Folge 40
Etwas Altes: Tragik neuer Hefte und Kalender
Mein Leben lang schon läuft es gleich ab: Ich kaufe neue Taschenkalender, Notizhefte – früher waren es Schulhefte –, ich betrachte sie liebevoll, streiche mit den Händen über den Einband, nehme einen Stift, der meiner Handschrift besonders gut entgegenkommt, schreibe vorne schön meinen Namen rein. Obwohl es nur Dinge sind, mit denen ich da hantiere, wirkt full blast »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, obwohl ich es gar nicht so gern mag, wenn mir Hesse-Zitate einfallen, was ich dadurch verhindere, dass ich dieses Zitat unverbesserlich Rilke zuschreibe.
Hesse lesende Jungs nervten mich in meiner Schulzeit sehr, ich fand sie uncool, spätestens seit Michael aus dem Deutschleistungskurs mich unangekündigt (!) mit dem Fahrrad (!) bei meiner Oma in München (508,7 km Wegstrecke ab unserer Schule!) besuchte und dann mit dem Schlafsack in der Küche übernachtete. Der Typ und ich waren kein bisschen befreundet, es war unfassbar, und ich hätte ihn buchstäblich am liebsten getötet, sorry, damals fand man komplett übertriebene Gewaltvorstellungen noch völlig in Ordnung. Natürlich glaubten mir weder meine Oma noch meine Mutter, dass ich von der Aktion nichts gewusst hätte, warum sollte man auch seiner Tochter oder Enkelin glauben, statt anzunehmen, dass random Dudes manchmal übergriffige Sachen machen. Ich war also nicht nur maximal wütend, sondern auch sehr verzweifelt, zurück aus der Zukunft betrachtet eine schöne Vorbereitung auf mein Gesellschaftsgefühl der Jahre 2015 bis 2022+. – Nietzsche lesende Jungs fand ich damals noch nicht uncool, ein Fehler, dazu irgendwann mehr. Und, ah, interessant, ich hatte also immer schon Probleme mit bestimmten Rezeptionsgruppen.
Zurück zu den leeren Heften und Büchern. In den Tagen, nachdem ich vorne schön meinen Namen eingetragen habe, schreibe ich noch das eine oder andere auf die eine oder andere leere Seite, immer schön mit Datum darüber, beim Kalender steht es schon da, beim Heft schreibe ich es mit der Hand hin. Und dann passiert es. Abbruch. Filmriss. Meteoriteneinschlag. Gedächtnisverlust. Nichts passiert mehr, ich vergesse, den Kalender, das Heft, das Notizbuch weiterzuführen, weil ich es gerade nicht bei mir habe, weil ich gerade tausend andere Sachen zu tun habe, weil ich gerade komplett von neuen Ideen eingenommen bin. Und dann ist der Zauber kaputt, er wird sogar zum Fluch. Einfach wieder einsetzen und die dreiwöchige Lücke ignorieren? Was war, nachtragen, obwohl das zumindest bei Kalendern ein schrecklich unsinniges Gepose wäre? Fünfe gerade sein lassen und einfach jedes meiner hundert relativ leeren Notizbücher irgendwann irgendwie vollschreiben? Ohne schlechtes Gewissen noch ein paar Dutzend weitere Kalender, Notizhefte und -bücher anpatzen und liegenlassen?
Mein hübscher eisgrüner Moleskinkalender 2022 ist besonders leer, es steht bisher nicht mal mein Name drin, nur ein paar von Tag zu Tag weitergeschobene to dos. Vielleicht betrachte ich ihn und die anderen einfach als Statusmeldungen meiner Seele und meiner Konzentration. Sind Seiten leer, bin ich nicht da, bin ich woanders. Jetzt gerade bin ich so sehr nicht da wie niemals zuvor. Ist doch egal, zumindest in Bezug auf meine Buchführungsleistung. Immerhin besuche ich nicht Menschen, die überhaupt kein Interesse an mir haben, unaufgeordert bei deren Oma.
Ich mache langsam meinen Frieden mit diesem unruhigen, sprunghaften Geist, er ist ja auch ein wichtiger Motor meiner Arbeit. Nur in Kontexten, wo ich andere damit peinige, werde ich weiter versuchen, ihn zu zügeln. Nicht wirklich sinnvoll mit Kalendern und Notizbüchern zu verfahren, das kann ich mir gönnen. Vielleicht schmeiße ich sie demnächst einfach mal alle weg, was kümmern mich meine alten Gedanken, ich habe ja neue.
Etwas Neues: Papierhype, Screenkrise
Vor ein paar Tagen war Frohmann-Autorin Michaela Maria Müller (Si apre in una nuova finestra) kurz zu Besuch, um ein paar Bücher abzuholen und unser beider mittlerweile mehrere Jahre lang wiederholtes »Wir müssen uns unbedingt mal wieder treffen« einzulösen, und ich habe zu ihr gesagt, sie dürfte es niemandem erzählen, aber jetzt verrate ich es euch doch, mein skandalöses Geheimnis: Im Moment tut es mir, publizistischer Leitspruch: »Nicht vom Medium oder Format her denken!«, ausgesprochen gut, auf Papier zu lesen, natürlich muss das Buch oder Magazin dann selbst auch gut sein.
Es dauert zwar eine Weile, oft auch lange, bis ich ruhig genug bin, um auf Papier zu lesen; beim digitalen Lesen sickern Inhalte ja fast automatisch in mich ein. Aber dann tritt irgendwann mein altes Lesegefühl ein: Ich vergesse den Vorgang des Lesens, trete in den Raum des Lesens ein, bin im Erzählten. Das funktionierte bei mir lange Zeit unterschiedlos immer, solange Inhalt und Stil mich ansprachen, egal ob ich über ein Buch, ein E-Book oder einen Onlinetext dorthin kam. Ich rechne auch damit, dass es irgendwann wieder so sein wird. Aktuell aber verbinde ich Screens zu sehr mit negativen Erfahrungen, dem permanenten Zuviel an Inhaltsaufnahme, Kommunikation, leeren Debatten, Konflikten, in die man hineingezogen wird, nur weil man gerade online präsent ist, multipel nicht respektierten Grenzen. Deshalb bin ich auf Papierkur. Keine Sorge, ich kure nicht in Bad Retro, ihr werdet von mir niemals etwas über Geruch, Geraschel und schöne Haptik lesen.
Ich lese zur Zeit mehr Papierbücher als sonst und genieße es, aber ich werde kein Buch darüber schreiben. Es zu verraten und einzuordnen, finde ich hingegen schon wichtig. Man will ja nicht die heimlich geimpfte Ungeimpfte der Publishing-Sphäre sein.
Nachfolgend ein paar Anwendungen aus meiner Buchkur. (Von Redecker habe ich zum zweiten Mal gelesen, und Dieses makellose Blau von Sarah Raich war, nachdem ich es etwa halb gelesen hatte, für ein paar Monate lang etwas spooky in meinem Arbeitszimmer verschwunden, was gut zum Buch passt. Jetzt habe ich es ausgelesen und kann es seriös sehr empfehlen.)
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Ich kenne keine anderen Liebesobjekte, von denen man so wesentliche und unfehlbare Geschenke zurückbekommt, wie von Büchern und einem Garten.« – Elisabeth von Arnim
Etwas Uncooles: Die Dunkelhaarige-können-nicht-blond-sein-Lüge
Sibel Schick schrieb neulich auf Twitter darüber, dass sie so blass sei und ihre Haut im Kontrast zum schwarzen Haar fluoreszieren würde. Ich kenne diese Farbwirkung sehr gut, ich hatte sie auf dem Höhepunkt meiner Anämie* so extrem, dass ich gleich zwei Sachen änderte: Ich ließ mich endlich ärztlich behandeln, gute Idee, ich wäre sonst gestorben, und ich färbte meine Haare blond.
Letzteres war für mich ähnlich radikal wie endlich auf meinen Körper zu achten, denn ich war mein ganzes Leben lang dunkelhaarig gewesen, und zwar so von allen gesetzt dunkelhaarig, dass es mir unvorstellbar erschien, blond sein zu können. Familienmitglieder und Freund*innen erzählten mir immer mal wieder, dass sie geträumt hätten, ich wäre blond und wie verstörend es aussah. Friseur*innen wiegelten oft schon ab, wenn ich ein paar dünne Strähnen blondiert haben wollten: BEI IHNEN WIRD DAS NICHTS, DA MUSS MAN MEHRFACH BLONDIEREN, DAVON GEHEN DIE HAARE KOMPLETT KAPUTT, UND DANN WIRD DAS AUCH NUR ORANGE UND NICHT BLOND. – Ich gehe bis heute zehnmal lieber zu Zahnärzt*innen als zu Friseur*innen. An dieser Stelle: Danke, Deborah, dass du mich damals nicht eingetütet und mir mehrstündig sehr schöne blonde Strähnen gefärbt hast!
Zwischendurch hatte ich auch mal ein Experiment mit diesen Aufhellsprays gemacht, okay, ja, das wurde nur orange. Aber dann hatte ich vor drei Jahren eine Idee, eine Art Wunder geschah, und jetzt kann ich euch die Zauberformel verraten.
Meine Ausgangslage für Blond damals war nach gängigen Vorstellungen maximal schlecht: von Natur aus Haare, die richtig schwarz aus dem Kopf kommen, aber wenn sie länger werden, nach und nach etwas aufhellen, dann mittelbraun sind, das bei zu viel Sonne sogar einen Rotstich bekommt. Ich habe als Jugendliche sehr lange gehofft, dass einzelne Strähnen in meinem Haar wie bei anderen Dunkelhaarigen von der Sonne blondiert würden, es ist nicht passiert. Braun mit Rotstich hasse ich aber bei mir so sehr, dass ich meine Haare seit den Teenjahren dunkelbraun oder schwarz färbte. Zusammen mit meiner vermutlich jahrzehntelangen Anämie ergab das die volle Schneewittchenoptik, bis es dann eben zu arg wurde und wie exhumiert aussah.
Um wacher und frischer auszusehen – wach und frisch zu sein, war ja als Mutter von Schülern und Selbstständige keine Option –, überlegte ich nun, dass es doch eigentlich keinen Schaden anrichten könnte, wenn ich blond drüberfärbe, also nicht mit Blondiercreme arbeite, sondern normaler blonder Haarfarbe. Dann müssten doch die grauen Haare blond werden und die anderen weiterhin dunkel nachwachsen. Meine Hoffnung war, dass ich so wieder dunkle Haare mit blonden Strähnen bekommen würde, nur auf anderem Wege als früher. Im schlimmsten Fall würde man einfach gar keinen Effekt sehen. Es wurde aber ganz anders und besser als erhofft. Auch der dunkle Teil meiner Haare wurde blonder, sowohl der nachwachsende natürliche als auch der gefärbte. Es gab eine kurze etwas orangige Phase, sie währte vielleicht drei Monate aka dreimal Färben, aber auch die sah ganz gut aus. Ich färbte etwa ein Jahr lang immer alles, nicht nur den Ansatz. Und dann war ich auf einmal richtig blond. Die grauen oder weißen Passagen sind hellblond, die anderen mittelblond. Mittlerweile färbe ich nur noch den Ansatz nach. Ich habe dafür die ganze Zeit so mittlere Blondtonlagen benutzt: beige, gold, honig. Es geht ganz einfach, weil man pampt sich die Farbe nur wie Shampoo drauf. Jetzt, beim Ansatzfärben, mache ich einen sehr lockeren Zopf und färbe alles oberhalb des Haargummis. (Mit kürzeren Haaren stellen sich solche Fragen ja eh nicht.) Meine Haare sind null kaputt. Vermutlich sorgt ein Hauch Bleichmittel in der Mischung fürs allmähliche Hellerwerden, aber es schrottet halt die Haarstruktur nicht. Sonnenschein intensiviert die Wirkung. Mein Blond sieht sehr »natürlich« aus, was zum Wegschmeißen komisch ist.
Menschen, lasst euch nichts erzählen, ihr könnt alles sein, auch blond.
* Blutende und/oder keine Tiere essende Menschen, behaltet immer euren Eisenwert im Auge! Ein Drittel aller blutenden Jugendlichen hat akuten Eisenmangel (Quelle: meine Gynäkologin).
Rubrikloses
Die Bücherempfehlungen, die bei mir am meisten Eindruck machen, haben den Zusatz »Ich wünschte, ich hätte das früher gelesen«.
18. Jahrhundert: Antikenkult
21. Jahrhundert: Kult antiker Debatten
Da Menschen so unglaublich gern Wikipedia-Links in Kommentaren und Replys posten, stellt sich doch die Frage, warum sie vor dem Posten nicht auch kurz Wikipedia befragen, ob die Person, die sie da weiterbilden wollen, vielleicht einen Wikipedia-Artikel hat, der dies als unnötig anzeigen würde.
Das Bildungsversprechen besagt, dass du irgendwann in mehreren Sprachen und wissenschaftlich fundiert an einer sozial zutiefst ungerechten Welt zerbrechen kannst.
Valider Vertipper: Realitöt
Größte dichterische Leistung der Jetztzeit sind Katalogtexte, die den im Vergleich fünffach höheren Preis für eine einfache Strickjacke rechtfertigen.
Guerlica
#Entmilliardärisierung
Zurück zu den Milliardärsproblemen, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
Frau Frohmann
Empfehlt #NewFrohmanntic gern im Gespräch mit Freund*innen oder in sozialen Medien. Seht auch mal beim Frohmann Verlag (Si apre in una nuova finestra) vorbei. Danke allen, die uns über steady finanziell unterstützen, egal ob das gesamte Frohmann-Publishing (Si apre in una nuova finestra) oder isoliert den Newsletter (Si apre in una nuova finestra). Genauso danke allen, die wenig Geld haben und auf andere Weise immer an unserer Seite sind. Ich glaube schon an ein wir, eines, das sich ergibt und verändert und nicht gesetzt ist.