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Treibhauspost #01
Wir haben zum Start rund 150 Leser:innen zusammenbekommen, das ist Wahnsinn! Wir freuen uns, dass du mit dabei bist – vielen Dank.
Wir wollten für alle Leser:innen, die sich bis zum Start anmelden, jeweils einen Euro aus eigener Tasche spenden (Si apre in una nuova finestra). Jetzt haben wir spontan entschieden, dass wir die Aktion sogar noch bis nächsten Samstag (27.03.) verlängern. Das Geld spenden wir an die Deutsche Klimastiftung (Si apre in una nuova finestra). Verbreitet die frohe Kunde!
Let's go! Aus dem Treibhaus schreibt dir heute Julien – über die wahrscheinlich wichtigste Zahl im Klimawandel, von der aber niemand reden möchte und die selbst dem Weltklimarat zu brisant ist.
Jeder Staat braucht einen Klima-Bierdeckel
Die Menschheit feiert eine Treibhausparty, auf der alle Staaten ihre CO₂-Schulden einfach auf denselben Bierdeckel anschreiben – das kann nicht gut gehen. ~ 7 Minuten Lesezeit
Um die Pariser Klimaziele einzuhalten, darf die Menschheit nur noch ein bestimmtes Kontingent an CO₂ ausstoßen. Dieses verbleibende Budget ist quasi der Klima-Bierdeckel, auf den alle anschreiben. Wer mehr anschreibt, hat kurzfristig wirtschaftliche Vorteile und kann mehr konsumieren.
In Paris wurde 2015 dieser globale Klima-Bierdeckel für alle an die Wand gehängt. Darauf steht das globale verbleibende CO₂-Budget, von dem sich alle bedienen können. Und das wurde seitdem schamlos ausgenutzt – auf Kosten des Gastgebers, der Erde.
Das Problem: Alle schreiben auf den selben Deckel an. Klar, dass sich bisher kein Staat am CO₂-Tresen zurückhält. Damit die Treibhausparty nicht aus dem Ruder läuft, müsste aber jeder seine eigene Rechnung kriegen – in Form von nationalen CO₂-Budgets.
Hört sich nicht besonders spektakulär an, könnte aber alles ändern.
Das Briefing
Der IPCC (International Panel on Climate Change, auch Weltklimarat genannt) hat das verbleibende globale CO₂-Kontingent ausgerechnet, das für eine Erderwärmung unter 1,5 bis 2 °C nicht überschritten werden darf.
Weniger als 1,5 bis 2 °C Erderwärmung sind wichtig, weil sonst Kipppunkte des Erdsystems* irreversibel (für immer) überschritten werden.
Es gibt bisher keine Regelung für die Verteilung des globalen CO₂-Restbudgets auf einzelne Staaten.
Das Problem mit Paris
In Glasgow findet im November die nächste Klimakonferenz der UN statt. Die letzte, an die man sich erinnern kann, war 2015 in Paris. Im Gegensatz zu den Konferenzen der vergangenen sechs Jahre, wurde dort ein kleiner Durchbruch erzielt. Die Menschheit hat sich in einem Klimaabkommen (Si apre in una nuova finestra) auf deutlich unter 2 °C, besser 1,5 °C Erderwärmung “geeinigt”.
Konkret bedeutet das: Die Menschheit darf in den nächsten Jahren nur noch eine bestimmte Menge CO₂ ausstoßen. Und zwar eine sehr, sehr kleine Menge. Wie viel das ist, hat leider nur selten jemand im Blick.
In Glasgow gäbe es die Chance, einen Schritt weiterzugehen: Eine Lösungsmöglichkeit sind nationale CO₂-Budgets. Also Restkontingente für CO₂-Emissionen, die jedem Land noch zur Verfügung stehen, ohne dass wir das 2-°C-Ziel reißen. Wie werden diese errechnet? Wie viel steht jedem noch zu? Und vor allem – warum sind sie so wichtig?
Ein Klima-Bierdeckel für jeden
Das wissenschaftliche Modell dahinter steht: Das globale CO₂-Budget wurde vom deutschen Klimaforscher Stefan Rahmstorf auf Staatenebene heruntergerechnet (Si apre in una nuova finestra).
Wie? Ganz einfach: Rahmstorf hat jedem Menschen auf der Erde den gleichen Anteil des verbliebenen CO₂-Budgets zugeschrieben. Jede:r von uns hätte also rund ein 7,7-Milliardstel des Restbudgets.
Abzüglich der seit dem Pariser Abkommen vor knapp sechs Jahren ausgestoßenen Emissionen blieben Deutschland mit 83 Millionen Einwohner:innen beispielsweise noch 6,6 Gigatonnen CO₂. Das wären ca. 80 Tonnen CO₂ pro Kopf.
Was man damit machen könnte? Noch ziemlich genau fünf Jahre “normal” weiterleben wie bisher. Danach wäre Schluss. 2025 müsste Deutschland nämlich seine Netto-Emissionen per Knopfdruck auf Null bringen* – um zu 67 Prozent Wahrscheinlichkeit noch unter 1,5 °C zu bleiben.
Wer 50 Prozent Wahrscheinlichkeit auf unter 1,8 °C für ein solides Szenario hält, kann sich bis 2046 Zeit lassen mit der Klimaneutralität.
Noch schlimmer sieht es in den USA (Si apre in una nuova finestra) aus. Selbst wenn dort alle CO₂-Emissionen heute auf Null gehen würden, hat das Land sein Budget schon vor mehreren Jahren aufgebraucht. Und auch die EU (Si apre in una nuova finestra) müsste nicht wie angestrebt bis 2050 CO₂-neutral sein, sondern schon 2030.
Ohne Ziele, keine Maßnahmen
Mit Blick auf die Restkontingente wird deutlich: Fast keine Regierung dieser Welt handelt entsprechend ihres verbleibenden CO₂-Budgets. Zwar werden einzelne Maßnahmen aufgestellt, jedoch ohne Blick auf das übergeordnete CO₂-Ziel.
Selbst wenn die Staaten ihre aktuellen Komfortzonen-Klimamaßnahmen umsetzen würden, steuern wir auf eine Erderwärmung von 2,3 °C bis 3,5 °C zu. Resultat: Kipppunkte überschritten, Eisschmelze unaufhaltbar, Hothouse Earth Szenario (Si apre in una nuova finestra)* realistisch.
https://www.youtube.com/watch?v=yR6MXqlxM_Q&t=42s (Si apre in una nuova finestra)Prof. Johan Rockstöm über das Hothouse Earth Szenario: Gibt es vertrauenswürdigere Menschen als schwedische Wissenschaftler:innen?
Es wäre also zwingend notwendig, die 1,5 bis 2 °C in CO₂ zu “übersetzen”. Zum Beispiel eben in 6,6 Gigatonnen CO₂ Restbudget für Deutschland bis 2038. Danach: Null CO₂. Damit würden wir laut Klimawissenschaftler Wolfgang Lucht (Si apre in una nuova finestra) vom Potsdaminstitut für Klimafolgenforschung mit einer Wahrscheinlichkeit von gerade einmal 67 Prozent unter 1,75 °C bleiben.
Aus dem CO₂-Ziel folgen die Maßnahmen. Welche das sind, müssen dann die Politik und ihre Berater:innen entscheiden. Empfohlene Maßnahmen aus der Wissenschaft sind ein globaler CO₂-Preis von mindestens 50 Euro pro Tonne, der sukzessiv angehoben wird.
Oder auch ein deutlich schnellerer Umstieg auf 100 Prozent Erneuerbare Energien sowie der sofortige Abbau klimaschädlicher Subventionen. Weitere Vorschläge findet man zum Beispiel im Klimaplan von Germanzero (Si apre in una nuova finestra).
Positive Ausnahme ist Großbritannien (Si apre in una nuova finestra), wo bereits ein nationales CO₂-Budget in der Klimapolitik genutzt wird (wenn auch ein zu großes). Auch im Europaparlament (Si apre in una nuova finestra) gibt es zumindest erste Vorstöße.
Und jetzt?
Angenommen die deutsche Regierung würde sich auf ein nationales CO₂-Budget einigen. Wie könnte es weitergehen? Es wäre zum Beispiel möglich, das Restbudget auf die einzelnen Sektoren zu verteilen – Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft. Und natürlich muss entschieden werden, ob die jetzigen Emissionen linear, also regelmäßig, abgebaut werden bis 2038, oder radikal innerhalb weniger Jahre. Letzteres wäre wohl deutlich schwieriger.
Klimaziele vs. Realität: Wir sind bei rot, wollen zu grau und müssen zu grün.
Aus wissenschaftlicher Sicht scheinen nationale CO₂-Budgets unausweichlich. Was spricht also dagegen? Ein potentieller Dealbreaker ist die Verteilung des globalen Restbudgets. UN-Institutionen wie der Weltklimarat lassen die Finger von nationalen Budgets, weil die genaue Verteilung hochpolitisch ist.
“Angesichts der nahezu unüberwindlichen Gerechtigkeitsfragen werden die Länder das nicht in die Agenda aufnehmen”, sagt Christian Mihatsch, Klimareporter und Initiator von showyourbudgets.org (Si apre in una nuova finestra).
Rechnet man alle Emissionen seit dem vorindustriellen Zeitalter mit ein? Dann dürften die Industrieländer ab sofort gar keine Emissionen mehr ausstoßen. Ist es fair, dass innerhalb eines Landes reiche Menschen mehr Emissionen verursachen können als arme? Das dürfte innerpolitische Konflikte anstoßen.
Nicht einmal Umweltministerin Svenja Schulze (Si apre in una nuova finestra) möchte sich auf ein konkretes Rest-Budget für Deutschland festlegen. Das Problem liegt auf der Hand – Politiker:innen, die das Pariser Klimaziel in ein verbleibendes CO₂-Budget für ihr Land übersetzen, riskieren einen orkanartigen Shitstorm von Wirtschaftsverbänden, Lobbygruppen und Bürger:innen. Wer will schon gerne auf Privilegien verzichten?
Zurück nach Glasgow und den Rund 180 teilnehmenden Staaten. Mit dabei sind Länder, deren Wirtschaften gerade erst angefangen haben zu boomen. Allen voran China (Si apre in una nuova finestra) und Indien (Si apre in una nuova finestra). In den nächsten Jahren werden die Emissionen dieser beiden riesigen Volkswirtschaften weiter nach oben gehen.
Viele Einwohner:innen erfahren dadurch erstmals grundlegenden Wohlstand. Wäre es fair, dass sie auf diesen verzichten müssen? Gibt es Wege, dort grundlegenden Wohlstand zu erreichen, die nicht mit steigenden Emissionen einhergehen?
Ein Durchbruch in Glasgow zu nationalen CO₂-Budgets scheint mehr als schwierig. Sollte der Punkt denn überhaupt in die Agenda aufgenommen werden. Was unrealistisch scheint, da diejenigen Länder maßgeblich über die Agenda entscheiden, die am meisten zu verlieren haben – die Industrienationen.
“Gut möglich, dass stattdessen Gerichte für einzelne Länder eine Berechnungsmethode vorgeben.”
Derzeit laufen laut Klimareporter Christian Mihatsch nämlich vielversprechende Prozesse vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Würden die wohlhabendsten Nationen (egal ob freiweillig oder durch Gerichtsbeschlüsse) eine Vorreiterrolle einnehmen, gäbe es zumindest eine Verhandlungsgrundlage. Wie sollen Indien und China Deutschland klimatechnisch ernst nehmen, wenn selbst unsere Zielsetzung nichts mit 1,5 bis 2 °C zu tun hat?
Deshalb müssen wir endlich anfangen auf unseren eigenen Deckel anzuschreiben. Ohne konkretes Budget, keine Maßnahmen. Ohne Maßnahmen, keine 2 °C.
Kurzgefasst
Das Klimaziel von Paris wird aktuell von allen Industrieländern verfehlt.
Das verbleibende globale CO₂-Budget muss daher konkret auf einzelne Staaten verteilt werden.
Deutschland und andere Industrienationen sollten eine Vorreiterrolle einnehmen, um eine Verhandlungsbasis zu schaffen.
Schön, dass du bei der ersten Ausgabe der Treibhauspost dabei warst. Wir haben das Projekt gestartet, weil wir einen Dialog führen wollen, mit dir und mit allen, denen das Thema auch am Herzen und im Kopf liegt.
Deswegen: Antworte uns doch einfach auf diese Mail. Uns interessiert brennend, was du zu dem Thema denkst. Wir freuen uns aber auch auf Feedback, Fragen und Vorschläge.
Ansonsten: Bis in zwei Wochen. In der Treibhauspost #02 schreibt Manuel darüber, warum das gleiche Eis für die einen schneller schmilzt als für die anderen.
Schönes Wochenende
Julien
Treibhaus-Vokabeln
*Kipppunkt (tipping point) = Ein Punkt oder Moment, an dem eine vorher geradlinige und eindeutige Entwicklung eines Teils des Erdsystems abrupt und unwiderruflich verändert wird. Beispiel: Die Eisschmelze der Westantarktis könnte ab ca. 2 °C Erderwärmung unaufhaltbar sein.
*Netto-Null-Emissionen (net zero emissions) = Der Atmosphäre werden gleich viele Treibhausgase hinzugefügt wie entzogen.
*Hothouse-Earth-Szenario = Zustand, in dem sich die Erderwärmung selbst durch positive Rückkopplung verstärkt und bei 4-5 °C einpendeln könnte, egal wie wenig CO₂ die Menschheit dann noch ausstößt oder wieder einfängt.