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Wer hätte das gedacht: Das Quasi-Todesurteil für Lützerath hat das winzige Dorf erst so richtig belebt. Ich war vor Ort und habe mir die 1,5-Grad-Grenze mit eigenen Augen angeschaut. 

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#39 #Klimagerechtigkeit #Reportage

Zwischen Kuscheln und Kämpfen

Die Polizei will Lützerath im Januar räumen, damit RWE das Dorf abbaggern und weiter Kohle verfeuern kann. Die Aktivist*innen vor Ort haben andere Pläne. Ein Lagebericht von der 1,5-Grad-Grenze. ~ 7 Minuten Lesezeit

Plötzlich ist da dieser riesige Krater mitten in der Landschaft: der RWE-Tagebau Garzweiler, ein einziges „Fuck you“ an den Planeten. Wo die Klimakrise sonst schwer greifbar ist und man über abstrakte CO₂-Emissionen oder Grad-Grenzen spricht, schreit einen die Naturzerstörung hier in Lützerath regelrecht an.

An der Kante fällt das Loch tief in den Boden. Unten liegt ein kaputtes Zelt, ein Camping-Stuhl und mehrere Papierflieger. Frustrierte Menschen ließen sie in das Loch segeln, nachdem sie ihre Wut gegen RWE auf das Papier geschrieben hatten.

Drei Musiker mit Gitarren stellen sich direkt vor der Kante auf. Es ist kaum möglich, hinter ihnen am Horizont mit den Augen einen Punkt zu fixieren. Die drei stimmen einen Folk-Song an, ein vierter läuft mit dem Handy um sie herum und filmt. Sie trotzen dem klaffenden Loch und allem, was es bedeutet. Würde die Musikkapelle der Titanic noch einmal spielen – das wäre ihr Auftritt.

„Lützerath ist ein Dorf voller Leben“, sagt Noah, deutet auf die Musiker und geht an ihnen vorbei bis zur Kante. Mara begleitet Noah. Die beiden wohnen im Camp, das die Aktivist*innen von „Lützerath Lebt“ hier errichtet haben. Noah blickt in den Krater auf die Maschinen, die dort schwerfällig vor sich hin graben, langsam aber sicher, immer weiter Richtung Lützerath.

Der Schaufelradbagger laufe 24 Stunden durch, sagt Noah. Auch nachts höre man ihn knurren. Er ist das größte Landfahrzeug der Welt, 13.500 Tonnen schwer und knapp 100 Meter hoch. Und dennoch lässt ihn der Tagebau Garzweiler klein aussehen. Das Loch ist 200 Meter tief und 48 Quadratkilometer groß, Berlin-Neukölln würde hier bequem hineinpassen.

„Die Maschinen sehen aus wie Spielzeug. Man kann das auf Fotos oder Videos gar nicht einfangen.“ Anfangs habe Noah angesichts der Zerstörung jedes Mal geweint. Inzwischen nicht mehr. Offenbar gewöhnt man sich schnell an diesen Anblick.

Die 1,5-Grad-Grenze verläuft durch Lützerath

Lützerath ist ein sinkendes Schiff, bald soll es im Krater verschwinden, denn RWE will an die Braunkohle, die unter dem Dorf liegt. Die ehemaligen Bewohner*innen sind alle weg. Bauer Eckardt Heukamp, der gegen RWE geklagt hatte, um sich gegen den Verlust seiner Heimat zu wehren, ist am längsten geblieben. Doch am Ende musste auch er seine Sachen packen. Die Aktivist*innen von „Lützerath Lebt“ aber bleiben. Und sie wollen von Untergangsstimmung nichts wissen.

Vor zwei Jahren haben sie in Lützerath ihr Camp errichtet. Seitdem ist der Ort zu Deutschlands größtem Schauplatz für Klimagerechtigkeit geworden. Genau hier verläuft die 1,5-Grad-Grenze: Wenn die Bagger über diese Grenze hinweg graben und RWE die Kohle unter Lützerath verbrennt, dann wird es für Deutschland so gut wie unmöglich, sein Emissionsbudget einzuhalten und einen fairen Beitrag für 1,5 Grad zu leisten.

Prominente Aktivist*innen waren in Lützerath, Luisa Neubauer und Greta Thunberg, Elizabeth Wathuti aus Kenia und Kaossara Sani aus Togo. Sie alle machten das Dorf zum Symbol für den deutschen Kohleausstieg, doch auch sie konnten nicht verhindern, dass die grünen Wirtschaftsministerien von NRW und Bund Anfang Oktober einen Deal mit RWE verkündeten: Der Kohleausstieg im Rheinischen Revier wird auf 2030 vorgezogen, kurzfristig sollen aber zwei Kraftwerksblöcke länger laufen und auch Lützerath darf noch abgebaggert werden.

Momentan leben rund 50 Menschen hier, sie schlafen in besetzten Häusern, Baumhäusern, Hütten und Zelten. Sie bleiben, um sich der Räumung des Ortes zu widersetzen. Eigentlich war immer klar: Ihr Leben hier hat ein Ablaufdatum, auch wenn nicht sicher war, wann es so weit sein würde. Inzwischen wissen sie: Der Räumungsversuch beginnt im Januar (Si apre in una nuova finestra). Das bestätigten kürzlich Polizei und Innenministerium.

Der Tag der Konfrontation steht kurz bevor. Was bedeutet das für die Aktivist*innen, die bis zur letzten Minute in Lützerath bleiben wollen? Wie organisieren sie sich? Und was treibt sie an, in einer Situation, die nicht nur aussichtslos erscheint, sondern auch gefährlich ist?

Zusammentun, um etwas zu bewirken

Noah und Mara wenden dem Krater den Rücken zu und gehen zurück ins Camp. Sie sind Nachbar*innen und leben dauerhaft hier. Wie hat es sie hierher verschlagen? „Ich habe mit 12 angefangen, mich mit der Klimakrise zu beschäftigen. Mit 14 sind mir die globalen Zusammenhänge aufgegangen“, sagt Noah. „Seitdem habe ich Klima-Depressionen. Ich hatte die Wahl: Entweder in der Ecke sitzen und jammern oder mich mit Menschen zusammentun, um gemeinsam etwas zu bewirken. Irgendwann habe ich so viel im Aktivismus gearbeitet, dass ich nicht mehr richtig geschlafen und nur noch Powernaps gemacht habe.“

Mit 17 kam der Burnout und Noah musste die eigenen Grenzen neu ziehen. Später outete sich Noah als nicht-binäre Transperson, was zum Bruch mit den Eltern führte. Im Spätsommer, mit 21 Jahren, zog Noah nach Lützerath.

In Medienberichten über Lützerath wird das Camp immer wieder mit dem Bild der Festung beschrieben. Vor dem Eingang zum Camp wird klar, warum. Zwei Türme aus Holz, drei Meter hoch, stehen links und rechts am Wegesrand, der Zugang lässt sich mit Bauzäunen versperren. Zwischen den Türmen hängt ein Banner mit der Aufschrift „Lützerath Lebt“. Weiter vorne steckt ein kleines Schild im Boden: „Don’t take photos of people.“

Auch Noah und Mara wollen nur vermummt fotografiert werden. Der Grund: Angst vor Repressionen durch die Polizei. Zu oft werden Klima-Aktivist*innen schon wegen zivilem Ungehorsam in lange Präventivhaft genommen (Si apre in una nuova finestra). Viele der Campenden hier nutzen Pseudonyme, um ihre Identität zu schützen. Einige laufen dauerhaft vermummt herum.

Noah und Mara gehen auf den großen Zeltplatz, vorbei an einer Baumreihe, die sie „Reihenhaussiedlung“ nennen – hoch oben haben Aktivist*innen ein Baumhaus neben dem anderen in die Kronen gebaut – und steuern auf einen großen Holzturm mit mehreren Ebenen zu. Auf der obersten Ebene stehen zwei Sofas, ein Banner hängt herab: „Burn Shell, not oil“. An beiden Seiten des Turms sind große Planen aufgespannt. Darunter versammelt sich das ganze Camp regelmäßig zum Plenum.

Dann geht es weiter, an vereinzelten Zelten vorbei, bis sie vor einem hohen, kahlen Baumstamm Halt machen. Er steht alleine, mitten auf der Wiese, Rinde und Äste wurden entfernt, zahlreiche Sprossen verwandeln ihn zu einer Leiter ins Nichts. Noah tritt mit einem Fuß gegen den Stamm. „Das ist ein Monopod. Den haben wir gestern hier aufgestellt, mit nichts als Muskelkraft und Flaschenzügen. Das war richtiges Teamwork.“

„Nicht nur uns wird das Zuhause genommen, sondern Menschen weltweit“

Noah trägt Piercings in Nase und Lippe und einen Ohrring aus Bügelperlen. Beim Erzählen gestikuliert Noah. Wozu ein Monopod gut ist? Wenn es zur Räumung komme, könnten Menschen hochklettern und die Polizei behindern. Dann deuten die beiden auf sechs Seile, die ganz oben am Monopod in alle Richtungen gespannt und an umstehenden Bäumen befestigt sind. Die gesamte Struktur sei auf die Bäume angewiesen. Wenn ein Mensch dort oben ist, können die Bäume also nicht einfach gefällt werden.

Von solchen „Strukturen“, wie die Aktivist*innen die Konstruktionen nennen, gibt es auf dem Camp viele: Monopods, Baumhäuser, Hütten, Barrikaden. „Es gibt verschiedene Methoden, die Räumung zu erschweren“, sagt Mara. Dazu gehöre schon, allein mit dem eigenen Körper anwesend zu sein.

Aber auf den Monopod klettern? Das ist doch lebensmüde – würden sie das machen? Noah zögert, lächelt dann. „Es geht nicht darum, wozu wir bereit sind und was wir genau machen, wenn es zur Räumung kommt. Wir haben hier einen Ort geschaffen, um verschiedene Kämpfe zu verbinden.“

Beim Kampf vor Ort gegen RWE gehe es nicht nur um die Rettung des mindestens 800 Jahre alten Dorfs. Wird Lützerath zerstört, bedeute das auch, dass durch den Abbau und die Verbrennung der Kohle die Klimakrise weiter angeheizt wird – was globale Auswirkungen hat. Man sehe das jetzt schon, in Indien, in Pakistan, in Nigeria. „Nicht nur uns wird das Zuhause genommen, sondern Menschen weltweit“, sagt Noah. „Durch die Folgen der Klimakrise, die hier erzeugt wird.“

Die Lützerath-Utopie

Wenn es so weit ist und die Räumung beginnt, wird die Zahl der Aktivist*innen vor Ort wieder deutlich steigen. Mehr als 10.000 Menschen haben online mit Namen unterschrieben und zugesichert, nach Lützerath zu kommen und sich dem Abriss in den Weg zu stellen.

So manche haben Angst, dass die Situation zu einem zweiten Hambacher Forst eskalieren könnte. Die Räumung damals, die im Nachhinein als rechtswidrig erklärt wurde, zog sich über Wochen und lief teils gewaltvoll ab. Ein Mensch starb, als er von einer Hängebrücke stürzte.

Beobachter*innen aus Politik und Polizei warnen, dass sich hier in Lützerath „gewaltbereite Linksextremist*innen“ unter die Klimabewegung mischen könnten. Ein Vorwurf, über den Noah und Mara lachen, weil er ihnen so absurd vorkommt. „Eigentlich alles, was die Aktivistis wollen, ist kuscheln“, sagt Noah.

Die beiden haben keine große Lust, länger über die drohende Konfrontation zu sprechen. Der Räumungsversuch habe eigentlich gar keinen besonderen Stellenwert, sagen sie. „Es steht nicht im Fokus, ob und wie wir verteidigen“, sagt Noah. Aber was dann?

Die beiden haben die große Wiese inzwischen verlassen. Sie sind auf dem Weg zu einer großen Halle auf dem anderen Ende des Grundstücks, zur „Küfa“, der Küche für alle. Die Küche wird gemeinschaftlich organisiert, jede*r übernimmt Schichten – genau wie bei allen anderen Arbeiten auch, die im Camp anfallen. Ein klassischer WG-Kühlschrank mit Namensschildern, in dem jede*r ein eigenes Fach hat, ist hier unvorstellbar. Alles ist für alle da. Das Essen ist zum Teil gespendet. Die Aktivist*innen arbeiten mit Foodsharing-Anbietern zusammen. Sie kaufen aber auch mit Geldspenden selbst ein und bauen in einem Garten eigenes Gemüse an.

Das sei es, worum es in Lützerath gehe, sagt Noah: um das gemeinschaftliche Zusammenleben in Solidarität. „Wir wollen vormachen, wie wir uns die Welt als einen besseren Ort vorstellen.“ Lützerath sei längst zu einem Zuhause geworden, zu einem Ort, an dem sie ihre eigene Utopie ausleben können. Für Noah und Mara ist Lützerath die Antwort auf die Frage: Wie sieht ein gutes Leben heute aus, in Zeiten multipler Krisen?

Wenn Noah von der Lützerath-Utopie erzählt, hellen sich die Gesichtszüge auf. Hier achten alle aufeinander, unterstützen sich gegenseitig, teilen ihre Kenntnisse mit anderen, sagt Noah. Man werde nicht eingeschränkt durch gesellschaftliche Konventionen. Das sei eine große Befreiung. „Wenn ich in ein Depressionsloch falle, dann fangen mich die Menschen hier auf. Woanders wird eher mal gesagt, dass man sich zusammenreißen solle“, sagt Noah. „Ich kann hier Ich sein, ohne mich rechtfertigen zu müssen.“

„Jeder Tag ist ein Sieg“

Wer von außerhalb kommt und das Camp besucht, betritt wahrlich eine andere Welt, so skurril wie kämpferisch. Eine Welt zwischen Reihenhaussiedlung und Monstermaschinen, zwischen Kuscheln und Monopods, mit Transparenten und Graffitis, mit Denkmälern für die Opfer rassistischer Morde und die unbekannten Toten der Klimakrise, mit Musik aus allen Richtungen und Schlafplätzen in schwindelerregenden Höhen.

Eine Welt, die sehr bald aus dem Boden gepflückt werden soll, damit RWE noch weitere 290 Millionen Tonnen Braunkohle verbrennen kann. Die Kohle in Deutschland erlebt eine Renaissance inmitten der fortschreitenden Klimakrise, im Namen der Versorgungssicherheit – und mit der Rechtfertigung eines vorgezogenen Kohleausstiegs im Rheinischen Revier im Rücken. Laut Bundesregierung ist der Deal ein Gewinn fürs Klima. Alles also zu verkraften?

Im Gegenteil, wenn man die Ergebnisse einer neuen Studie (Si apre in una nuova finestra) liest: Demnach wird durch den Deal keine einzige Tonne CO₂ eingespart. Durch den Weiterbetrieb von Kohlemeilern würden unterm Strich sogar bis zu 61 Millionen Tonnen mehr emittiert.

Doch selbst diese Erkenntnisse werden an der Situation nichts mehr ändern. RWE steht bereit, mit seinen riesigen Baggern und Rückendeckung aus der Politik die 1,5-Grad-Grenze weg zu graben. Und Noah, Mara und die anderen Aktivist*innen werden sich wehren, sich im Camp verbarrikadieren. Denn fest steht: Die Welt, die sie sich hier aufgebaut haben, werden sie nicht einfach so aufgeben.

Noah und Mara steigen auf das Dach eines kleinen Steinhauses. Kalter Wind weht. Vorne ist Bauer Heukamps Hof zu sehen mit dem großen „Lützerath bleibt!“-Banner, in der Ferne drehen sich Windräder, während dazwischen Kraftwerke dicke, weiße Wolken in die Luft pusten.

Noah reibt an einem Ring am Finger. „Wenn die Bagger hier erst einmal drüber sind, dann wird’s schlimm. Weil wir hier etwas leben, wovon ich träume.“

Und Hoffnung? Die sei ganz wichtig, sagt Noah. „Wir sind letztes Jahr schon davon ausgegangen, dass bald geräumt wird. Jetzt sind wir ein Jahr länger hier als gedacht. Das allein ist schon ein Sieg für uns. Jeder Tag, an dem noch nicht geräumt wurde, ist ein Sieg.“

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Wir hören uns wieder am 24. Dezember. ☃️

Bis dahin
Manuel

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Argomento Gerechtigkeit

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