Thalaris Almanach - Buch 1: Oylien
Teil 19 - Weitermachen?
Ich hockte in meiner VR-Kapsel, die Klappe offen und starrte vor mich hin. Das Gespräch mit Hiroki war inzwischen drei Tage her. Nach meiner Übelkeitsattacke war ich zu den anderen gegangen und hatte alles erzählt. Anschließend wollte ich nur noch nach Hause. Ich ignorierte alles, nahm weder Anrufe entgegen noch reagiert ich auf Tamara, die besorgt vor der Tür gestanden hatte. Dann rief Sean an.
Nachdem wir uns im Labor getroffen hatten, einen heißen Kaffee aufbrühten, hockten wir beide eine Zeit lang da. Ich in der Kapsel, Sean hinter einem der Serverschränke an der Rückwand des Labors. Ich konnte seinen schwarzen Haarschopf sehen, er hervorlugte. Er war die ganze Zeit im Labor geblieben, hatte sogar hier übernachtet. Dann übermannte die ihn die Einsamkeit und er rief ausgerechnet mich an. Vermutlich hatten die anderen ihn angestachelt. Ohne mich würde es keinen weiteren Testlauf geben, dachte ich mir. Was bedeutete, dass sie weitermachen wollten.
Die Tür öffnete sich und Tamara trat ein, dicht gefolgt von Wilma und Anne. Alle drei entledigten sich ihre Kleidung und nahmen Platz. Wilma und Anne nicht bevor sie beide einen Kaffee in der Hand hielt. Das Paar war noch süchtiger als ich, bemerkte ich schmunzelnd. Tamara öffnete gerade den Mund, als die Tür aufging und eine kleine Gestalt hereinschlüpfte: Cui. Der Wirbelwind, der seinem Namen alle Ehre machte, kracht Jacke und Tasche auf den Tisch, stemmte die Arme in die Seiten und blitzte uns der Reihe nach mit ihren smaragdgrünen Augen an.
„Und jetzt? Wollen wir aufgegeben oder was? Mag sein, dass Hiroki Scheiße gebaut hat. Mag sein, dass er unser aller Vertrauen missbraucht hat, dass er Entscheidungen als Chef dieses Unternehmens getroffen hat, das kann von euch keiner anzweifeln. An uns vorbei, das war Mist, aber sein gutes Recht. Findet ihr nicht? Wollen wir also hier sitzen und Trübsal blassen?“
Die letzten Worte warf sie mit einem Blick auf mich in die Runde. Ich konnte ihren bohrenden Blick nur schwer standhalten. Bevor ich es mich versah, stand sie vor mir. Cui wagte es nicht, mich zu berühren, sie wusste, dass ich das hasste, stattdessen zog sie einen Stuhl heran, nahm vor mir Platz und zwang mich, sie anzusehen.
„Was meinst du? ARTOS und dieses Spiel, das sind deine Babys. Du hast die Ideen gehabt, du hast das Team zusammengestellt, mit Tamara an deiner Seite. Du hast uns ausgewählt, Rupert. Nicht Hiroki, du!“ Ihre Stimme wurde sanfter. „Du beabsichtigst nicht aufzugeben, nur weil dein Boss eben Boss-Sachen macht. Oder?“ Ich schüttelte zaghaft den Kopf. „Also steckst du nicht den Kopf in den Boden?“ „Das heißt Kopf in den Sand“, mischte Sean sich ein. Er lugte über den Tisch, hinter dem er am Server kniete und grinste schelmisch. Cui winkte ab.
„Ich werde weitermachen. Wir bringen das Ding auf den Markt. Und zwar wie geplant. Du weißt, dass wir keinen Wettkampf machen wollten. Unsere Bedingungen, unser Tempo. Wir haben hier etwas Gutes!“, erwiderte ich und sah nun in die Runde, zuletzt du Cui. Die schnaubte kurz. „Das ist alles ehrenvoll, Rupert, aber du weißt selbst, dass wir im Kapitalismus leben. Dort werden jene gefressen, die langsam sind. Hiroki hat dir erzählt was Sache ist, oder? Dass Santiago und der Komplex dicht an uns dran sind? Das müssen wir verhindern. Es steckt zu viel Geld in allem. Das wisst ihr.“
Sie sah in die Runde und die anderen nickten. „Also?“, fragte Anne. „Wie soll es weitergehen? Der Testlauf ist nicht abgeschlossen. Traust du dir zu, abermals ein paar Tage da hineinzugehen?“ Ich nickte. Meine Begeisterung war entfacht, als ich an das Spiel dachte. „Die Kraft der beiden Quantencomputer ist noch nicht entfaltet, laut ARTOS“, schob Wilma ein. „ARTOS, ist das wahr?“, fragte ich die KI. „Das ist korrekt, ich habe die Kopplung noch nicht vollständig durchgeführt. Es war nicht klar, wie die beiden Maschinen den Zugang zum Spiel beeinflussen. Auch nicht, ob sie Einfluss auf dich haben. Die Daten deiner Verweildauer zeigen, dass alles zu 100 % funktioniert. Die Lebenshaltung ist effektiv, der Upload deiner Körperdaten geschieht reibungslos. Es besteht kein Grund zur Sorge. Ich werde, mit eurem Einverständnis, die Kopplung nun abschließen. Es werden 36 Kristallspeicher benötigt, um die Speicherlast abzufangen. Ansonsten bekommen die VR-Kapseln ernsthafte Schäden.“ „Meinst du diese Zahl nur für eine Kapsel?“, wollte ich wissen. „Nein, für die ersten 3600 Kapseln. Die neue Generation an Speichern ist in der Lage, für je zehn Speicher exakt eintausend Kapseln zu verwalten. Wir haben 30.000 Kapseln geplant. Die nächste Lieferung steht aus, doch zum jetzigen Zeitpunkt reicht aus, was wir haben.“
Obwohl ich ARTOS mit entwickelt hatte, erstaunte mich seine Kommunikationsfähigkeit immer wieder aufs Neue. Auch wenn sein Tempo, die Art wie er Dinge formulierte und dieser seltsame Unterton in Summe ein beunruhigendes Gefühl erzeugten. Ich wusste noch immer nicht, woran das liegen mochte. War ich zu misstrauisch? Jetzt erst recht, nachdem ich wusste, dass Hiroki jede unserer Direktiven übergehen konnte?
„Dann führe die Kopplung durch ARTOS. Ich bereite mich vor.“ Die anderen gingen an ihre Plätze, nur Tamara kam zu mir. „Hey, ich weiß, du hattest viel zu durchdenken die letzten Tage und ich verstehe, dass du die Zeit für dich benötigtest. Gib mir bitte beim nächsten Mal nur ein kurzes Lebenszeichen. Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht. Nach Nevada …“ Sie ließ den letzten Satz stehen und lächelte mich sanft an. Ich verstand ihre Sorge. „Tut mir leid, das war nicht in Ordnung. Kommt nicht wieder vor. Wir rocken das und dann kann Hiroki gern seine Alleingänge machen. Wenn wir das hier geschafft haben, wird es Zeit für einige Änderungen. Für diese Entscheidung benötigte ich Ruhe.“ Tamaras Augen wurden groß. Doch dann senkte sie den Kopf. „Egal was du vorhast, ich bin dabei, wenn du willst“, flüsterte sie. Ich tätschelte ihre Schulter. „Wir reden, wenn das hier erledigt ist.“
Mit diesen Worten verschwand ich in der Umkleidekabine, um mir meinen VR-Anzug anzuziehen. Diesmal würde es ein richtig heißer Ritt werden, wie Sean zu sagen pflegte.