt schreiben und kommt so zu Worten. Ortheil geht durch eine besondere Schule. Seine Eltern nennen es die "Schreibschule". Mit Buntstiften werden erst Wolken gemalt und später Wörter und noch später Sätze aus Gedankenfetzen aufgeschrieben. Der alte Ortheil sitzt in einer Waldhütte und erinnert die Stunden mit seinem Vater am Tisch. Im Hintergrund lief stets klassische Musik. Man muss schon ein großer Erzähler sein, wenn man es wagt (ich würde es mich wirklich niemals trauen), über Seiten nur Papier und Stifte zu beschreiben. Buntstifte etwa, die wie eine Mannschaft in der Reihe liegen. Es gibt sogar Bleistifte, die bei dem Jungen besser ankommen als andere. Und der Vater mag in Sachen Papier ausschneiden Quadrate lieber als Rechtecke.
"Papa sagt, ich werde bald richtig staunen. Ich frage, worüber. Da sagt Papa: Über dich selbst."
Ein Fazit über das gesamte Buch kann ich jetzt natürlich nicht geben, weil mir ja das Ende fehlt, aber so viel kann ich mit Sicherheit sagen: der Anfang dieses Buches ist sagenhaft schön!
Marylin Monroe liest
Foto: Eve Arnold
Anmerkung des Chefredakteurs: Nicht so viele Kitschrubriken! AK
Das war die zweite Ausgabe meines Newsletters. Im Laufe der Zeit werden wir den Chefredakteur Dr. Alfred Kaplinsky noch etwas besser kennenlernen. Leserbriefe sind absolut willkommen. Empfehlt gerne meinen Newsletter weiter. Dann läge ein Misserfolg am Ende an mir und nicht an euch.
Mit den besten Grüßen und Wünschen
eure Judith Poznan