Der Übermedien-Newsletter von Lisa Kräher
Liebe Übonnent:in,
am Mittwoch kehrte die Sendung „Zervakis & Opdenhövel. Live“ auf ProSieben aus der Sommerpause zurück. Thema war unter anderem: das sogenannte „Needle-Spiking“ (Si apre in una nuova finestra), eine Form der Körperverletzung, bei der nichtsahnenden Opfern – in der Regel Frauen – in Clubs Substanzen mit einer dünnen Nadel injiziert werden. Ähnlich wie bei K.O.-Tropfen kann das dann zu Übelkeit, Kontrollverlust und Bewusstlosigkeit führen. Und mal ganz abgesehen von den psychischen Folgen eines solchen Angriffs – es kann auch lebensbedrohlich sein.
Das ist ein wichtiges Thema, keine Frage. Ziemlich irre nur, was ProSieben daraus macht: Für den Beitrag gingen eine Moderatorin und ein Schauspieler in einen Berliner Club. Sie sollten mit einem dünnen Textmarker „testen“, ob so eine Attacke auch wirklich keine:r bemerkt. Die Sprecherin im Beitrag drückte es so aus: „Betroffene und Party-People wundern sich, warum sie Needle-Spiking nicht mitbekommen. Wie kann das sein? Spürt man wirklich nichts?“
Aha, sind das die relevanten Fragen? Ich wundere mich über andere Dinge: Zum Beispiel, warum wir in einer Gesellschaft leben, in der Frauen mit Substanzen willenlos gemacht werden. Oder wann man in einer Redaktionssitzung an dem Punkt angelangt, an dem man sagt: Spitzen (haha!) Idee, wir gehen in den Club, um auszuprobieren, wie man Party-People unbemerkt einen Piekser verpasst.
Das muss man ja auch gar nicht ausprobieren. Eigentlich reicht die Antwort des Mediziners, der im Beitrag interviewt wird. Zur Frage: „Merkt man wirklich nichts?“, sagt der sinngemäß, dass es in so einem Club eben viel Ablenkung gibt, außerdem wird Alkohol getrunken, was die Wahrnehmungsschwelle verändert, es ist eng, man berührt sich ohnehin, und so weiter. Total nachvollziehbar, dass es wahrscheinlich ist, dass man einen kleinen Stich da nicht mitbekommt.
ProSieben hat an dem Beitrag festgehalten, obwohl es schon eine Woche vor der Ausstrahlung ordentlich Kritik gegeben hatte. Wie der „Spiegel“ berichtete (Si apre in una nuova finestra), erhob eine Frau schwere Vorwürfe: Das Fernsehteam habe sie (und offenbar andere, die als Probandinnen von ProSieben ausgesucht wurden) zu lange im Unklaren gelassen. Und auch, dass der „Versuch“ nicht mit einer Nadel, sondern mit einem Textmarker unternommen wurde, habe man erst später gesagt.
„So was kann retraumatisierend sein, so was kann Panikattacken auslösen“, zitiert der „Spiegel“ die Journalistin und Autorin Marie Luise Ritter. Sie ist die Freundin einer der auserwählten Testpersonen, die beim Dreh im Club waren. Ritter machte den Vorfall bei Instagram öffentlich. Der Sender dementierte die Vorwürfe: Niemand sei über Stunden im Unklaren gelassen worden, und so ein Textmarker sei ja auch „komplett ungefährlich“. Was für eine bekloppte Idee.
Linda Zervakis sagte in ihrer Anmoderation am Mittwoch, das Thema habe „ein bisschen für Aufregung gesorgt“. Hinter ihr eingeblendet: die Headline des „Spiegel“-Artikels und die Überschriften anderer Medien. Auch im Beitrag selbst verwurstet ProSieben die Kritik so, als sei man ganz stolz: der Versuch habe „Schlagzeilen“ gemacht, für „mediales Aufsehen“ gesorgt. So so.
Sie wollen über das Thema „aufklären“ und die Leute dafür „sensibilisieren“, sagen die Moderatorin und der Schauspieler im Beitrag, bevor sie dann erklären, wie sie vorgegangen sind. Während die Moderatorin sich anschlich, um mit dem Marker unbemerkt zu „pieksen“, wählte ihr Kollege eine andere Taktik. Er sprach die Gäste an, verwickelte sie in ein Gespräch, dann eine kurze Berührung und, zack: Ziel erreicht. Interessant. So geht das also auch.
Moderatorin beim Anprischen. Screenshot: ProSieben
Vielleicht haben sie in der Redaktion einfach einen Stich. Sie wollen potentielle Opfer sensibilisieren? Okay. Das kann einem als Zuschauerin und als heimlich ausgewählte Probandin des „Tests“ aber eben auch Angst machen. Und es kann, nun ja, sagen wir: potentielle Täter inspirieren.
Noch eine Sache finde ich an dem Beitrag bemerkenswert: Wie über „Needle-Spiking“ als eine Art neues Phänomen gesprochen wird. „Opfer scheinen vor allem weibliche Party-Gäste zu sein“, sagt die Sprecherin. Ja, genau. Wie bei K.O.-Tropfen halt. Man nennt das, und schon lange: sexualisierte Gewalt.
Darum geht es im Beitrag aber nicht. Nach dem Film interviewt Linda Zervakis eine Psychotherapeutin, die als erstes über mögliche Motive und Profile der Täter mutmaßen soll. Die Expertin sagt: „Vielleicht gibt es da auch irgendwo ein Vergewaltigungsmotiv, aber bislang ist es ja nicht bekannt geworden, dass es tatsächlich so weit gekommen ist.“ Naja, so etwas lässt sich erstens schwer belegen und kommt zweitens darauf an, wie man Vergewaltigung definiert.
Es fallen im Gespräch Stichworte wie „Hass auf Frauen“, „Dominanz“ und „Macht“ – das ist wichtig. Aber der Tipp am Schluss, was man dagegen tun könne, damit „die Angst nicht immer mitfeiert“, macht mich dann doch etwas wütend. Die Expertin rät: Vorsichtig sein!
Ah ja, schon klar. Die Frauen sollen halt aufpassen und sind mal wieder mitverantwortlich, dass nichts passiert. Und wenn doch, waren sie halt nicht vorsichtig genug.
Diese Woche bei Übermedien
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Kritisierst du noch oder nörgelst du schon (Si apre in una nuova finestra)? Samira El Ouassil über die medialen Reaktionen auf das dritte „Entlastungspaket“ und eine Berufskrankheit, die viele Journalist:innen betrifft. (Ü)
Kanzler der Herzen, a. D. (Si apre in una nuova finestra)| Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) fliegt sein verkorkster Auftritt bei „Maischberger“ um die Ohren. Doch wo liegt das Problem? Am Patzer selbst, an ihm oder an bösen Trollen?
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Was ist los mit Serdar Somuncu? (Si apre in una nuova finestra) | Der Kabarettist und Moderator hält in seiner Sendung bei Radio Eins einen fast zweistündigen Monolog darüber, dass er ja nichts mehr sagen dürfe. Stefan Niggemeier hat sich das angehört.
Herr, vergib ihnen! (Si apre in una nuova finestra) | Die „Bild“ kürt FDP-Justizminister Marco Buschmann zum „Verlierer des Tages“, weil er einen Satz getwittert hat, den Jesus einst am Kreuz gesagt haben soll. Dabei ist auch das Blatt selbst nicht ganz frei von Sünde.
Und dann ist ja noch das passiert, was bei einer 96-Jährigen, nun ja, irgendwie absehbar war. Trotzdem war auch ich, als ich am Donnerstag las, dass die Queen gestorben ist, traurig. Wobei: traurig trifft es nicht ganz. Traurig war ich bei Whitney Houston, George Michael, Prince. Alle viel zu früh gestorben.
Bei der Queen bin ich, sagen wir besser: berührt. Auch wenn ich mich weder für das Leben der Royals interessiere, noch finde, dass Monarchie eine gute Idee ist. Die (zuletzt alte) Dame war halt sympathisch, humorvoll, nahm sich nicht zu ernst. Sie drehte mit Paddington Bear und James Bond lustige Filmchen. Und sie war, wie es die Nachrufe auf sie nun betonen, in schwierigen Situationen für die Bürger:innen ihres Landes da und fand oft die richtigen Worte.
Das ist eine Erklärung, warum der Tod der 96-jährigen Monarchin so viele Menschen auf der ganzen Welt interessiert und bewegt. Nicht, weil sie sich Monarchie wünschen. Sie lieben wohl eher die Idee, dass es so eine Person gibt. Und deshalb ist es auch ok, wenn das mal für ein paar Tage auf allen Kanälen läuft. (Naja, bis auf die Live-Schalten zu Männern in komischen Anzügen, die Salutschüsse aus Kanonen abfeuern. Die bräuchte ich wirklich nicht.)
Gleichzeitig ist es aber auch nicht pietätlos, sondern legitim und angemessen, wenn man – trotz Sympathien für die liebenswerte Erscheinung dieser Frau mit den bunten Oufits – auch kritisch auf die Kolonialgeschichte Großbritanniens hinweist und darauf, dass der Reichtum der Royals auch auf der Ausbeutung anderer Völker basiert. Der „Tagesspiegel“-Journalist Paul Starzmann schrieb (Si apre in una nuova finestra) am Freitag bei Twitter, mit der Queen sei es wie mit (seufz) Winnetou: „Selbst Erwachsene flüchten sich in eine Zwischenwelt, ohne Widersprüche und Zwischentöne.“ Es gehe, so Starzmann, nur noch um die eigenen Gefühle, um Nostalgie, Eskapismus. Da ist was dran. Aber: Geht nicht einfach beides? Die Queen als Person vermissen UND Monarchie und Kolonialismus kritisieren?
Noch eine Frage geht mir durch den Kopf: Gibt es einen noch lebenden Menschen, bei dem Sie sich vorstellen könnten, dass dessen Ableben ein ähnliches kollektives Gefühl und eine Berichterstattung in diesem Ausmaß auslösen würde? Mir fällt (außer Beyoncé eines Tages vielleicht?) niemand ein. Wenn Ihnen jemand einfällt, schreiben Sie mir (Si apre in una nuova finestra). Würde mich interessieren.
Vor drei Monaten feierte die Queen noch ihr 70. Thronjubiläum. Aus diesem Anlass hat unser „Topf voll Gold“-Autor Mats Schönauer damals eine Zeitreise durch sieben Jahrzehnte Klatschpresse gemacht, denn über niemanden sonst wurde in den bunten Blättern so viel geschrieben und erfunden wie über Queen Elizabeth II. und ihre Familie. Den Beitrag können Sie hier (Si apre in una nuova finestra) lesen.
Erst am Freitag erschien die Zeitschrift „Freizeit Monat“, mal wieder, mit einem Titel über die Royals. Und, tja, das Heft war offensichtlich schon im Druck, als die Nachricht aus England um die Welt ging. Denn auf dem Cover ist die Queen noch gar nicht tot, sondern: Sie hat William zum König ernannt. William! War aber, räusper, nicht die erste Klatschzeitschrift (Si apre in una nuova finestra), die König Charles III. (daran muss man sich auch erstmal gewöhnen) in der Thronfolge auslässt.
Welche Geschichten die Titelseiten der Regensbogenpresse sonst noch gerne verkünden – auch wenn nix daran stimmt – haben Mats Schönauer und Frederik von Castell in einem groß angelegten Datenjournalimus-Projekt ausgewertet. Knapp 1600 Cover der vergangenen eineinhalb Jahre haben sie dafür analysiert, Titelseite für Titelseite. Die britischen Royals sind da natürlich auch vertreten.
Was meine Kollegen bei ihrer Auswertung herausgefunden haben, lesen Sie hier (Si apre in una nuova finestra). Und warum sie das gemacht haben, erzählen sie diese Woche im Podcast (Si apre in una nuova finestra).
Schönen Sonntag,
Ihre Lisa Kräher