Passa al contenuto principale

Über brüllende Blaubeeren

Natürlich bin ich nicht auf Facebook, sagt mein Sohn, da sind nur lauter alte Leute die sich gegenseitig anschreien

ICH bin auf Facebook, sage ich.

Mein Sohn schaut mich an, als wäre meine Antwort selbsterklärend. Ich schaue ihn an, offensichtlich fragend.

Naja, du bist alt, sagt er also so, als wäre ich auch noch begriffsstutzig. Und außerdem, fügt er hinzu, schreist du auch ganz gern mal Leute an.

Tu ich nicht, sage ich, und vergesse, dass ich eigentlich empört sein sollte, weil er mich als alt bezeichnet.

Ich hab schon ewig keine Leute mehr angeschrien, sage ich, höchstens vielleicht den alten Mann mit dem Tropfen an der Nase letzte Woche, aber der wollte es so.

Ja, klar, der wollte es so, sagt mein Sohn.

Ja, der wollte es so, sage ich und erzähle ihm die Geschichte.

Ich war gerade dabei in dem Netto bei uns um die Ecke um lebensrettende Einkäufe zu tätigen. Aber ich tat es gegen 11 Uhr vormittags, wo gefühlt das halbe Viertel in der gleichen Mission unterwegs war. Also diejenigen von uns, die zu dieser Zeit keiner geregelten Arbeit nachgehen. Rentner (zu denen ich noch nicht gehöre, nur um das noch einmal für gewisse Anwesende zu betonen, die anderweitiges unterstellen), Hausfrauen (zu denen ich schon irgendwie gehöre, weil ich eine Frau bin, die sich vorwiegend in einem Haus aufhält, weil ihr die Welt oft zu laut und bunt ist), Nachtschichtler (ja, zu denen ich auch gehöre, aber nicht mehr so oft wie früher noch), schwänzende Schüler (zu denen ich definitiv gehörte, als ich noch zu den Schülern allgemein gehörte)  und verrückte Poetinnen (zu denen vermutlich niemand anders gehört, außer ich, aber ich kann das öffentlich gut verstecken).

An der Tiefkühltruhe sprach er mich an, gerade als ich meinen Schatz geborgen hatte und dabei war, ihn im Einkaufskorb zu verstauen.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte er sehr höflich, und als ich nicht gleich verstand, dass er mich meinte, kam er näher und wiederholte sich. „Entschuldigen Sie bitte!“

Er lächelte mit prächtigen, ein bisschen zu großen weißen und eindeutig falschen Zähnen in einem winzigen, eingefallenen Gesicht. Er war alt. Also richtig, richtig alt (nicht in dem Sinne alt, wie es junge Söhne definieren). Er sah genau so aus, wie ich mir einen Hundertjährigen vorstellte. Tief gebeugt. Reste von schlohweißem Haar. Mehr Falten als Haut. Kleider, die vielleicht vor 50 Jahren einmal modisch gewesen waren. Hemd, Jackett, Cordhosen. Und an seiner schnabelartigen Nase hing ein dicker Tropfen.

Ich lächelte zurück. Wenn Leute freundlich zu mir sind, bin ich es auch. Jahrzehntlange Begegnungen mit Unterschriftensammlern, Abo-Jägern, Zuhältern, religiösen Fanatikern, usw., haben mich nicht klüger gemacht.

„Was haben Sie denn da Interessantes?“, fragte er und zeigte auf das, was ich in der Hand hielt. „Ich habe gesehen, wie Sie das gerade aus der Truhe nahmen, und ich fragte mich, was könnte denn das Interessantes sein!“

Es war eine Packung veganes Peanut-Butter-Cookie-Dough-Eis. Er hielt in seiner Hand eine Dose mit Dauerwurst. Nichts hätte es deutlicher machen können, dass wir aus unterschiedlichen Welten kamen.

„Ähm, das ist Eis“, vereinfachte ich, weil ich ihn nicht mit neumodischen Begrifflichkeiten überfordern wollte, die mich selbst manchmal schon überforderten.

„Wie bitte?“, fragte er und rückte noch ein Stück näher. Er roch ein bisschen nach Kartoffelkeller und Seife.

„Eis!“, sagte ich lauter, „Eiscreme!“

„Wie bitte?“

„Eis!“, rief ich, „Eiscreme! Ähm, Vanilleeiscreme!“

„Ah“, er nickte erfreut. „Vanilleeiscreme! Das essen meine Frau und ich auch gern, mit Heidelbeeren essen wir das!“

„Heidelbeeren sind gut!“, rief ich.

„Wie bitte?“

„Heidelbeeren sind gut!“, brüllte ich ein bisschen verzweifelt. „Die haben sehr viele Antioxidantien!“

Er war mir inzwischen so nah, dass ich ihm mitten ins Gesicht brüllte. Menschen drängten sich an uns vorbei und warfen uns Blicke zu. Der Tropfen an seiner Nase saß so fest und unbeweglich als wäre er aus Plastik.

„Wie bitte?“

„Ich mag Heidelbeeren!“, wiederholte ich. Brüllend. „Sie sind voller Antioxidantien und Vitamine! Genauso wie Rotkohl oder Süßkartoffeln!“

Ich fragte mich, wann ich angefangen hatte, über Gemüse zu dozieren, sobald ich nicht weiterwusste.

Der alte Mann nickte lächelnd. Der Tropfen bewegte sich kein Stück.

„Jaja“, sagte er, „aber sie sind schwer zu finden, die Heidelbeeren. Wir pflücken sie immer, meine Frau und ich.“

„Im Schwarzwald kann man die pflücken!“, brüllte ich. Mir wurde langsam warm. Eigentlich versuchte ich stets, meine Einkäufe in der Menschenwelt möglichst rasch und unauffällig hinter mich zu bringen. Und jetzt stand ich in einem überfüllten Supermarkt und brüllte einem alten Mann mitten ins Gesicht.

„Oh, im Schwarzwald!“ Er hatte mich immerhin verstanden. Seine Augen wurden auf einmal irgendwie heller. „Im Schwarzwald, oben auf der Hornisgrinde, da pflücken wir die. Ach, ist das ein wunderschöner Fleck Erde da oben!“

„Da oben bin ich auch oft“, brüllte ich, und vergaß ganz, dass ich brüllte. „Dort ist es wirklich wunderschön!“

Und für einen Moment trennte uns kein halbes Jahrhundert mehr, und wir standen beide da oben nach einem schweißtreibenden Aufstieg durch verwunschene Wälder, vorbei an vermoostem Fels auf steilen Pfaden, dort oben, wo sich das Hochmoor erstreckte wie eine fremde Welt und die Blaubeeren wuchsen, und ich konnte ganz deutlich sehen, wie er ausgesehen hatte, als sein Rücken noch gerade und seine Nase ohne Tropfen gewesen war.

Und ich konnte in seinen Augen sehen, dass er gerade eben auch dort gewesen war.

„Auf Wiedersehen!“, brüllte ich ein letztes Mal, und er nickte und lächelte, und auf dem Weg zur Kasse wünschte ich, dass es seine Frau zuhause wirklich noch gab und sie ihm den Tropfen liebevoll aus dem Gesicht wischen würde.

Die Frau an der Kasse grinste mich an. Es war die mit dem straffen Pferdeschwanz und der Fernsehnachrichtensprecherstimme, die nie zu dem passte, was sie sagte.

„Wollen Sie nicht bei uns anfangen?“, fragte sie. „Sie kennen sich anscheinend echt gut mit Obst und so was aus!“

Am nächsten Tag war ich übrigens heiser.

 

 

 

 

 

 

Argomento Trotzigschön

2 commenti

Vorresti vedere i commenti?
Abbonati a Trotzigschoen e partecipa alla conversazione.
Sostieni