Newsletter Nr. 8: Lage Nahost
Auf der Facebook Fanpage (Si apre in una nuova finestra) habe ich mehrfach die Medienberichterstattung kritisiert. Dabei geht es um die Gewichtung der Meldungen.
Einen enormen Raum nimmt die Berichterstattung über die humanitären Probleme im Gazastreifen ein. Gefolgt wird das von politischen Meldungen.
Das wurde häufig falsch interpretiert.
Meine Befürchtung ist, dass durch die Berichterstattung in der Öffentlichkeit die Relation verlorengeht, was in der gesamten Region tatsächlich passiert. Es scheint sich der Eindruck festzusetzen, da würde nur eine Handvoll von Terroristen im Gazastreifen mit übertriebenen Mitteln durch Israel bombardiert werden. Worunter wiederum die Zivilbevölkerung zu leiden hat.
Und nur darum drehen sich die meisten Diskussionen.
Ich weise daher auch hier nochmals darauf hin, dass ich selbstverständlich etwas dagegen habe, wenn die Zivilbevölkerung übermäßig leiden muss. Krieg ist insgesamt ziemlich scheiße.
Doch ich vertrete auch zwei Realitäten. Die erste ist, dass die Gesellschaft im Gazastreifen untrennbar mit der Hamas verwoben ist. Das habe ich mehrfach versucht zu erläutern.
Die zweite ist, dass ein Krieg anderen Regeln folgt. Und was im Gazastreifen passiert, ist de facto ein Krieg. Das ist keine begrenzte Bekämpfung von Terroristen mit militärischen Mitteln.
Um eine Perspektive zu geben, werde ich einfach nur einmal gebündelt Informationen raushauen. Die so teilweise auch in großen Medien veröffentlicht wurden. Dort aber meist nur in unerklärten Kurzmeldungen in Live-Tickern auftauchten.
+ Seit dem Überfall auf Israel am 7. Oktober setzen die Hamas, die Hisbollah, der Islamische Dschihad in Palästina (mit hoher Wahrscheinlichkeit verantwortlich für die fehlgeleitete Rakete auf das al-Ahli Krankenhaus in Gaza-Stadt), die Abu Ali Mustafa Brigaden und andere Gruppen die Angriffe auf Israel unvermindert fort.
Israel befindet sich im Kriegszustand. In den Städten wird mehrfach täglich Luftalarm gegeben, durch die Nähe mit sehr geringer Vorwarnzeit.
Der Eindruck, der Angriff sei vorbei und alles sei gut, ist falsch.
+ In Israel leben etwas über 9 Millionen Menschen. Über 21% davon sind „Palästinenser“. (Zu dem Begriff arbeite ich derzeit an einem ausführlichen Beitrag.) Auch sie dienen in den Streitkräften.
Die IDF (Israel Defense Forces, Israelische Verteidigungskräfte) haben üblicherweise eine Stärke von 170.000 Mann. Mit einer enormen Anzahl von Reservisten.
Nach dem Angriff wurden mindestens 300.000 Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt bzw. eingezogen. So viele, wie Russland derzeit in der Ukraine im Einsatz hat. Das bedeutet, dass derzeit mindestens 5% der israelischen Bevölkerung unter Waffen stehen.
Was wiederum bedeutet, dass diese Menschen in der Wirtschaft fehlen. Das wäre vergleichbar damit, dass in Deutschland etwa 4,5 Millionen Menschen oder 3 Millionen Werktätige wegfallen würden und die Bundeswehr eine Generalmobilmachung ausruft. (Sperrung der Autobahnen etc.)
In Israel gibt es kein Business as usual.
+ Die Hisbollah greift vom Libanon und von Syrien aus Israel an. Nicht wie die Hamas, mit selbstgebauten Raketen. Sondern mit vergleichsweise modernen Waffen. Die Angriffe gehen gezielt auf israelische Stellungen und Einrichtungen, wie Radaranlagen (auch für den zivilen Flugverkehr) und mit Panzerabwehrraketen gegen das Militär. Unter anderem wurde auch mindestens eine Drohne tief in Israel abgefangen.
Die Hisbollah ist um vieles gefährlicher und besser ausgerüstet als die Hamas. Israel droht ein Zwei-Fronten-Krieg, der aber eigentlich schon Realität ist.
+ Israel hat mehrere Flugplätze in Syrien bekämpft und zum Stillstand gebracht. Darunter den Flughafen der Hauptstadt Damaskus.
Der Hintergrund ist, dass Israel einen direkten Nachschub aus dem Iran unterbinden will. (siehe unten)
Das Assad-Regime hat sich dazu bisher noch nicht geäußert. Die südlichen Landstriche entziehen sich deren Kontrolle. Israel und die USA haben neben dem Iran auch das syrische Regime gewarnt, sich offiziell zu beteiligen.
+ Das Wall Street Journal hat berichtet, dass es eine Verhandlung über die Freilassung von 50 Geiseln gab. Diese Verhandlungen wurden abgebrochen. Die Forderung der Hamas war die Zulassung der Lieferung von Treibstoff in den Gazastreifen und die Freilassung aller in Israel inhaftierten Hamas-Terroristen.
Hinweis: 2011 wurde der israelische Soldat Gilad Schalit gegen 1027 Inhaftierte ausgetauscht. Unter diesen Ausgetauschten war auch der jetzige Chef der Hamas im Gazastreifen Yahya Sinwar, der den Angriff am 7. Oktober organisiert hat. Sein Bruder hatte die Entführung von Gilad Schalit geplant.
+ Heute Morgen erklärte der israelische Armeesprecher Jonathan Conricus, die Hamas habe über eine Million Liter Treibstoff gehortet. Das bedeutet, die Hamas gibt diese bewusst nicht an die von ihr selber betriebenen Krankenhäuser weiter. Stattdessen werden Lieferungen von außen gefordert.
Unter anderem heute durch das ständig zitierte UNRWA, wo von 28.800 Mitarbeitern nur 153 Posten international besetzt sind. Der Rest sind „Palästinenser“. (Auch dazu habe ich mich auf der Fanpage (Si apre in una nuova finestra)geäußert.) Die Gesundheitsbehörde im Gazastreifen ist eine reine Hamas-Einrichtung.
+ Die Proteste und gewaltsamen Übergriffe im Westjordanland (Westbank) gehen deutlich zurück. Offenbar ist es der Hamas nicht gelungen, den Krieg dorthin auszuweiten. Das Hoch war am vergangenen Freitag, 20.10.23, als dort insgesamt 11 Proteste stattfanden, bei denen es zu Zusammenstößen kam. Unter anderem wurden die israelischen Kräfte mehrfach in Betlehem angegriffen.
+ Die „Islamic Resistance of Iraq“ hat in den letzten Tagen verstärkt Einrichtungen der USA im Irak angegriffen. Offenbar haben sie ihre Angriffe nun auch auf den Süden Syriens ausgeweitet. Auch diese eher lose Sammlung von Terroristen wird nachweislich vom Iran unterstützt. Unter anderem wurde die Basis in Al-Malikiya im Irak angegriffen. Alleine um das vergangene Wochenende herum hat das US-Militär dutzende Angriffe abgewehrt.
+ Mehrere OSINT (Si apre in una nuova finestra)haben berichtet, dass sich hunderte Söldner an der syrischen Grenze zu den Golan-Höhen gesammelt haben. Sie stammen aus Syrien, dem Irak und anderen. Dabei sind auch Kämpfer der Liwa Fatemiyoun („Fatemiyoun Division“), einer bewaffneten Gruppe, die von den Islamischen Revolutionsgarden des Iran gegründet wurde.
+ Mehrere Berichte, u.a. von der Nachrichtenagentur Reuters, legen nahe, dass es wohl eine sehr enge und gezielte Zusammenarbeit bei den Angriffen zwischen Hisbollah und dem Iran gibt. Das Ziel scheint zu sein, Israels Aufmerksamkeit vom Gazastreifen abzulenken und im Norden Kräfte zu bündeln. (siehe unten)
+ Der Generalmajor der Islamischen Garden des Iran und Kommandeur der Quds-Brigaden Esmail Qaʾani ist inzwischen in Syrien. Mutmaßlich um die Angriffe der Hisbollah aus Syrien auf Israel zu überwachen oder zu koordinieren. Er hatte Syrien gewarnt (!), dass der Iran Syrien als Drehscheibe verwenden würde, wenn der Krieg eskaliert.
Das sagt viel darüber aus, was das Assad-Regime im eigenen Land eigentlich noch zu sagen hat und wer die Hosen anhat.
+ Nach einem Treffen mit Vertretern palästinensischer Milizen und Terrororganisationen im Jemen erklärte der Anführer der schiitischen und vom Iran finanzierten Huthi-Rebellen Badreddin al-Huthi, man werde israelische Ziele im Roten Meer angreifen, wenn diese den Angriff auf den Gazastreifen fortsetzen. (siehe unten)
+ Vor einigen Tagen haben die USA gemeldet, dass sie Drohnen und Mittelstreckenraketen der Huthi-Rebellen aus dem Jemen über dem Roten Meer abgefangen haben.
Inzwischen haben die USA weitere Flugabwehrsysteme Patriot und THAAD in die Region verlegt. Die Patriot dienen der Abwehr von Drohnen, das THAAD System ist das modernste der Welt gegen ballistische Mittelstreckenraketen. Beides hat nichts mit den selbstgebauten Kassam-Raketen der Hamas zu tun, dabei geht es um Größeres.
+ Inzwischen operieren zwei Flugzeugträger der USA im östlichen Mittelmeer. (USS Gerald R. Ford, Dwight D. Eisenhower) Diese Schiffe operieren immer in einem Verband, es ist jeweils eine kleine Flotte. Über die Verlegung der ersten Flotte hatte ich auf der Facebook Fanpage (Si apre in una nuova finestra) berichtet. Ich gehe davon aus, dass sich mehrere strategische, atomwaffenfähige U-Boote (SSBN) im Bereich des Iran unentdeckt bewegen.
Ebenso hat Großbritannien inzwischen zwei „Versorger“, also Unterstützungs-Schiffe, in die Region verlegt. Mit dabei sind etwa 100 Marines, die für Landungsaufgaben spezialisiert sind. Darüber hinaus fliegt auch Großbritannien Aufklärung, mehrere Poseidon P-8 sind operativ.
Deutsche Schiffe nehmen am UN-Einsatz UNIFIL teil, vor wenigen Tagen hat der Verteidigungsminister eines der Schiffe besucht. Am vergangenen Freitag ist die Fregatte „Baden-Württemberg“ in Wilhelmshaven mit Ziel Libanon ausgelaufen. Sie gehört zu den modernsten Schiffen weltweit, es ist der erste Einsatz einer Fregatte der 125-Klasse.
Ich hoffe dieser sehr grobe und unsortierte Abriss konnte zwei Dinge verdeutlichen:
Zum einen, warum ich die Gewichtung der Berichterstattung der Medien kritisiere. Da alleine diese Gewichtung ein falsches Bild wiedergibt.
Es wird ständig berichtet, dass Politiker von einem Flächenbrand sprechen. Doch die militärische Lage zeigt, dass wir längst einen Flächenbrand haben. Es ist der Öffentlichkeit womöglich gar nicht bewusst, was alles passiert.
Die nächste Stufe der Eskalation, die wohl von den Politikern gemeint und von den Medien nicht erklärt wird, wäre, dass ein Drittstaat wie Syrien offiziell einsteigt. Schlimmer wäre es, wenn der Iran einsteigt. Denn das würde sicher kein Krieg wie im Irak. Die gesamte islamisch-arabische Welt würde ins Chaos abrutschen. In Bürgerkriegen und im Konflikt Sunniten gegen Schiiten.
Zudem besteht die Gefahr, dass es zwischen den Staaten selber eskaliert. Denn auch wenn es aus europäischen Augen anders erscheinen mag: Die islamisch-arabische Welt ist zutiefst gespalten.
Zum anderen gibt es hoffentlich einen Eindruck, warum ich derzeit nicht mit dem Erklären hinterherkomme. Denn dies alles sind nur die ad hoc und subjektiv wichtigsten Meldungen der letzten vier Tage.
Die Medien
Ich unterstelle den Medien, dass sie gar keine Kompetenz besitzen, um die militärische und sicherheitspolitische Lage zu beurteilen. In den Medienhäusern sind nur sehr wenige Redakteure tätig, welche einen entsprechenden Hintergrund haben.
Und das führt wiederum dazu, dass vor allem Agenturmeldungen wiedergegeben werden. Das Einzige, was passiert, ist, dass solche Meldungen in hunderten Veröffentlichungen durchgekaut werden. Aber im Grunde ein und die gleiche Meldung sind. Was einen falschen Eindruck erweckt. Liest man sie aufmerksam, merkt man, dass es das Gleiche ist. Wie auch bei der Ukraine häufig nur in Live-Tickern.
Diese Meldungen zusammensetzen und zu einem Bild zu formen, das die Menschen tatsächlich informiert, können die großen Medien gar nicht. Oder haben kein Interesse daran. Sie kaufen höchstens Gastbeiträge von Fachleuten oder setzen sich vermeintliche Experten ins Studio, die dann ungefilterten Unfug erzählen. (General Vad, ntv)
Deshalb wird fast ausschließlich über Politiker und die humanitäre Lage berichtet. Weil das leicht zu bekommende und verarbeitende Informationen sind, die auch noch viele Klicks bringen.
Das Problem dabei ist, dass die Menschen sich dadurch informiert fühlen, aber nicht sind
Tatsächlich gehe ich davon aus, dass sich derzeit kein einziger „westlicher“ Journalist auch nur in der Nähe des Gazastreifens befindet - geschweige denn im Nordwesten des Irak oder Süden von Syrien - und das es vermutlich weltweit höchstens ein Dutzend Redakteure gibt, welche die Lage in Nahost beurteilen und einordnen können.
Selbstverständlich ist das Schicksal der Unbeteiligten im Gazastreifen relevant.
Aber es wird medial und auf Social Media nur noch wie durch ein Brennglas darauf geguckt. Und die gesamte Lage geht unter.
Wenige Stimmen sind in den Medien zu hören, die von einer Zeit nach dem Krieg sprechen. Die sind offensichtlich ihrer Zeit voraus. Die Mehrheit der Menschen scheint noch gar nicht verstanden zu haben, was da gerade passiert.
Ich sehe derzeit zwei große Risiken
Bevor Ängste aufkommen: Ich rechne nicht mit einem Atomkrieg. So gar nicht.
Aber die USA, Israel, Saudi-Arabien und die großen Handelspartner wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien werden das nicht so einfach bewenden lassen.
Die Landkarten der Region und die Lager werden am Ende dieses Jahrzehnts deutlich anders aussehen als gestern.
Ich sehe derzeit zwei große Risiken.
Zum ersten, dass der Iran offiziell einsteigt. Das halte ich aber eher für unwahrscheinlich.
Und zum zweiten, dass vom Iran unterstützte Kräfte in der Waffengewalt eskalieren. Der Einsatz von Mittelstreckenraketen durch die Huthi ist bereits eine solche Eskalation. Sollte eine solche Rakete Israel erreichen, wird unberechenbar, wer wann wie reagiert.
Dazu sei daran erinnert, dass Israel über die Mittel verfügt, auch 2000km entfernte Ziele im Jemen zu bekämpfen.
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