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Am Sonntagmorgen bin ich davon aufgewacht, dass die Finger von meiner Tochter auf meiner Haut kitzelten. Sie sitzt neben mir im Bett und versucht, meine Tätowierungen zu zählen. Sie muss sich dafür konzentrieren, übt den Zahlenraum bis hundert und fängt einige Male neu an: „Mama, dreh dich mal … stopp.“

Morgens werde ich gerade sehr langsam wach, mindestens einen ersten Kaffee, eher einen zweiten muss ich trinken, daher brauche ich einige Minuten, um das, was meine Tochter gerade macht, zu verbinden mit mir. 

,Was zählt sie da? ... ach, ich bin ja tätowiert.‘

Diese Erkenntnis fühlt sich in diesem Moment an, wie eine lang vergrabene Erinnerung, die mir plötzlich wieder einfällt. Wie Erinnerungen, die zurückkommen, weil dich jemand Jahre später auf etwas anspricht oder sie wieder auftauchen, weil man ein Fotoalbum anschaut und ein kurzer wackliger Film im Kopf beginnt. Fast hätte ich vergessen, dass meine Haut verändert ist, denn ich nehme sie kaum noch wahr. Ich lebe seit einer Weile ohne Bewusstsein für meine äußeren Ränder.

Noch vor einem Jahr wäre mein Körper mir stärker präsent gewesen, denn vorher war ich ständig in Kontakt mit ihm. Ich stehe vor großen Spiegeln, wenn ich in einem aufgeheizten Raum Yoga mache. Ich schaue dem rinnenden Schweiß auf meinem Körper nach, wenn ich in der Sauna sitze. Wenn ich aus der Sauna herauskomme und auf die Terrasse gehe, sehe ich die Spiegelungen meines Rückens und die Muster in den Fenstern. Ich habe letztes und vorletztes Jahr jeden Tag auf meinen Bauch geschaut, wie er irgendwann wuchs, weil das Kind wuchs, und sich die Haut über der Flanke spannte, auf der eine Tätowierung verläuft. Wie sich der Bauch nach vorn schob und ich die drei kleinen Narben der Laparoskopie nur noch im Spiegel sehen konnte, aber nicht mehr von oben. Meine Haut war mir immer sehr vertraut, bis ich sie in den letzten Monaten vergessen habe.

Denn im letzten Jahr war ich viel seltener nackt als sonst. Kein Mal in der Sauna, kein Mal hab ich mich umgezogen vor Menschen, die ich nicht kenne, kein Mal mich vor großen Spiegeln gestreckt. Kein Mal die Körper der anderen Menschen gemustert, mich verglichen oder gedacht, wie vielfältig schön entkleidete Menschen sein können, egal wie alt sie sind, egal welche Form sie haben. Dass ich mich irgendwann so oft anderen Menschen in Umkleiden und Saunen ausgesetzt habe, hat das Unwohlsein meiner Jugend im eigenen Körper gelindert, nicht verstärkt. Als ich begann, andere, echte Menschen wirklich wahrzunehmen, konnte ich sehen, wie divers und unperfekt sie sind. Mein Körper und das Nacktsein wurden mir mehr und mehr egal. 

Wie ich das gehasst habe, mich beim Schulsport umziehen zu müssen. Aber je öfter ich es als Erwachsene getan habe, umso wohler habe ich mich dabei gefühlt. Doch seit über einem Jahr ziehe ich mich fast nur noch fürs Duschen aus und merke, dass mir das fehlt: Auf heißem Holz oder der Bank in einer Umkleidekabine nur in ein Handtuch gewickelt herumzusitzen und nichts zu tun außer zu warten, dass die Herzfrequenz sinkt und das Nachschwitzen abebbt. Nicht nachdenken, nur den Körper wahrnehmen.

In unserer Wohnung gibt es ein typisches Berliner Altbau-Bad, indem ich mir keine Aufmerksamkeit schenke, da diese kleine Nasszelle nicht zum Verweilen taugt. Es ist winzig klein, sodass so gerade noch eine Badewanne hineinpasst, aber es nicht möglich wäre, dort eine Tapirlänge-Abstand zu halten zu einem anderen Menschen. Licht fällt nur durch ein schmales Fenster hinein. All die neuen weißen Haare, die ich dieses Jahr bekommen habe, sehe ich in diesem Spiegel nicht. Was ich wahrnehme, ist jeden Tag mein müdes Gesicht und die kleinen Falten, die neu hinzukommen. Aber ich schaue selten an mir herab oder drehe den Rücken zum Spiegel, nehme meine Haut nur noch flüchtig wahr, anders als in den Stunden in der Sauna. In diesem letzten Jahr habe ich vor allem in meinem Kopf gewohnt, der Körper lief mit, und wie bizarr, dass man Tätowierungen tatsächlich vergessen kann. Denn das Gefühl des Stechens vergisst man nicht. Diese Mischung aus Kitzeln und Schmerz, aufatmen und aushalten.

Ich habe in der Pandemie nicht angefangen Brot zu backen, nicht die Wohnung gestrichen, keinen Hund gekauft (schade eigentlich), aber eine Shakti-Matte, wie offenbar viele. Das erfährt man aber auch erst, wenn man die eigene erwähnt, denn auf Shakti-Matte liegend fotografiert sich niemand. Wenn ich auf den Plastikspitzen liege, vermisse ich die Sauna noch mehr. Dann denke ich immer: 

,Was soll das? Was mache ich hier? Warum liege ich hier auf einem Nagelbrett? Bin ich jetzt wirklich diese Person, die versucht, auf einer Akupunkturmatte zu entspannen? Kann das überhaupt klappen, wenn ich es so absurd finde?‘

Seit dieser Woche, nach der elenden Oster-MPK, hätte ich beinahe gegoogelt, ob es Shakti-Matten mit echten Nägeln gibt, auf die ich mich legen kann, um meiner Wut etwas entgegenzusetzen. Nach der Osterruhe erstehe ich auf, nicht mit Nägeln in den Händen, aber im Rücken und dann hoffentlich milder gestimmt.

Eine Shakti-Matte kann man auch prima vor große Wohnungspflanzen legen, damit ein krabbelndes Baby nicht auch noch die letzten Blätter abpflückt oder den Schrank mit den Gläsern zum vierten Mal binnen einer Stunde ausräumt.

Das Baby kann nun mittlerweile den kleinen Schrank in unserer Küche selbst öffnen und einige Tassen und Gläser sind schon kaputtgegangen. Auf dem Foto hat es eine Tasse von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (Si apre in una nuova finestra) in der Hand, die gerade unter anderem die strategischen Klagen von lesbischen Mütter-Paaren oder Elternteilen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ unterstützen, damit sie wie Mann-Frau-Paare auch von Geburt an beide rechtliche Elternteile ihrer Kinder sein können. Momentan ist das Recht an dieser Stelle noch diskriminierend und zwingt die eine Mutter eines verheirateten Paares dazu, ihr Kind als „Stiefkind“ zu adoptieren, wozu die Familie vom Jugendamt begutachtet wird.

Informationen zu den strategischen Klagen gegen diese Diskriminierung findet ihr bei der Initiative Nodoption (Si apre in una nuova finestra).

Ich bin immer wieder überrascht, dass nur wenige Menschen wissen, wie schwer Familien mit zwei Mamas gleich die erste Zeit mit ihren Kindern gemacht wird darüber, dass sie ungleich behandelt werden und darum kämpfen müssen, in rechtlicher Beziehung zu ihrem Kind zu stehen. Verheiratete Mann-Frau-Paare sind automatisch von Geburt des Kindes an beide rechtliche Eltern und werden in der Geburtsurkunde eingetragen. Bei unverheirateten Mann-Frau-Paare können die Väter vor oder nach der Geburt die Vaterschaft anerkennen. So haben mein Partner und ich es vor der Geburt unseres Kindes getan. 

Das Absurde an dieser Regelung ist, dass prinzipiell jeder Mann – egal wie er zur Mutter des Kindes steht – die Vaterschaft anerkennen könnte. Ich hätte mit meinem Nachbarn, mit meinem letzten Tinder-Date oder dem Vater meines Freundes zum Jugendamt gehen können und sie die Vaterschaft anerkennen lassen, wenn sie Lust dazu gehabt hätten. Für eine Vaterschaftsanerkennung muss der Vater nicht biologischer Vater des Kindes sein und nicht einmal die Absicht haben, sich um das Kind zu kümmern. Er muss einfach nur ein Mann sein, der einen Stift halten und ein Dokument unterschreiben kann. Umso unverständlicher ist es, dass bei zwei miteinander verheiratete Frauen, die schon einmal im Standesamt bekräftigt haben, eine Familie sein zu wollen, der Staat noch einmal prüfen will, ob sie sich wirklich gemeinsam um ihre Kinder kümmern möchten und ob die Mütter geeignet dafür sind. Männer, die eine Vaterschaft anerkennen wollen, werden nicht auf ihre Eignung geprüft.

Gegen diese diskriminierende Praxis haben unter anderem Gesa Teichert-Akkermann und Verena Akkermann geklagt. Ihre Tochter Paula ist vor über einem Jahr auf die Welt gekommen, bislang steht jedoch nur Gesa in Paulas Geburtsurkunde. Dass die Menschen, die das Kind nicht austragen, schon vor der Geburt die Elternschaft anerkennen können, kann zum Beispiel dafür wichtig sein, wenn der Gebärenden unter der Geburt etwas passiert oder sie sogar verstirbt. In dem Fall hat das Kind eines Frauenpaares kein rechtliches Elternteil mehr und die zweite Mutter kein Sorgerecht für das Kind. Die Sorge hatten auch viele Mann-Frau-Paare im letzten Jahr, denn aufgrund der Pandemie-Beschränkungen vergaben die Jugendämter kaum noch Termine, sodass die Vaterschaftsanerkennung vor der Geburt bisweilen nicht klappte. Bei lesbischen Paaren scheitert es nicht an fehlenden Terminen, sondern an rechtlicher Diskriminierung.

Über die Klage von Gesa Teichert-Akkermann und Verena Akkermann hat Juliane Löffler von Buzzfeed sehr früh berichtet: Mama hat Recht (Si apre in una nuova finestra).

Die Klage von Familie Teichert ist in dieser Woche vom Oberlandesgericht Celle an das Bundesverfassungsgericht überwiesen worden (Si apre in una nuova finestra), da das OLG die bislang geltende Regelung für verfassungswidrig hält. Das Bundesverfassungsgericht wird  nun entscheiden müssen, ob verheiratete Frauen genauso behandelt werden sollen wie ein verheiratetes Mann-Frau-Paar, die ohne dafür etwas tun zu müssen, von Geburt an die rechtlichen Eltern ihres Kindes sind.

In Karlsruhe am Bundesverfassungsgericht wird in feministischer Hinsicht in der nächsten Zeit einiges los sein. Ich möchte auf jeden Fall vor Ort unterstützen, wenn die Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel (Si apre in una nuova finestra) gegen §219a in Karlsruhe verhandelt wird. Für die Rechte von Regenbogenfamilien möchte ich mich auch auf den Weg machen und hoffe, zu den Verhandlungszeitpunkten wieder sicher reisen zu können.

Obwohl diese Woche besorgniserregend mit Blick auf die dritte Welle der Pandemie war und eine echte Strategie für ihre Bekämpfung nach wie vor fehlt, gab es doch Momente der Hoffnung und Zuversicht. Denn nicht nur mein 95-jähriger Großvater – das letzte Großelternteil, das ich noch habe – ist zum zweiten Mal geimpft worden, sondern auch mehrere jüngere Menschen, die ich kenne, haben die erste Dosis bekommen. Als mein Opa das erste Mal geimpft wurde, habe ich vor Erleichterung geweint. Die weiteren Nachrichten von geschätzten Menschen über ihre Impfung fühlten sich ähnlich an. Ich hab mich riesig gefreut und gespürt, wie ein kleines bisschen der Last von mir abplatzte, weil andere nun sicherer sind. Das fühlen zu können, hat mich beruhigt, denn ich war zuletzt genervt von mir und meinem Selbstmitleid und dem Kreisen um mich selbst, das sich in der Isolation so schwer vermeiden lässt. Klar bin ich ungeduldig. Ich will auch diese Impfung, aber noch bin ich durchlässig genug, um für andere mit in die Luft zu springen.

Als ich diesen Absatz gerade fertiggeschrieben hatte, las ich einen Instagram-Post von Marija Latković, die beschreibt, dass sie „Impfneid“ zu spüren bekommen hat und empfehle noch ihre Gedanken dazu (Si apre in una nuova finestra) zu lesen.

Was hat euch in den letzten Tagen Hoffnung gegeben und froh gemacht?

Bis nächste Woche

Teresa

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Mehr Infos dazu findet ihr hier (Si apre in una nuova finestra). Danke! 

Am Mittwochabend hat Carolin Emcke ihr neues Buch „Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie“ (Si apre in una nuova finestra) im Buchladen „She said“ (Si apre in una nuova finestra) vorgestellt, daraus gelesen und wir haben über die Themen des Buches gesprochen. Das zweieinhalbstündige Gespräch ist noch ein paar Tage als Video verfügbar.

https://www.facebook.com/shesaidbooks/videos/497973364545491 (Si apre in una nuova finestra)

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