Triathlonpost 14: In Gedanken nach dem Ironman Hamburg
Meine Gedanken zum Ironman Hamburg.
Es ist unsagbar traurig, was gestern in Hamburg passiert ist. In erster Linie und vor allen Dingen für den verstorbenen Motorradfahrer und seine Hinterbliebenen. Die besten Wünsche gehen an die beiden anderen Beteiligten des Unfalls, einen Kameramann und einen Age Group-Athleten. Und natürlich sollte auch an die gedacht werden, die als Ersthelfer am Unfallort waren oder mit den Folgen des Unfalls einen Umgang finden müssen.
Bevor ich mit meinem Bericht beginne, noch eine wichtige Info: Das hier ist keine recherchierte Berichterstattung, denn dazu müssen in den kommenden Tagen weitere Statements abgewartet sowie Fragen gestellt und Antworten abgewartet werden. Eine Mail mit folgenden Fragen habe ich heute an Ironman geschickt und hoffe nun auf Rückmeldung, um dich darüber informiert zu halten:
Wie viele Motorräder waren während des Wettkampfs auf der Strecke?
Welche Parameter werden zu Grunde gelegt, um über die Anzahl der Motorräder auf einer Strecke zu entscheiden?
Welche Maßnahmen werden getroffen, um die Motorradfahrer auf ihren Einsatz vorzubereiten?
Wie sehen die Richtlinien aus, nach denen sich die Motorräder auf der Strecke zu verhalten haben?
Warum wurde im IM-Livestream der Vorfall und dessen Folgen nicht kommuniziert, als die offiziellen Meldung bekannt waren?
Warum wurden Fragen und Kommentare von Usern unter dem Livestream gelöscht?
Warum wurde die Kommentarfunktion deaktiviert?
Der Tag beim Ironman Hamburg und meine Gedanken
Mir steht es nicht zu, darüber ein Urteil zu fällen, ob es richtig oder falsch ist, so ein Rennen weiterlaufen zu lassen oder es abzubrechen, dennoch gab es viele Dinge, die ich aus moralischen und ethischen Gesichtspunkten nicht nachvollziehen und unwürdig finde, darum soll es unter anderem gleich gehen.
Es war eine seltsame Mischung aus Ungläubigkeit, Schockmoment und Hoffnung, als auf dem Smartphone-Bildschirm in der Live-Übertragung zu sehen ist, wie auf der Radstrecke offensichtlich ein schwerwiegender Unfall passiert ist. Es muss auf der Strecke eine Kollision zwischen einem Begleitmotorrad der Spitzengruppe und einem entgegenkommenden Athleten gegeben haben. Keiner weiß etwas genaues und niemand versteht die Situation auf Anhieb. Plötzlich ist nichts mehr übrig von der traumhaften Stimmung des perfekten Rennmorgens, der freudigen Erwartung auf die Ereignisse des Tages oder Diskussionen über Zwischenzeiten und Updates aus dem Athletentracker. Stattdessen tritt ein kollektives Abwarten ein: Was ist passiert? Welche Folgen wird der Unfall haben? Wie geht es jetzt mit der Veranstaltung weiter? Ab jetzt habe ich fast ununterbrochen mein Handy in der Hand, um etwas in Erfahrung zu bringen. Ich tickere Sebi an, der im Rundfunkstudio des NDR sitzt, um den Livestream zu kommentieren. Auch dort herrscht noch Ratlosigkeit, gleichzeitig laufen alle Bemühungen, um Informationen erhalten und weitergeben zu können.
In den darauffolgenden Minuten wird es unübersichtlich und allmählich deutlich, dass es für dieses Szenario keine klare Handhabung gibt. Nach und nach sickern erste Meldungen durch: Es gibt drei Verletzte, das Rennen wird vorerst weiterlaufen. Währenddessen will jemand über Polizeifunk mitbekommen haben, dass eine Person reanimiert werden muss. Wenig später heißt es: Es gibt drei Verletzte, das Rennen wird weitergehen, aber die Strecke soll verkürzt und ein Wendepunkt vor der Unfallstelle eingerichtet werden. Der nächste Status Quo-Bericht kommt über den NDR-Livestream: Es gibt drei Verletzte, das Rennen geht weiter, die Strecke wird nicht verkürzt, stattdessen muss an der Unfallstelle abgestiegen und vorbeigeschoben werden. Die späteren Bilder der Athlet*innen, die dort schiebend und stolpernd über den Deich schleichen, gleichen einem perfiden Affentheater. Erst Recht, als die traurige Gewissheit einkehrt, dass dort an Ort und Stelle ein Mensch ums Leben gekommen ist. Nach dem Rennen erfahre ich, dass irgendwann im Verlaufe des Vormittags eine Umleitung der Rennstrecke eingerichtet worden war, wodurch die Unfallstelle dann später aus einer Richtung umfahren werden konnte und nur noch von einer Seite herumgelaufen werden musste. Der NDR hatte inzwischen die Live-Berichterstattung abgebrochen, nachdem ein Polizist im Interview mit Sportschau-Reporter Ralf Scholt die Unfallfolgen bestätigt hatte. Rund um die Veranstaltung vor Ort geht alles seinen Gang. Ironman gibt den Ton an: Aus den Boxen schallt Partymusik von „Oh Johnny“ bis „Macarena“, dazwischen weiterhin Moderation vom Streckenrand. Eine Information zum Unfall und dem Tod des Motorradfahrers erfolgt auf der Finishline vor dem Einlauf der ersten Profis.
Währenddessen im Livestream von Ironman: Kein Wort zu dem Unfall und den schrecklichen Nachrichten. Dort werden keine Bilder gezeigt, wie Athletinnen und Athleten um die Unfallstelle herum geleitet werden. Stattdessen reden die Kommentatoren von „perfect conditions“ und einem „beautiful sunny day in Hamburg“. Fragen zum Unfall, die in den Kommentaren gestellt werden, verschwinden kurze Zeit später wieder. Kritische Äußerungen werden zuerst gelöscht, dann die Kommentarfunktion komplett deaktiviert. Screenshots zeigen folgende Information: „IRONMAN hat eingeschränkt, wer diesen Beitrag kommentieren kann.“ Normalerweise wird dort während den Rennen gefachsimpelt, die Moderatoren stellen fragen und fordern die Leute auf, sich in den Kommentaren einzuschalten und mitzumachen. Es vergehen Stunden, bis die Moderatoren beiläufig einen Unfall erwähnen, zu dem sie aber noch keine offiziellen Informationen erhalten haben wollen. Zu dieser Zeit sind die sozialen Medien und größten deutschen Medienportale bereits voll mit Meldungen zu den Geschehnissen und Mitleidsbekundungen für die Angehörigen. Greg Welch, einer der Moderatoren des Streams, wird mehrfach in den sozialen Medien verlinkt und auf seine Pietätlosigkeiten hingewiesen. Der Ironman-Livestream läuft weiter und weiter und weiter. Die Moderatoren feiern die Spitzenleistungen der Profis, loben die herausragenden Bedingungen und gehen in regelmäßigen Abständen in den nächsten Werbeblock. Kein Wort zum Unfall, keine Informationen zu den Auswirkungen auf die Strecke oder für die Teilnehmer*innen, nichts. Nachdem die Top10 der Profis im Ziel ist, verkünden sie den Unfall, den Tod des Motorradfahrers und beenden daraufhin die Übertragung. Etwa fünfeinhalb Stunden nachdem es zu dem Zusammenstoß gekommen war.
Je mehr Überblick ich zurückgewinne, je mehr ich mitbekomme und je mehr Nachrichten mich von allen möglichen Seiten erreichen, desto unruhiger und aufgebrachter werde ich. Es ist gut, dass Nis Sienknecht als guter Freund mit mir an der Strecke ist und er mir dabei geholfen hat, keine Kurzschlussreaktionen aus der Emotion heraus zu posten, die weder Mehrwert, noch Nutzen gehabt hätten. Am Streckenrand fühle ich mich zunehmend unwohl und fehl am Platz. Nach den ersten anderthalb Laufrunden mache ich mich auf den Weg Richtung Hotel. Mir macht das alles zu schaffen und je länger ich über die Geschehnisse des Vormittags nachdenke, desto trauriger und enttäuschter fühle ich mich.
Die Ruhe im Hotel tut gut. Ich schreibe Fragen auf, die sich für mich aus den letzten Stunden ergeben. Einen Teil davon habe ich in der Mail an Ironman geschickt, allerdings wandern meine Gedanken weiter und so werden aus praktischen, organisatorischen Fragen, zunehmend sportlich ethische Themen, die mir in den Kopf kommen:
Der Unfall ist unmittelbar bei der mehrköpfigen Spitzengruppe passiert, in Sicht- und Hörweite der Athleten. Offensichtlich hat keiner der Athleten gestoppt, um zu helfen. Aus zwei Gründen bekomme ich Gänsehaut bei der Feststellung: Bis ich diese Erkenntnis gewinne bzw. Beobachtung formulieren kann, dauert es über sechs Stunden. Der Unfall passierte etwa um 8:45 Uhr, ich notiere um kurz nach 15 Uhr: Warum hat keiner der Profis angehalten, um zu helfen? Ich schüttle ungläubig meinen Kopf, dass mir das erst jetzt auffällt - ich schüttle allerdings nicht den Kopf aus Unverständnis gegenüber den Profis, sondern aus Enttäuschung mir selbst gegenüber. Also frage ich mich: Was hätte ich denn wohl gemacht, wäre ich Teil dieser Spitzengruppe gewesen? Wie hätte ich reagiert? Hätte ich gestoppt, um zu helfen? Die Antwort ist ehrlich und traurig zugleich: Nein. Ich hätte vermutlich nicht gestoppt und wahrscheinlich hätte ich in dem Moment nicht einmal daran gedacht oder mir die Frage gestellt. Und das gibt mir zu denken. Es ist bitte nicht falsch zu verstehen oder als Vorwurf in Richtung der Profis, die in der Spitzengruppe waren - sondern als Selbsterkenntnis, die ich denkwürdig finde und auf die ich nicht sonderlich stolz sein kann. Hat das der Triathlonsport mit einem gemacht? Der unabdingbare Fokus auf sich selbst?
Und dann ein weiterer Gedanke: Nach dem Unfall kann die Spitzengruppe ihren Wettkampf fortsetzen, während das Rennen quasi aller dahinter liegenden Profis für mehrere Minuten - etwa viereinhalb - unterbrochen wird, bevor sie an der Unfallstelle weiterfahren können. Age Grouper mussten später teilweise noch länger dort stehen bleiben. Ich bekomme alle möglichen Diskussionen von Betreuerteams unterschiedlicher Athleten mit - allerdings keinen einzigen Impuls dazu, ob und wie das Rennen unter diesen Voraussetzungen weiterhin fair ausgetragen werden könnte. Immerhin geht es um einen Europameistertitel, Preisgelder und WM-Slots. Jeder ist mit sich und seinem Athleten beschäftigt, um noch irgendwie das Beste aus der Situation herauszuholen. Das ist die Denke im professionellen Leistungssport. Und auch das ist bitte als nüchterne Beobachtung zu verstehen. Was ist aber mit Werten wie Sportsgeist, Fairplay und Gleichberechtigung? Über diese Werte wurde gar nicht diskutiert, nicht mal ansatzweise. Natürlich könnte man die Verantwortung für faire Rahmenbedingungen auf den Veranstalter schieben, aber wenn dort nichts zu erwarten ist, sollte man sich doch an die eigene Verantwortung erinnern: Natürlich können sich die Betreuer der Sportler abstimmen, Entscheidungen treffen und sie ihren Athleten mitteilen. Um es an einem plumpen Beispiel festzumachen: Alle Profis rollen gemeinsam in die Wechselzone und dort geht der Wettkampf auf der Marathonstrecke weiter. Ich will nicht sagen, dass ich es besser wissen würde oder weiß. Keinesfalls. Ich hatte diesen Impuls gestern ja auch nicht unmittelbar, sondern erst viel später nach dem Rennen. Aber ich würde mir im Sinne des Sports wünschen, dass solche Denkweisen, Verantwortungsbewusst und Handlungsbereitschaft existierten - in anderen Köpfen und in meinem eigenen.
Es gibt zwei Dinge, die für mich als Person, als leidenschaftlicher Triathlonfan und als selbstständiger Medienschaffender übrig bleiben: Es sollte mehr Verantwortung dafür übernommen werden, was wir aus dem Triathlonsport machen, was wir von den Protagonisten erwarten und uns darüber bewusst sein, wie wichtig oder unwichtig unsere Rollen in der überschaubaren Triathlonwelt (teilweise) sind. Es gibt sicher Probleme, die hausgemacht sind. Ich spreche beispielsweise von dieser Übermenge an Motorrädern auf den Wettkampfstrecken. Muss es wirklich sein, dass jedes noch so kleine Triathlonmedium mit einem Motorrad auf der Strecke ist, um am Ende des Tages eigene Aufnahmen zu produzieren, die unterm Strich überall die gleichen sind? Dass Event-Sponsoren Motorräder auf die Strecke schicken, um eigenen Content produzieren zu lassen? Dass athleteneigene Fotografen auf Motorrädern sitzen? In dieser Situation bin ich froh, in keiner Abhängigkeit zu stehen und obwohl ich die meisten Leute persönliche kenne, schätze und gerne mag, muss darüber gesprochen werden, auch wenn es unangenehm ist. Es ist nichts persönliches und erst recht nichts neues, dass sich meiner Meinung nach die Fachmedien die Frage stellen müssen, ob es zeitgemäß ist und sich rechtfertigen lässt, ausschließlich hauseigene Inhalte zu produzieren, oder ob hier ein System des Miteinanders, des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung entstehen muss, um auf gemeinsame Quellen zugreifen zu können und somit die Anzahl der benötigten Motorradplätze zu reduzieren. Es ist eine Diskussion, die mit involvierten Personen und Parteien, die im und mit Triathlon ihr Geld verdienen - vor allem Medienschaffende - geführt werden muss. Ja, es gibt freundschaftliche Verbindungen zwischen Profisportlern, Medien, Veranstaltern, Managern, Sponsoren - das ist ja auch das Schöne an unserer kleinen Triathlonwelt. Und ob es nun Freundschaften sind oder der gegenseitige Respekt voreinander, im Kern sollte es darum gehen, das Beste für und mit dem Triathlonsport als Ganzes zu erreichen, in dem sich jeder hinterfragt und nach gemeinsamen Lösungsansätzen gesucht wird.
P.S.: Aufgrund der Geschehnisse und den außergewöhnlichen Umständen, habe ich mich entschieden, diese Triathlonpost öffentlich zugänglich zu machen.