Lebt! Lebt intensiv! Jetzt!
"Apfel und Vulkan". Ein filmischer Essay "auf der Suche nach dem, was bleibt".
Die Schweizer Filmemacherin Nathalie Oestreicher verknüpft die Geschichte ihrer an Brustkrebs verstorbenen Freundin Fabienne mit ihrer eigenen Biografie. Als Nathalie Oestreicher ein Kind war, starb ihr Vater. Fabienne lässt zwei kleine Mädchen zurück.
Am Schluss richtet sich der Blick in Baumkronen, durch die sanft der Wind rauscht. Ein wogendes Blättermeer vor der himmelblauen Ewigkeit, ein tröstlicher Blick auf die Unendlichkeit im Endlichen. Dann wird alles schwarz.
Es stresst mich, dass ich nicht weiß, wie viel Zeit ich noch habe. Einerseits möchte ich mich ausruhen, aber sobald ich mich ausruhe, denke ich: Du hast keine Zeit zu verlieren. Es ist schwierig diese ruhigen Momente zuzulassen mit dem Gefühl: Na los, bereite die Dinge vor! (Fabienne)
Was ist, was bleibt von einem zu kurzen Leben?
Was ist jetzt noch wichtig, was wird bald wichtig sein?
Fotos: Apfel und Vulkan
Nathalie Oestreicher sucht in ihrem 2017 veröffentlichten Film „Apfel und Vulkan“ Antworten auf universelle Fragen, die sich im Angesicht eines nahenden Todes stellen. Des Todes ihrer Freundin Fabienne. Die beiden kennen sich erst ein paar Monate, da erkrankt Fabienne an Brustkrebs. Gerade noch hatten die beiden einen Film über Mutterschaft geplant, beide Frauen haben zwei kleine Kinder und erleben das Mutter-Sein ganz unterschiedlich. Das wollen sie herausarbeiten.
Dann kommt der Krebs, und es wird klar, dass es zwar einen Film geben, sein Focus aber ein ganz anderer sein wird als erhofft. „Wir haben auf einmal nur noch über essenzielle Dinge gesprochen. Wir haben gemerkt, dass wir von denselben Dingen sprechen, nur ich aus der Perspektive derjenigen, die den Tod eines Elternteils erlebt hat, und sie aus der Perspektive derjenigen, die gehen muss“, erinnert sich Nathalie Oestreicher.
Fabienne weiß, dass sie sterben wird, als sie mit ruhiger Heiterkeit in die Kamera spricht. Acht Jahre ist das jetzt her. Sie ist damals gerade 39 Jahre alt geworden, 36 war sie bei der Diagnose. Erst sah es gut aus. „Wir dachten alle, es kann nicht sein, dass sie an dieser Krankheit stirbt“, denkt Nathalie Oestreicher. zurück Dann ist klar, dass sie es nicht schaffen wird. Doch alle dachten, Fabienne hätte mehr Zeit, würde das Frühjahr, den Sommer noch erleben. Hat sie aber nicht.
Das Leben geht nie die Wege, die man geplant hat. Sobald man das begriffen hat, akzeptiert man die schlechten Sachen eher und freut sich über die guten Dinge. Das Leben lässt sich nicht regeln, das wäre zu einfach. (Fabienne)
Wer wüsste das besser als Nathalie Oestreicher. Neun Jahre ist sie alt, als ihr alkoholkranker Vater an einem Herzinfarkt stirbt. Wenige Jahre später bringt ihr Bruder sich um. So einfach gesagt, so schwer auszusprechen. Im Sterben der engen Freundin bekommen die zwei verdrängten Kapitel ihrer eigenen Biografie ungeheure, unerwartete Relevanz. „Ich erzähle nichts. Ich beantworte nur eure Fragen“, sagt Nathalies Mutter im Film. Und dann ist er da, dieser Gedanke, die Geschichte des Lebens durch dessen unendliche Endlichkeit zu erzählen.
Nathalie Oestreichers Mutter mit ihrem Enkelkind.
Drei Mal Tod. Ein gewichtiger Rahmen für einen Film. Doch Nathalie Oestreicher nutzt die Form des filmischen Essays nicht, um sich in intimen Details zu verlieren, sondern um dem Zuschauer Räume zu eröffnen, eigene Erfahrungen auf die erzählte Geschichte zu projizieren. Was auf der Leinwand passiert, wünscht sich die Regisseurin als Beispiel, als Spiegel zu empfinden; wenn die Kamera Szenen unscharf stellt, eröffnen sich neue Interpretationsräume.
„Du bist meine erwachsen gewordene Tochter“, sagt Fabienne zu Nathalie. „Auch wenn das nicht dieselbe Geschichte ist. Ihr habt euren Vater nicht sterben sehen. Es geht nicht darum einen Vergleich zu ziehen. Auf Dich projiziere ich meine Mädchen als Erwachsene. Und das gefällt mir sehr.“
Zwei Gespräche mit Fabienne nimmt Nathalie Oestreicher mit der Kamera auf, die Freundin spricht französisch, die Untertitel sind eingeblendet. „Als ich nach dem Dreh mit den Filmaufnahmen nach Hause fuhr, hatte ich das Gefühl, ein großes Geschenk in Händen zu halten. Und eine ebenso große Verantwortung“, sagt Nathalie Oestreicher. „Der Film wurde für mich zur Notwendigkeit. Die nächsten Schritte ergaben sich in einer Logik, wie ich sie bisher nicht kannte. Auch wenn es immer wieder eine Herausforderung war, diesen Weg auch wirklich zu gehen.“
Die zwei Gespräche mit Fabienne sind das Herzstück von „Apfel und Vulkan“, um die herum die Filmemacherin ihre Suche nach Antworten auf lange nicht gestellte Fragen zu ihrer eigenen Biografie anordnet. „Ich musste sehen, wie ich ihnen gerecht werden kann.“ Die Lösung hat Fabienne in einem der Gespräche vorgezeichnet. Die beiden Todesfälle, die waren, und der Tod, der kommen wird: Zwischen diesen Endgültigkeiten bewegt sich der 81 Minuten lange Film und sucht nach Chancen, zu begreifen und einen neuen Sinn, eine Vision fürs Leben zu entwickeln. Das Leben, das unweigerlich fortschreitet.
Fabienne - wenige Wochen vor ihrem Tod.
Nathalie Oestreicher erlebt und filmt das schmerzlich. Während ihre Freundin dem sicher nahenden Tod entgegenlebt, startet sie selbst in einen neuen Lebensabschnitt. Sie wird die 40 Jahre alt, die Fabienne nicht erleben wird, zieht mit Mann und Kindern in ein Haus mit Garten, alles liegt vor ihr, will neu und aufregend gestaltet werden. „Diese Gleichzeitigkeit der Dinge war fast nicht zu ertragen für mich“, sagt die Filmemacherin. Auch Fabienne weiß darum – aus der gegensätzlichen Perspektive. Sie ist traurig, verletzlich, voller Angst. Einmal steht sie mitten im Gespräch auf und geht weg. Sie will ihre Tränen nicht zeigen.
Ich will mich nicht fertig machen und denken: Wenn sie traurig sind, werde ich nicht da sein. Wenn sie sich verlieben, wenn sie heruntergemacht werden, werde ich nicht da sein. All die Situationen, in denen man sagen möchte: Los, meine Große. Du schaffst das. Von Frau zu Frau. Ich werde nicht da sein, um ihnen meine Werte zu vermitteln. Ich kann nur hoffen, dass andere Menschen dies für mich tun. Die Vorstellung nicht da sein zu können, das ist fast unerträglich.
Fabienne findet darauf eine eigene Antwort.
Vieles nehme ich auf mich. Ich lasse vieles durchgehen. Ich versuche mich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen. Und trotzdem auf mich zu hören. Das beeinflusst auch die Beziehung zu meinen Töchtern. Ich bin weniger nervig. Ich versuche, bis zu meinem Tod mein Bestes zu geben. Ich versuche meinem Umfeld mitzuteilen, was ich wünsche.
Sie wendet sich konsequent dem Leben zu, um sich und ihren Mädchen so viel Leben und Erinnerung wie möglich zu geben.
Bevor ich sterbe, möchte ich mit meiner Familie ans Meer fahren. Es ist kitschig, aber mir liegt viel daran. Sie sollen sich wohlfühlen. Sie sollen körperliche und sinnliche Erinnerungen mitnehmen. Es geht darum Erinnerungen zu sammeln. Ich habe sehr konkrete, sinnliche Erinnerungen ans Meer. Ich möchte meinen Töchtern dasselbe schenken. Ich habe das geliebt. Der Sand zwischen den Zehen. Morgens baden gehen, wenn die Sonne noch nicht brennt. Das haben meine Eltern mir mitgegeben. Das sind wunderbare Erinnerungen.
Eine Woche nach dem zweiten Kamera-Gespräch verliert Fabienne ihre Haare und möchte nicht mehr vor der Kamera sprechen. „Für Fabienne war es sehr wichtig, dass sie im Film nicht krank aussieht“, erinnert sich Nathalie Oestreicher. „Nicht, weil sie ihre Erkrankung verheimlichen wollte, sondern weil die Gespräche zu einer Erinnerung verarbeitet werden. Sie wollte ihren Kindern nicht krank in Erinnerung bleiben.“ Weite Teile des Films entstehen erst nach Fabiennes Tod, sie stirbt drei Monate nach dem Dreh der beiden Gespräche. Ihre beiden Mädchen sind vier und sieben Jahre alt. Die jüngere kann sich aktiv kaum an ihre Mutter erinnern.
Ich möchte ihnen Wesentliches hinterlassen. Nicht viel, aber Wesentliches. Sie sollen vergessen dürfen. Ich möchte nicht ständig präsent sein. Ich bin ihnen schuldig, dass sie mich vergessen dürfen. Nicht vollständig, aber ich will ihnen nicht meine Präsenz aufzwingen. Sie sollen sie finden, wenn sie das Bedürfnis haben. Aber ich will keine Heilige Mutter sein.
Ein Bedürfnis, das Nathalie Oestreicher für sich gestillt hat. Sie hat ihren Vater und ihren Bruder gefunden und manches Bild neu gezeichnet. Einst hat der Vater ihr – scherzhaft, doch ernsthaft für das Tochterkind – gedroht, man stürbe an einem Zuviel an verspeisten Apfelkernen. Nathalie sät mit ihren eigenen Kindern Apfelkerne, damit Neues entstehen kann. Das ist der „Apfel“ im Titel des Films. Der Vulkan ist der Berg, an dem ihr Bruder starb.
Der Film kostet Nathalie Oestreicher viel Kraft. Kraft, die sie findet, weil sie ihn unbedingt machen will. „Wann ist ein solches Thema universell, wann ist es eine Nabelschau? Das liegt natürlich im Auge des Betrachters, aber für mich war es sehr wichtig, dass es keine Nabelschau wird“, sagt sie. „Solche Filme drehen eher Männer. Man musste mich schon zwingen so weit zu gehen.“
Foto: Die Filmemacherin Nathalie (links) und ihre Schwester.
Ohne Fabiennes Tod, ohne ihre eigene schwere Vergangenheit gäbe es „Apfel und Vulkan“ nicht. Und so sehr man sich einen anderen Ausgang wünscht, so wichtig ist doch, dass Tod und Krebs zwar das Drehbuch begonnen haben, aber nicht die Hauptrolle spielen. Es geht um so viel Wichtigeres. Um Erinnerungen, um Freundschaft, um Mutter-Sein, darüber, wie heilsam die Konfrontation mit verdrängten Wahrheiten sein kann. Statt Leid, Kummer und Trauer schwingt eine heiter-melancholische, nachdenklich-ruhige Gelassenheit in den Szenen mit.
Fabienne hat es mit ihrer Familie nicht ans Meer geschafft. Und doch:
Ich will nicht, dass meine Familie bemitleidet wird. Dass es nach meinem Tod unanständig wird glücklich zu sein, zu lachen. Aber genau das ist, was ich möchte. Nach meinem Tod soll es weitergehen. Leute in Trauer und Leid sehen die Schönheit der Dinge nicht mehr. Ich wünsche mir genau das Gegenteil. Vergnügt euch, schon ab morgen! Man muss im Leben eine Vision haben und mit allen Mitteln versuchen sie zu realisieren. Darum muss es gehen. Wohin soll man leben ohne Ziele? Dieses Gefühl hatte ich schon vor meiner Krankheit, es hat sich vervielfacht.
Lebt, lebt intensiv!
Zur Person: Nathalie Oestreicher
Nathalie Oestreicher (48) ist eine Filmemacherin mit Schweizer und französischem Pass. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe Luzern und arbeitet dort an der Hochschule Luzern – Design und Kunst Luzern in der Studienrichtung Video. Dort hat sie selbst studiert, wie auch Fabienne. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen über eine Bekannte; Nathalie Oestreicher hatte eine Mutter gesucht, die wie sie selbst mit ihren Kindern französisch sprach. Das ist im deutschsprachigen Teil der Schweiz keine Selbstverständlichkeit. Ihr Film „Apfel und Vulkan. Auf der Suche nach dem, was bleibt“ (Kamera: Séverine Barde, Milivoj Ivkovic) erschien im Jahr 2017 und ist heute unter anderem als DVD erhältlich auf https://cineworx.ch/movie/apfelundvulkan/ (Si apre in una nuova finestra).
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Madame Tout le Monde
Um ihren Töchtern besser zu erklären, wie sich ihr Körper durch den Krebs und die Therapien verändert, entwarf Fabienne die Anziehpuppe „Madame Tout le Monde“. Mit der Puppe konnte sie zeigen, wie sie vor und nach der Chemotherapie aussehen würde. Eine Stiftung kümmert sich heute darum, die Puppe bei Frauen und Müttern mit Krebs bekannt zu machen. „Sie ist nicht nur geeignet für junge Mütter, sondern auch für Großmütter, Tanten, Freundinnen.“ www.madame-tout-le-monde.ch (Si apre in una nuova finestra)
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