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Über die Angst

Eines unserer Kinder unterscheidet sich grundlegend von den anderen beiden. Während in unserem Haushalt zwei Kinder leben, die quasi seit ihrer Geburt wild, entschlossen und selbstbewusst sind, gibt es auch ein Kind, das ruhig, gemütlich und weniger offensiv ist. Bei zwei Kindern war die ganz große Liebe beim ersten Anblick nach der Geburt da, bei einem Kind dauerte es ein paar Tage, bis sich dieses Gefühl einstellte. Nicht, dass ich es nicht geliebt hätte, aber dieses große Gefühl, dieses Verliebtsein, das ein Neugeborenes mit sich bringen kann, das kam erst nach einigen Tagen. Im Gegenzug verliebe ich mich aber mittlerweile eigentlich jeden einzelnen Tag noch ein bisschen mehr in dieses Kind – wenn ich es ansehe, bekomme ich gute Laune, wenn es mich mit seiner schelmischen Art anlacht, explodiert mein Herz vor Liebe. Die Liebe zu jedem einzelnen meiner Kinder unterscheidet sich nicht in der Größe, aber in der Art.

Ein Kind ist mir extrem ähnlich. Unsere Liebe ist laut, explosiv, hart, unbändig, bewegt sich oft zwischen Extremen. Wir streiten und schreien, Türen knallen – und im Anschluss weinen wir gemeinsam, verzeihen uns, lieben uns noch mehr. Jeder Streit bringt uns irgendwie auch ein Stück näher zusammen. Wir sind ein Team, manchmal ein sehr chaotisches – aber doch eines, das immer zusammenhält.

Ein anderes Kind ist mir in einem Moment ähnlich, im nächsten scheint es mir fremd. Unsere Liebe  kann laut sein – aber auch ganz leise. Wir streiten – und im nächsten Moment blickt das Kind mich an, tief gekränkt von meinen harschen Worten und sofort verfliegt aller Ärger. Unsere Liebe ist Versöhnung, die immer sofort passiert, die keine Pause zum Durchatmen braucht. Dieses Kind hat die Macht, den Streit unmittelbar zu unterbrechen, den Wahnsinn zu stoppen und einfach durch Liebe zu ersetzen.

Und dann gibt es das dritte Kind. Das mir charakterlich völlig fremd ist, in dem ich aber immer wieder den Charme seines Vaters erkenne. Das mich daran erinnert, warum ich mich in seinen Vater verliebt habe. Die Liebe zu diesem Kind ist leise, friedlich, genügsam. Mit diesem Kind gibt es wenige laute Worte. Türen knallen kennen wir nicht, was nicht heißt, dass wir keine Konflikte haben, aber die finden auf anderen Ebenen statt. Das Kind, das immer ein wenig im Schatten seiner sehr offensiv fordernden, lauten Geschwister unterzugehen droht. Das Kind, das mit seiner Art Herzen schmelzen lässt. Das Kind, das die Macht hat, mir mit einem Blick für kurze Zeit alle Sorgen zu nehmen.

Alle drei sind Wunderwesen. Jedes einzelne hat seine eigene Macht und keines würde ich einem anderen vorziehen. Jedes Kind zieht mich auf seine Weise in seinen Bann und erfüllt mich täglich mit so viel Liebe und Dankbarkeit. Die Liebe für jedes meiner Kinder ist unendlich – und doch ist jede Liebe individuell.

Das Kind, das sich so grundlegend von seinen Geschwistern unterscheidet, das ruhige Kind, das unauffällige – dieses Kind hat in den letzten Wochen einen derart riesigen Entwicklungssprung durchlebt, dass ich nicht anders kann, als es zu bewundern. Das letzte Jahr war heftig. Probleme im Kindergarten, Covid, Baby, Trennung vom großen Geschwisterkind, das in die Schule kam – es kam viel zusammen und zuhause löste sich jeden Tag ganz viel Spannung in Form von Aggression. Wir fanden eine Lösung, lernten, damit umzugehen, dennoch blieb dieses Kind so ein bisschen das Sorgenkind der Familie, weil es sehr viel mit sich selbst ausmachen wollte, weil es sich erst (unserem Empfinden nach) viel zu spät Hilfe holte, weil es – auch im Vergleich zum großen Geschwisterkind – recht ängstlich wirkte.

Dass der Vergleich hinkt, war uns klar – und dennoch blieben die Sorgen bestehen.

Seit Weihnachten ist in diesem Kind ganz viel Selbstbewusstsein gewachsen. Es ist so viel reifer und größer geworden. Diese Entwicklung habe ich lange nicht so richtig gesehen, weil dieses Kind eben immer irgendwie mein kleines Schnuffelchen war. Seit kurzem geht es einmal pro Woche alleine zum Sport und seit letzter Woche geht es völlig alleine mit viel älteren (und größeren) Kindern zum Schwimmkurs. Ich war und bin eigentlich überhaupt kein Fan von Sportkursen und Nachmittagsprogramm für unsere Kinder, da ich ihnen die Freizeit nicht „verbauen“ möchte. Das älteste Kind hat letzten Herbst mit Sport am Nachmittag begonnen und ist damit sehr glücklich. Somit überwand ich meine Scheu vor Nachmittagsbespaßung und meldete eben auch das andere Kind zu Sport- und Schwimmkurs an. Schwimmkurs deshalb, weil es durch Corona bisher keinen machen konnte und ich das Gefühl hatte, das kriegen wir alleine im Moment einfach nicht hin. Das Kind war zwar sehr gerne im Wasser, aber weigerte sich jedoch, das Gesicht nass zu machen und ließ auch nur extrem ungern mit Schwimmhilfe meine Hand los.

Nun waren wir gestern zum ersten Mal seit Monaten wieder schwimmen. Und was macht dieses wunderbare, mutige Kind? Schnappt sich zum ersten Mal die Taucherbrille und taucht unter. Einfach so, ohne, dass irgendjemand von uns aktiv oder bewusst etwas dafür getan hätte.

In dem Moment wurde mir so richtig bewusst, dass das Kind gar kein kleines Schnuffelchen mehr ist, sondern ein richtig großes, mutiges, selbstbewusstes Kind. So klischeehaft es klingt – mein Baby wird groß. Wobei richtiger eigentlich wäre: mein Baby wurde groß. Es ist groß und längst kein kleines, hilfloses, ängstliches Kleinkind mehr. Vielmehr steht da jetzt ein Kind, das vor Selbstbewusstsein strotzt (es aber nicht so offen zeigt), das ganz klar und deutlich seine Bedürfnisse äußert, das sich zur Wehr setzt, das seinen Willen durchsetzt. Wie ich das übersehen konnte, frage ich mich manchmal. Aber dann wird mir klar, dass es zwischen so willensstarken Geschwistern eine ganz andere Art des Durchsetzungsvermögens braucht, die subtil und leise, aber nicht weniger wirksam ist.

Mein Kind hat seine Angst vorm Untertauchen überwunden – und symbolisch steht das für so viel mehr in seinem Leben. Es ist als Kleinkind unter- und als Vorschulkind wieder aufgetaucht. Gefühlt in eben dieser Zeitspanne. Tatsächlich hat es zu diesem Sprung letzten Sommer angesetzt – und ist jetzt leichtfüßig und wunderbar federnd, mit Salto dazwischen, aufgekommen.

Ich habe zwar den Absprung verpasst, durfte aber Salto und Landung begleiten. Und dafür bin ich heute einfach nur dankbar.

[Ich liebe dich, du wunderbarer Luchs.]

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