Thalaris Almanach - Buch 1: Oylien
Teil 23 - Schmerzhaftes Wiedersehen
Stöhnend rieb sich Meleya den Kopf. Ihr war, als hätte eine Donnerfaust ihr eine Ladung gegen ihre Schläfe gefeuert. So ähnlich fühlte es sich zumindest an. Abgesehen von dem Kribbeln am ganzen Körper und dem merkwürdigen Druck an Armen und Beinen ging es ihr gut. Sie versuchte, etwas Elementum in sich zu kontrollieren und zu den schmerzenden Stellen zu leiten, doch es gelang nicht sofort. Was von einem Schnauben aus der Ecke quittiert wurde. Sie richtete sich auf, ein übles Stechen in ihrem Kopf war die Antwort. „Bei Thalys, das war ein Schlag!“, stöhnte sie und hielt still.
„Du hättest nich’ herkommen solln’, Meleya Vorkas!“, erklang es jetzt aus der Zimmerecke. Eine monströse Gestalt schälte sich aus dem Dunkel. Bedeckt mit einem grauen Umhang, einem Lederharnisch und Batillyium-Armschienen, sah die Gestalt aus, wie ein Söldner. Unterstrichen wurde dieser Eindruck von den beiden Doppelkling-Äxten, die hinter dem Rücken aufragten. Die spezielle Art, wie ihr Besucher diese trug, verriet Meleya mehr, als der fellbedeckte Körper. Das Muskelspiel der Arme und Beine zeugten von unglaublicher Kraft und Geschicklichkeit.
„Ein Nakk’fen? Was macht einer wie du denn hier?“, fragte Meleya vorsichtig. Die wolfsähnliche Gestalt trat geschmeidig ins Mondlicht und Meleya musste sich korrigieren. „Nein!“, hauchte sie. „Nicht du! Das ist nicht möglich!“. Die Gestalt lachte bellend. „Unter Thalys weitem blauem Himmel is’ so ziemlich alles möglich, nich’ wahr, Meleya?“ Der Blick war stahlhart und brannte sich förmlich in Meleyas Kopf, rief Erinnerungen wach und warf sie unzählige Zyklen zurück.
„Meleya, komm schon, es ist vorbei!“, schrie Robarn gegen die prasselnden Flammen an. Meleya stand mit rußgeschwärztem Gesicht vor Barhom und starrte in das Feuer. Krachend barsten Dächer, Holz zersplitterte unter der Last der schweren Mauern, nur von einzelnen Säulen aus Fineiche gehalten. Es roch nach verbranntem Fleisch. Tränen rannen über ihr Gesicht, hinterließen helle Spuren im Schwarz der Asche. Dicke Flocken stoben durch den warmen Aufwind, den das Feuer erzeugte. „Komm, Meleya. Bitte!“ Robarn zog an ihrer Schulter. Sich aus ihrer Trance lösend, fuhr sie herum, da sah sie ihn. Er stand am Waldrand. Trauer verwandelte sich in rasende Wut. Ihre Hand flog zu ihrem Schwert, zog es heraus. Doch dann legte sich eine Hand sanft auf ihren Unterarm.
„Lass gut sein, Meleya. Diese Stadt ist verloren. Er ist verloren. Egal, was du jetzt tust. Nutze deine Wut für das, was kommt. Wir werden ihn wieder sehen. Und dann bezahlt er.“ Luiana sprach ruhig, aber bestimmt. Die Elementumbeschwörerin gehörte zu den Gestrandeten, jene, die nach Ruphart ankamen. Sie hatte nichts mit den Ereboshi gemein, die Meleya kannte. Luiana war zielstrebig, willensstark und hatte einen ehernen Kodex, nach welchem sie handelte. Niemals ließ sie sich zu Ungerechtigkeiten herab oder setzte sich über andere. Das machte sie für Meleya wertvoll. Doch in diesem Augenblick verspürte sie den Drang, den Arm ihrer Freundin wegzuschlagen und diesem Ungeheuer hinterherzulaufen. Ihn zu töten und sein Innerstes auf den brennenden Straßen von Barhom zu verteilen.
Robarn schob sich in ihr Blickfeld. Der Dieb, der anfangs nicht nur lästig war, sondern sie beinahe umgebracht hätte, war inzwischen ihre rechte Hand. Seine verschiedenfarbigen Augen blickten sie ernst an. „Meleya, wenn wir hier weiter herumstehen, erreicht der Fürst doch noch, was er will. Einmal konntet ihr ihn aufhalten. Ich bin mir nicht sicher, ob es uns diesmal gelingt. Nicht, wenn wir hier trödeln. Außerdem habe ich Hunger und könnte einen ordentlichen Tukkschweinspieß vertragen“, schloss er seine Rede schmunzelnd. Meleya sah erneut zum Waldrand, doch Rraksh war verschwunden. Sie seufzte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nickte ihren beiden Freunden zu. Gemeinsam marschierten sie den Abhang zum Strand hinab. Die „Meri“ wartete.
„Ich seh’, du erinnerst dich. Gut so. Wie is’ das, mit dem Wissen zu leben, so viele Leute umgebracht zu haben?“, knurrte Rraksh und trat näher. Als er vor ihr stand, erkannte sie sein gebrochenes, wütendes Wesen. Die Lederrüstung war geflickt und abgewetzt. Der Umhang hatte mehr Löcher als der Hügel von helynischen Zangenameisen und sein Fell war struppig. Narben zogen sich über Oberarme und Gesicht.
„Du hast auch schon besser ausgesehen!“, überging Meleya seine Frage. Die Wut kochte in ihr. Sie hatte versucht, die Leute zu retten, bevor diese elenden Korrumpierten kamen. Hybride, die vom Fürsten und seinen Lakaien manipuliert worden waren. Doch Rraksh hielt es für wichtiger, die Wyldlinge aus der Stadt zu schleusen. Die R’shar sahen sich mit den Wyldlingen verbunden, waren es jedoch nicht. Sie bluteten verschieden, wie man sagte.
Bevor Rraksh etwas erwidern konnte, erklang ein Schnattern. Da Meleya nach wie vor gefesselt war, konnte sie sich nicht umschauen. Doch das Geräusch watschelnder Schritte kannte sie und als die kleine Gestalt in ihr Blickfeld trat, fiel ihr die Kinnlade herab. „Nim?“
Die Grnarkfrau gackerte leise und gluckste erfreut, wandte sich dann dem Wolfswesen hinter ihr zu. Es entbrannte eine Diskussion auf [Grnarka]. Verwundert beobachtete Meleya den R’shar, wie er problemlos die Sprache der kleinen Wesen aus den Tiefen der großen Steinwüste artikulierte, das war ihr nie gelungen. Rrshak warf ihr einen wütenden Blick zu und verschwand. Die Grnarkfrau wandte sich anschließend ihr zu.
„Nicht Nim. Nim sehr weit bei Kro und Nari. Ich Nia“. Meleya senkte den Kopf. Wie lange war sie weg gewesen? „Was ist passiert?“, wollte sie wissen. „Du lange verschwunden. Manche sagen, Schlaf. Großer Schlaf. Andere sagen, du weit gegangen. Nim überzeugt, du bald wieder da. Rraksh und Nia wandern. Suchen Tix. Sehen Frau in Grasebene. Bevor Nia sagen „Halt!“, Wolfmann rennen los. Schlagen bewusstlos!“
Sie trat näher, zückte ein kleines Messer und durchschnitt die Seile, die Meleya an Armen und Beinen auf die flache Liege gedrückt hielten. Meleya rieb sich die wunden Stellen und ließ Elementum durch ihren Körper fließen. Endlich gelang es ihr. Ein warmes Kribbeln heilte die betroffenen Regionen. Sie war nicht zimperlich und wusste, dass sie mit ihren Kräften haushalten musste. Doch nach dieser Art emotionalen Momenten, Wut und Erleichterung gepaart mit Freude, fühlte es sich gut an. „Du noch nutzen Kraft?“, fragte Nia, die das verkniffene Gesicht, welches unweigerlich mit der Elementumkontrolle verknüpft war, gesehen hatte. Meleya nickte. „Das, was noch da ist, ja.“
Die Mechanik hatte nach der Fügung erneut ausgesetzt. Meleya hatte diesen Prozess zwei Mal erlebt. Damals mit Ruphart und später als Thelania auftauchte. Beide Male war sie mit geringen Verlusten wieder herausgekommen. Besser als alle anderen, die teilweise sogar mit Gedächtnisverlust und kompletten Neustarts ihrer Fähigkeiten klarkommen mussten. Welches Privileg sich dahinter verbarg, erschloss sich ihr nie. Und nicht, ob ihre Erinnerungslücken doch damit zusammenhingen.
„Komm. Ich dir zeigen. Wichtig. Schlimme Dinge passieren. Bald neues Kräfte da. Kro und Nari zeigen“, bat Nia und watschelte davon. Meleya erhob sich stöhnend und folgte der kleinen Grnark. Unterwegs klaubte sie sowohl ihre Tasche, als auch den Almanach auf und fand sogar ihre Dolche. „Wohin gehen wir? Und überhaupt: Wo sind wir?“, verlangte sie zu wissen. Ihr wurde diese ganze Sache allmählich suspekt. Erst dieser R’shar, der sie am liebsten tot sähe. Und dann eine Grnarkfrau, die ihrer alten Freundin zum Verwechseln ähnlich sah. Ignorierte man die beiden weißen Fellstrichen an den Seiten.
„Gehen zu Thalys letztem Tempel. Wo ruht alter Freund!“, erwiderte Nia trocken. „Nein“, hauchte Meleya. „Ruht? Wer?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Rettete dich in Schlacht von An-Geddan.“, gab Nia lapidar zurück und watschelte weiter.
Bilder schossen in Meleyas Kopf, hervorgeholt aus tief verschütteten oder gewaltsam verdrängten Erinnerungen. Eine Träne rann ihr über die Wange und Schluchzen wollte ihrer Kehle entfliehen. Doch sie riss sich zusammen und folgte Nia.
Gewissheit war etwas Wundervolles. Aber auch schmerzhaft. Der Stich, den sie bei diesen Worten verspürte, wuchs zu einem schneidenden Gefühl in ihrem Herzen. Doch sie fühlte, dass Großes auf sie zukam. Etwas, was den Taten ihrer Freunde entweder Rechtfertigung verleihen würde, oder sie nichtig erscheinen ließ.