Ich schreie, also bin ich (Essay)
Die Welt bricht um – und das tut weh. Wir müssen lernen, gesellschaftliche Unsicherheit auszuhalten. Und die Chancen erkennen, die darin liegen. Ein Essay.
Anfang des 20. Jahrhunderts war man der festen Überzeugung, man könne Säuglinge und Kinder durch zu viel Zuwendung verhätscheln und sie in ihrer Autonomie korrumpieren. Stark müssten Kinder werden, sich behaupten gegen die Welt. Babys ruhig mal schreien lassen, hieß also ein Motto der Kindererziehung, das bis spät ins 20. Jahrhundert überlebte. Der Säugling schreit gegen die Unsicherheit an, bis er sie überwunden hat. Der Urschrei als Bestandteil der Ich-Werdung.
Anschließend zeigte die Bindungsforschung immer deutlicher: Das ist ein Irrtum. Gerade die kleinsten Menschen benötigen die Bindung zu ihren Eltern, ein sicheres Seil zur Wirklichkeit. John Bowlby, Mary Ainsworth und weitere Pioniere der Entwicklungspsychologie fanden heraus, wie wichtig es ist: das Wissen, dass jemand kommt, wenn ich schreie. Was der Säugling andernfalls akzeptieren lernt, ist nicht, die Welt zu bezwingen – es ist die Resignation.
Doch wer soll kommen, wenn die ganze Gesellschaft schreit?
Wir leben in unsicheren Zeiten. Ukraine gegen den Angriffskrieg Russlands, Israel gegen den Terrorismus der Hamas (Opens in a new window). In den USA zerfleischen sich abermals Demokraten und Republikaner und einer, der den Rechtsstaat mit einem lapidaren "Witch hunt!" verspottet, hat durchaus wieder Chancen auf die Präsidentschaft. Die Schweiz wählt rechts (Opens in a new window), Italien hat seit einem Jahr Meloni und in Deutschland feiert die AfD einen Umfragerekord nach dem nächsten. Und die Klimakrise lässt sich nicht abwenden, indem man die Weltzeituhr oder das Brandenburger Tor orange einfärbt. Ich weiß, dass ich nicht weiß, wie es weitergeht – so ließe sich die allgemeine Stimmung sokratisch formulieren. Ratlosigkeit allerorten. Der Ausgang unklar. Die Welt bricht um. Und Umbrüche tun weh.
Selbstverständlich lässt sich die entwicklungspsychologische Bindungstheorie (Opens in a new window) nicht eins zu eins auf Gemeinschaften übertragen. Ein Kollektiv ist kein Kind. Eine Gesellschaft, bei aller Infantilität, kein hilfloser Säugling. Nichtsdestoweniger haben wir ein kollektives Sicherheitsbedürfnis. Einen gemeinsamen Wunsch, dass alles gut wird – oder zumindest okay. Das Bedürfnis, gebunden zu sein; als Wir und ans Wir.
Wir müssen gesellschaftliche Unsicherheit aushalten lernen. Sie als das begreifen, was sie ist. Nicht bloße Bedrohung, sondern Gestaltungsspielraum. Gemeinsamer Gestaltungsspielraum. Nicht nur die unklaren Verhältnisse sind also das Problem der heutigen Zeit, sondern unser pessimistischer Blick auf diese.
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