Gibt es eine Post-Corona-Identität?
Dieser Newsletter hat eine kleine Pause gemacht, die sich aus einer Vielzahl von Umständen ergab, wie zu viele Kind-Krankentage, die mit dem neuen Jahr nicht weniger wurden als im alten, der Erkenntnis, dass ich Bahnfahrten viel weniger gut zum Schreiben und Denken nutzen kann, als ich gedacht hatte, ich zwischen bedrückender Nachrichtenlage, platten öffentlichen Diskussionen wie „mehr Bock auf Arbeit“ und meinem persönlichen Alltag, der wieder intensiver und schöner war als zuvor, zu keinem in Worte fassbaren Weltgefühl gelangt bin. Denn je nach dem, auf was ich meine Aufmerksamkeit gerichtet habe, kam zu einem komplett unterschiedlichen Urteil über Moment und Zukunft. Hoffnung haben, Augenrollen oder verzweifeln? Welches Gefühl ergibt sich, wenn man alles gleichzeitig spürt? Der Titel des Newsletters beschreibt aktuell vielleicht am besten, was ich wahrnehme: eine Zwischenzeit, einen Übergang in etwas Neues, das ich noch nicht kenne, und doch in etwas Vertrautes. Eine Zeit, in der ich versuche den Alltag, der jetzt weniger Ausnahmezustand ist, versuche zu verknüpfen mit dem, was vorher war und was eine Zeit lang brach lag. Es ist keine kontinuierliche Entwicklung nach vorn, da es sich manchmal so anfühlt, als sei einer meiner Füße oder ein Teil meines Herzens in einer anderen Zeitzone stehen geblieben. Die Pandemie ist im Außen vorbei, aber wo steht sie innerlich?
„Damit aus Gegenwarten eine Vergangenheit wird, muß etwas Neues eintreten.“ – Barbara Adam
Die ersten Erinnerungen an den Beginn der Pandemie in Deutschland fühlen sich mittlerweile alt an. Wenn ich sie abrufe, kommen sie mir manchmal vor wie ausgedacht, zu absurd, als dass sie wahr sein könnten. Mit Absperrband umrahmte Spielplätze. So wenig Verkehr auf den Straßen Berlins, dass es ruhig war. An einem Winterabend in einer langen Schlange vor einer Arztpraxis warten, damit das Kind geimpft werden kann und sich dabei fühlen, als sei man Jahrzehnte in der Zeit zurückgereist und habe eine illegale Abtreibung organisiert. Manchmal habe ich Mühe, die Erinnerungen zeitlich einzuordnen. War mein älteres Kind schon im letzen Kitajahr als die Pandemie begann oder doch im vorletzten?
Ich denke darüber nach, ob die Erlebnisse im ersten Lockdown langsam zu normalen Erinnerungen werden, die nicht mehr außergewöhnlich sind und sich abheben, oder ob es auch eine Art Verdrängung sein könnte, dass ich sie nicht mehr besonders finde, um die Belastung kleinzureden. Ob das Absurde, das Anstrengende, das „oh no, not again“, in seiner Vielzahl sich wechselseitig relativiert. Zeit, die drei Jahre bewusst zu reflektieren und zu verarbeiten, ist zumindest gesellschaftlich nicht vorgesehen. Einfach immer weitermachen, nicht umdrehen, nicht tiefer bohren, so nehme ich wahr, wie aktuell gesellschaftspolitische Debatten geführt werden: Wenn die Pandemie nicht mehr sichtbar im Alltag ist, weil kaum noch jemand eine Maske trägt, vielleicht ist sie dann nie geschehen. Klagen über Lernrückstände, fehlende Therapieplätze, Pflexit? Is doch mal gut jetzt, Pflaster drauf.
Ich hingegen glaube, dass diese drei Jahre gesellschaftlich und individuell für viele Menschen deutlich etwas verschoben und sie verändert zurückgelassen haben – auch jenseits gesundheitlicher Spuren wie Longcovid oder verstorbener Angehörigen. Ein Zeichen dafür ist, Debatten über bessere Arbeitsbedingungen wie eine Vier-Tage-Woche nicht unter Inflation und Energiekrise eingeknickt, sondern eher lauter geworden sind. Der Buch-Titel „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ von Sara Weber bringt knapp auf den Punkt, dass immer mehr Menschen daran zweifeln, ob mehr Arbeit, mehr Anstrengung, mehr Durchbeißen die idealen Reaktionen auf Krisen sind und die Zukunft offenhalten, und sie zunehmend nach besseren und eigenen Antworten suchen. Möglicherweise auch deshalb, weil drei Jahre pandemisches Leben die Wichtigkeit bestimmter Werte und Bedürfnisse neu sortiert haben und ein veränderter Blick auf die Welt sich individuell schneller vollzieht als größere Strukturen wie die der Arbeitswelt mithalten können. Home-Office bietet mehr Flexibilität, reduziert Arbeitswege, aber kann auch Beziehungen unter Kolleg_innen verändern und es kann dazu führen, wortwörtlich mit mehr Distanz auf den eigenen Job zu schauen und ihn in anderem Licht zu sehen. Drei Jahre Pandemie haben die Belegschaften von Unternehmen in ein langes Training geschickt, das niemand bestellt hatte und das kaum jemand auswertet in all seinen Facetten.
Aber habe ich zuletzt Freund_innen gefragt, ob sie sich schon von der Pandemie erholt haben? Welche Nachwehen sie spüren? Ob sich für sie in der Zeit etwas signifikant verändert hat? Ist mein Partner noch die Person, die er im Januar 2020 war und waren wir auf dem gleichen Trip?
Ich merke an mir selbst, dass ich die Pandemie als Gesprächsthema eher wie Smalltalk behandle – Beobachtungen, wie das Maske-Tragen im ÖPNV abnimmt, welche Cafés verschwunden sind und wen es nun doch noch erwischt hat – obwohl ich viel darüber nachdenke, was die drei Jahre tiefergehend verändert haben. Aber es ist, als würde ich mich selbst einer vermeintlichen Konvention fügen, nun wieder zu anderen Gesprächsthemen zu wechseln und erleichtert darüber zu sein, endlich wieder andere Alltagsprobleme zu haben. Ich habe den Corona-Mental-Load und die soziale Isolation gehasst und verflucht, weil sie mir das Schreiben erschwert haben und ich unbedingt wieder über anderes nachdenken wollte, mehr sehen, mehr spüren, mehr umarmen wollte, daher kommt es vermutlich auch ein Stück aus mir selbst, nicht mehr über diese Zeit und ihre Effekte reden zu wollen, während ich zu Genüge weiß, dass Gefühle und Erlebnisse wegzuschließen und vergessen zu wollen, selten zu mehr Wohlbefinden führt, sondern das Weggesperrte früher oder später anklopfen wird und nach Beachtung schnurrt.
Über die Lesungen, die ich gerade mache bekomme ich immer wieder von Veranstalter_innen mit, dass selbst ihr Stammpublikum nur in Teilen zurückkommt und es schwerer geworden ist, Säle zu füllen. Die Gründe dafür sind vielfältig, dazu zählen Sparen-Müssen, ein Unwohlsein, schon wieder mit vielen Menschen in geschlossenen Räumen zu sein, aber auch eine Gewöhnung daran, mehr Zeit Zuhause zu verbringen, vielleicht sogar die Erkenntnis, dass häufiges Unterwegssein nicht dazu führt, zufriedener zu sein und die Sehnsucht nach Freizeit außer Haus bei manchen nicht zurückgekehrt ist. Wiederum andere zögern, wieder auf Partys zu gehen, aus Sorge, das Feiern verlernt zu haben.
Hast du dir schon einmal Zeit genommen, zu vergleichen, wie dein Alltag vor Pandemie-Beginn aussah, was sich schleichend verändert hat oder was du heute bewusst nicht mehr oder bewusst anders machst? Hast du Aspekte deines Lebens, die dir anfänglich sehr fehlten, wieder neu belebt oder ist das Bedürfnis nach ihnen schwächer geworden?
„Hast du dich seit Pandemie-Beginn verändert?“ oder „Willst du heute etwas ganz anders als zuvor?“ sind schwierige Fragen, die sind groß ist für ein gemeinsames Abendessen, weil sie viel Zeit zum Nachdenken und Nachspüren erfordern. In welchem Rahmen stellt und beantwortet man sie?
Ein Bewusstsein dafür, ob man sich selbst verändert hat, entsteht unter anderem über die Interaktion mit anderen Menschen. Wenn man sich selbst vor und mit anderen erlebt, lernt man oft mehr über sich selbst, als allein darüber nachzudenken, wer man ist. Je nach dem, wie lange und wie sehr eine Person, deren Alltag in der Pandemie ein deutlich anderer war als zuvor (bitte nie vergessen, wie unterschiedlich die Pandemie erlebt wurde je nach Lebenssituation, Job, Familie), sich schon wieder ins Getümmel stürzt, hat sie bereits mehr oder weniger Erfahrung mit ihrer eigenen Post-Corona-Version. Ich zum Beispiel gewöhne mich immer noch daran, dass meine Selbstwahrnehmung, dass ich introvertiert und zurückhaltend bin und gut allein sein kann, nicht (mehr) stimmt. Würden es meine Familiensituation und mein Energielevel zulassen, ich würde jeden Abend Freund_innen und auch liebend gern neue Menschen treffen und bis in die Nacht hinein reden, tanzen, nah beieinander sitzen.
Ich dachte zunächst, ich sei nur sozial ausgehungert, mittlerweile glaube ich eher, dass die lange Isolation und der repetitive Alltag eine ausreichend lange Zeit waren, um meine Persönlichkeitsanteile anders zu spüren und besser zu verstehen, was mich zufrieden macht und was mich anstrengt. Im prä-pandemischen Alltag brauchte ich nach Büro mit vielen Kolleg_innen, ÖPNV und Kleinkind abends eine geräusch- und reizarme Umgebung, was ich mit „Ich bin gern allein“ verwechselt habe. Mit der Möglichkeit im Home-Office, ohne Pendeln und während des Buchschreibens ruhiger und kontaktärmer zu arbeiten, fiel die Sehnsucht nach nach vornehmlich ruhigen Stunden am Abend plötzlich weg. Ich empfand sie als Zumutung und wunderte mich, warum der vermeintliche Vorteil einer Introversion mich nicht besuchte.
Ohne einen Tag voller Reizüberflutung habe ich später noch Kapazität für Gespräche und Zusammensein auch in größerer Runde, ein Tag des Allein- und Konzentriert-Arbeitens braucht dann für mich sogar soziale und intellektuelle Stimulation aus einem anderen Bereich, damit ich ihn als ausgeglichen und schön empfinde. Und all das ist wiederum wichtig ist, um Schreiben zu können. Nur ein Anteil meiner Texte entstehen wirklich am Schreibtisch oder allein, sie entstehen maßgeblich, weil mein Denken sich erst im Kontakt zu anderen in viele Richtungen öffnet und die mentale Ruhe, die ich zum Schreiben brauche, sich als Gegenpart zur sozialen Aufruhr in anderen Stunden ergibt.
Momentan, wenn ich tagsüber mehrere Stunden im Zug gesessen habe und abends vor Publikum lese und über das Buch spreche, komme ich ich nach diesen zwei Stunden überhaupt erst in meiner idealen Tageszeit an und habe Lust, noch mindestens zwei oder drei Stunden weiter zu reden, zuzuhören und unter Menschen zu sein.
„Ich bin übrigens introvertiert und eher zurückhaltend, ich brauch ne Weile, um aufzutauen“, sage ich zu der Person, mit der ich nach einer Lesung in einer Bar sitze. Sie lacht laut, als habe ich einen Witz erzählt und sagt: „Du bist vieles, aber nicht introvertiert. Du hast vorgeschlagen, noch etwas trinken zu gehen und den ganzen Weg bis hierher geredet. Völlig mühelos.“ Ich will erst reflexhaft widersprechen, muss dann aber selbst lachen, weil ich merke, dass ich eine Selbsteinschätzung aufgesagt habe, die ich schon lange nicht mehr überprüft hatte. Mehr Neugierde auf mich selbst, eine Art des introspektiven Fact-Checking ist das, was der Abend bei mir hinterlässt. Ich muss mir offenbar einen neuen Disclaimer überlegen, mein alter hat die Hygiene-Maßnahmen nicht überlebt. „Ich mag Menschen mehr als ich dachte“, ist mein Arbeitsentwurf.
Bis bald,
Teresa
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Für das Schweizer Magazin Annabelle hab ich Ende 2022 einen eigenständigen Text über „Zeit für Freund_innenschaft“ (Si apre in una nuova finestra)geschrieben, der nicht als ALLE_ZEIT stammt. Jetzt könnt ihr ihn online lesen.
Ein neues Gespräch im Podcast „Frisch an die Arbeit“ (Si apre in una nuova finestra) mit Daniel Erk.
https://open.spotify.com/episode/7iGYIlBOgiCEDJcn8vAxjg (Si apre in una nuova finestra)Lesungstermine zum Buch »Alle_Zeit« findet ihr aktualisiert immer auf meiner Website (Si apre in una nuova finestra), die nächsten Termine, die feststehen, sind:
9.03.2023 – Zürich Kaufleuten, 19 Uhr Tickets hier (Si apre in una nuova finestra)
20.03.2023 – Basel UM Politics Talk (Si apre in una nuova finestra), Infos hier (Si apre in una nuova finestra)
21.03.2023 – Bern, Myle (ausverkauft)
Die Lesung wird in Kooperation von Economiefeministe mit VWelles – Rethinking Economics Bern organisiert
22.03.2023 – Aalen Wortgewaltig Tickets hier (Si apre in una nuova finestra)
23.03.2023 – Düsseldorf, Salonfestival (ausverkauft)
17.04.2023 – Ravensburg
Humpis Montagsforum, Frühjahrssemester 2023 »Freiheit« Vortrag zu »Alle_Zeit« Mehr Infos hier (Si apre in una nuova finestra)
18.04.2023 – Freiburg »Your place to read – die Leipziger Buchmesse on tour«
Gespräch mit Lisa Jaspers (Herausgeberin »Unlearn Patriarchy«) und Karla Paul. Mehr Infos hier (Si apre in una nuova finestra)
24.04.2023 – Frankfurt am Main, Salonfestival (ausverkauft)
03.05.2023 – Karlsruhe
p8, Schauenburgstraße 5
Tickets hier (Si apre in una nuova finestra)
11.05.2023, Erfurt
Infos folgen
29.06.2023 – Bremen
organisiert von bella donna e.V.
Infos folgen
Ich freu mich über weitere Lesungsanfragen, besonders auch aus den ostdeutschen Bundesländern.