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Die Wahrheit liegt im Zeugnis der Überlebenden

Willkommen,

zu einer ganz anderen Ausgabe des Newsletters, nämlich zu einer philosophischen. Diese kommt diesmal nicht von uns, sondern von unserem Gastautor Thomas Lassner. (Si apre in una nuova finestra)

Thomas beschäftigt sich für seine Promotion mit den Forschungsschwerpunkten Ästhetische und Kritische Theorie, Ideologie des Nationalsozialismus und Antisemitismus.

Für “Wie Rechte reden” betrachtet er den Begriff der Wahrheit - im politischen, sprachlich-medialen und vor allem philosophischen Kontext.

Gerade nach dem TV-Duell von Olaf Scholz und Friedrich Merz, in dem es, wie die Tagesschau schreibt, einige “Ungenauigkeiten” (Si apre in una nuova finestra) gab, ist ein Blick auf die Frage der Wahrheit relevant.

Wir freuen uns, dass Thomas uns diesen Text geschrieben hat. Er macht das, was Philosophie unseres Erachtens soll: zum Denken anregen.

Liebe Grüße und bleibt achtsam miteinander.

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Über die Wahrheit in der Krise

Ein philosophischer Gastbeitrag von Thomas Lassner

Überall auf der Welt verzeichnet autoritäre und rassistische Politik Konjunktur. Zum Erfolgsrezept dieser Politik gehört immer auch eine populistische Rhetorik. Dass rechte Agitator:innen auf diese Weise mit alternativen Fakten, Fake News und revisionistischen Behauptungen gezielt auf Stimmenfang gehen, ist vielfach untersucht, beschrieben und diskutiert. Hinzu kommt, dass in der krisengeplagten Gegenwart Lügen und Desinformation auf fruchtbaren Boden fallen. Das ist die eine Bedeutung der “Wahrheit in der Krise”.

Die zweite Bedeutung ist, dass im Zuge jüngerer Entwicklungen in der Geistesgeschichte die Wahrheit selbst angezweifelt wurde. Dabei bleibt - allem Zweifel zum Trotz - die wahrhaftige Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus eine wichtige Orientierung antifaschistischer Politik. Kein Wunder, dass dies den rechten Agitator:innen ein Dorn im Auge ist.

Vor etwas mehr als acht Jahren brachte Donald Trump einen Begriff in die politische Debatte ein, der unser heutiges Verständnis von Wahrheit nachhaltig verändert hat: das “Postfaktische”. In seinem politischen Stil wurde die bewusste Verbreitung von Falschinformationen zur Strategie.

Der Begriff gewann auch in Deutschland an Bedeutung, insbesondere als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2016 feststellte: “Es heißt ja neuerdings, wir leben in postfaktischen Zeiten.” Diese Aussage reflektierte bereits eine tiefgreifen de Veränderung im gesellschaftlichen Diskurs: Fakten verloren an Gewicht, während Emotionen und subjektive Wahrnehmungen zunehmend die Meinungsbildung bestimmten.

 Heute erscheint die intensive Diskussion über den Begriff “Postfaktisch” wie eine Erinnerung an eine weniger radikalisierte Zeit. Die Entwicklung ist eskaliert: Politiker:innen wie Alice Weidel von der in Teilen rechtsextremen AfD verbreiten in Talkrunden mit Elon Musk offenkundige Geschichtsfälschungen, etwa die Behauptung, Adolf Hitler sei kein Rechter, sondern ein “sozialistisch-kommunistischer Typ” gewesen.

Hier lediglich von einer postfaktischen Zeit zu sprechen, greift zu kurz. Wir leben nicht mehr nur in einer Epoche, in der Fakten an Bedeutung verlieren. Vielmehr sind wir in einer Zeit angelangt, in der bewusste Lügen gezielt eingesetzt werden, um die Realität zu verzerren und politische Macht zu sichern. Eine Lüge unterscheidet sich von einer bloßen Fehlinformation dadurch, dass sie absichtlich eingesetzt wird, um Menschen zu täuschen.

 🚩Manipulation durch Sprache und Medien

Dass diese Strategie Erfolg hat, zeigt sich in den Wahlerfolgen und der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung, die durch gezielte Desinformation befeuert wird. Besonders in Zeiten multipler Krisen nutzen rechtspopulistische Akteure die Verunsicherung der Menschen, um Zwietracht zu säen und die Wahrheit selbst zu untergraben.

Ihre Rhetorik zielt nicht auf Argumente oder einen rationalen Diskurs ab, sondern auf Einschüchterung und Unterwerfung. Deshalb ist es nahezu aussichtslos, auf sprachlicher Ebene mit ihnen in eine ernsthafte Diskussion zu treten, denn ihre Sprache ist von Grund auf darauf angelegt, Gegner:innen zu delegitimieren und nicht, eine gemeinsame Wahrheit zu finden.

Die Funktionsweise dieser Kommunikationsstrategie lässt sich mit einer älteren Analyse der Werbeindustrie vergleichen. Sie stammt von dem Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan. In seinem Werk “Die Mechanische Braut” über seine Studien des industriellen Menschen prägt er den Begriff des “Belagerungszustands”. Er beschreibt damit, wie die Bevölkerung einer wachsenden Flut manipulativer Botschaften ausgesetzt ist. Werbliche Inhalte wirken nicht nur ästhetisch, sondern zielen darauf ab, Aufmerksamkeit zu erregen und Verhalten zu beeinflussen.

Die Belagerung, von der McLuhan spricht, betrifft nicht nur die Sinne, sondern auch das Denken und Fühlen. Dieses Konzept lässt sich auf die Strategie der neuen Rechten übertragen: Ihre Kommunikation gleicht einem permanenten Angriff auf die freie Rede - paradoxerweise im Namen der Redefreiheit selbst. Sie setzen auf eine ständige emotionale und kognitive Belagerung durch eine gezielte Überflutung mit Desinformation, das strategische Nutzen von Affekten und die bewusste Verdrehung historischer Fakten.

🗯️Die philosophische Frage nach der Wahrheit

Diese Mechanismen zeigen, wie sehr Sprache und Wahrnehmung gezielt manipuliert werden können. Damit stellt sich eine grundlegende Frage: Was bedeutet Wahrheit überhaupt, und wie wird sie bestimmt? Die Philosophie hat sich von jeher mit dieser Frage beschäftigt.

Erfolgreiche rechtpopulistischen Desinformationskampagnen scheinen sich eine philosophische Entwicklung zunutze zu machen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts einen allgemeinen Wahrheitsbegriff relativiert hat. Die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts steht insgesamt im Zeichen einer allgemeinen Skepsis solchen metaphysischen Begriffen gegenüber.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts geht der Theoretiker Francis Fukuyama sogar so weit, das “Ende der Geschichte” auszurufen. Er meinte damit, dass mit dem Sieg des Westens im Kalten Krieg die liberale Demokratie als endgültige Gesellschaftsform feststehe und keine grundlegenden ideologischen Alternativen mehr existierten.

Fukuyamas These gilt als eine der Gründungsgesten der sogenannten Postmoderne und reiht sich in eine größere Debatte über das “Ende der großen Erzählungen” ein; ein Konzept, das besonders der Philosoph Jean-François Lyotard - ein weiterer prägender Kopf der Postmoderne - teilt. Lyotard argumentierte, dass umfassende Ideologien oder Weltanschauungen, die allgemeingültige Wahrheiten beanspruchen, an Bedeutung verloren haben. Stattdessen betont die Postmoderne die Vielfalt individueller Perspektiven und die Relativität von Wahrheit.

Diese Denkweise führt jedoch zu einem Problem: Wenn es keinen allgemein akzeptierten Maßstab für das Gute und Wahre mehr gibt, wird es schwieriger, sich gegen gezielte Desinformationskampagnen zu wehren. In einer Welt, in der alles relativ ist und jede Erzählung neben anderen gleichwertig erscheint, fällt es schwer, Falschinformationen zu entlarven oder ihnen entgegenzutreten. So zeigt sich, dass die postmoderne Skepsis gegenüber großen Erzählungen zwar einerseits befreiend sein kann, andererseits aber auch neue Herausforderungen mit sich bringt.

Mit diesem Problem setzt sich Lyotard in seinem Werk “Der Widerstreit” auseinander. Er argumentiert, dass in verschiedenen Bereichen - Wissenschaft, Recht, Ethik oder Kunst - unterschiedliche Regeln dafür gibt, was als wahr und gültig gilt: Ein wissenschaftlicher Beweis folgt anderen Wahrheitskritierien als ein künstlerischer Ausdruck oder ein juristisches Urteil. Es gibt keinen übergeordneten, universellen Maßstab, mit dem man alle diese Wahrheiten messen könnte.

Der zentrale Begriff des “Widerstreit” beschreibt eine Situation, in der zwei Sprachsysteme aufeinandertreffen, aber keine gemeinsame Basis für Verständigung existiert.

In solchen Fällen kann Ungerechtigkeit entstehen: Wird das erlittene Leid des einen nicht in der Sprache des anderen ausgedrückt, kann es nicht einmal als Unrecht anerkannt werden. Ein Beispiel, das Lyotard aufzeigt, ist die Holocaust-Leugnung:

Überlebende können die Wahrheit ihres Leidens schildern, aber wenn ein revisionistischer Diskurs (wie ihn beispielsweise Alice Weidel führt) die Legitimät seiner Sprache in Frage stellt, fehlt der gemeinsame Rahmen, um die eigene Wahrheit gegen diese Angriffe zu verteidigen. Das Unrecht wird nicht nur erlitten, sondern auch sprachlich ausgelöscht.

Lyotards Kritik steht im Kontext der postmodernen Skepsis gegenüber “großen Erzählungen”, die universale Wahrheiten beanspruchen - er nennt als Beispiel den Forschritt der Wissenschaft, die Vernunft der Aufklärung oder die Geschichtsteleologie des Marxismus. Diese Erzählungen erheben den Anspruch, für alle zu gelten, lassen aber oft abweichende Stimmen und Perspektiven nicht oder kaum zu. Wahrheit ist für Lyotard daher immer lokal und situationsabhängig.

Die Stärke von Lyotards Untersuchung ist, dass obwohl - und vielleicht gerade weil - er keine absolute Wahrheit anerkennt und das Ungerechtigkeit fördern kann, er für eine grundsätzliche Haltung der Offenheit plädiert. Die Offenheit besteht in der besonderen Aufmerksamkeit gegenüber dem Widerstreit und der Fähigkeit, marginalisierte Wahrheiten sichtbar zu machen. Dass also Überlebende wenigstens ihr eigenes Überleben und damit die Hölle, die sie überlebt haben, bezeugen, ist eine Wahrheit, aus der sich der kategorische Imperativ, dass Auschwitz sich nicht wiederholen darf, ableitet.

Gerade wenn die Neue Rechte Sprache gezielt einsetzt, um Unsicherheit, Angst und Ressentiment zu schüren, ist es umso wichtiger, sich zu erinnern und zuzuhören, wenn Überlebende berichten. So ist es auch kein Wunder, dass Gedenkstätten immer wieder Opfer rechter Anschläge werden und dass Faschist:innen wie Björn Höcke versuchen, ihre Arbeit (beispielsweise bei Buchenwald) zu behindern.

Die tiefere Wahrheit ist, dass man sich nicht nur an die Vergangenheit erinnern muss, um deren Fehler nicht zu wiederholen, sondern dass die Wahrheit, die im Zeugnis der Überlebenden liegt, bewahrt und verteidigt werden muss.

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