White Lotus - darum ist das Storytelling so genial
White Lotus mausert sich gerade zu einer der meist gestreamten Serien überhaupt. Sie ist sowohl beim Mainstream beliebt und auch Kritiker*innen loben die hochwertige Produktion und das originelle Storytelling. Um das Letztere geht es heute. Und nein, du musst die Serie nicht gesehen haben, um meine Schlüsse daraus über Storytelling mitnehmen zu können.

Die letzte Folge der 3. Staffel kommt am Montag, 7. April - ich habe also keine Ahnung, wie die Staffel endet. Spaßeshalber werde ich am Ende des Newsletters in die Glaskugel schauen und einen Tipp abgeben.
Wenn du also, wie ich bis zur vorletzten Folge der 3. Staffel geguckt hast, wird hier nichts gespoilert werden.
Eine Mini-Info über die letzte Folge habe ich aus einer offiziellen Vorschau. Wenn du das nicht wissen möchtest, überspringe die Stelle mit dem Affen-Emoji 🐒
Wenn du die 2. Staffel nicht zu Ende geschaut hast, bitte die Stelle mit dem Lotusblüten-Emoji überspringen 🪷
Das macht Mike Whites Storytelling in White Lotus bemerkenswert
Mike White ist der Kopf hinter White Lotus. Er ist der Drehbuchautor, der Regisseur und Produzent der Serie. Und ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit auf das, was jetzt kommt.
1. Jede Staffel beginnt mit einer Prolepsis (Si apre in una nuova finestra)
Wir erfahren, dass jemand in der letzten Folge sterben wird und springen dann sieben Tage zurück. Damit ist der Spannungsbogen sofort aufgestellt. Das ist an sich nicht außergewöhnlich. Im Streaming-Business ist es essenziell, die Zuschauer sofort zu hooken.
Damit schafft sich Mike White aber innerhalb dieses Spannungsbogens Zeit für andere Elemente, die ihm wichtig sind.
2. Die Charaktere
Typen, die wir alle kennen
Wir kennen sie alle aus dem echten Leben: Die Saxons, die Kates, die Jaclyns, die Mooks. Sie sind aber nicht einfach eindimensionale Klischees. White gibt sich Mühe, wirklich zu verstehen, was sie antreibt, in welcher Zwickmühle sie stecken. Er bildet diese innere Zerrissenheit ab.
Wir können sie nicht ausstehen
In den vergangenen Jahren sind bösartige Protagonist*innen in Hollywood sehr beliebt geworden. Die allermeisten Figuren bei White Lotus sind aber nicht das Böse in Person. Sie sind einfach stinknormal unsympathisch. Reich und ignorant, oberflächlich, überheblich, feige, egoistisch, unangenehm, peinlich.
Es sind Charaktere, über die wir gerne lästern. Deswegen hat die Serie maximal viel Gesprächswert. Denn ja, wir lästern gerne. Forscher gehen davon aus, dass die Fähigkeit zu lästern, der Hauptgrund ist, warum der Mensch die Sprache entwickelt hat (Si apre in una nuova finestra).
Die Masken fallen
Während Storytelling in Hollywood nach dem Prinzip der Heldenreise funktioniert, habe ich bei White Lotus noch keine Helden gesehen. Die Figuren durchlaufen zwar Transformationen, aber keine schmeichelhaften. Am Ende geben sie ihren Schwächen nach und treffen trotz besseren Wissens fragwürdige Entscheidungen.

3. Entschleunigung
Mike White fordert unser Dopamin-verwöhntes Goldfisch-Gehirn heraus
Als die 3. Staffel herausgekommen ist, haben viele gesagt, sie wäre nicht so gut wie die ersten beiden. Mir ging es ähnlich und jetzt weiß ich, warum.
Wir werden zwar mit dem Mordfall gehookt. Aber dann passiert lange wenig. Wir lernen die Charaktere richtig kennen, das Thema der Staffel - Spiritualität - wird allmählich eingeführt. Wir lernen die Bild-Symbolik der Staffel kennen. Interessant, aber den Dopamin-Kick, den wir üblicherweise durch Spannung bekommen (Si apre in una nuova finestra), gibt es hier nicht.
Warum wir trotzdem weiter gucken? Mike White hat sich mit der Serie einen Ruf erarbeitet. Er kann sich das leisten.
Dafür werden wir belohnt, wenn wir der Serie unsere volle Aufmerksamkeit schenken
Es gibt jede Menge zu entdecken: Von der Symbolik zur Musikauswahl, haufenweise Easter Eggs, Querverweise zur Mythologie, Verbindungen zu den früheren Staffeln und noch viel mehr. Wer sich dafür interessiert, wird bei Youtube fündig.
4. Kein Detail ist zufällig oder überflüssig
Tschekhows Waffe in der Schublade
Das ist ein Klassiker im Storytelling - eine Regel des russischen Dramatikers Anton Tschekhow: Wenn im ersten Akt eine Waffe in eine Schublade gelegt wird, muss sie im späteren Verlauf der Handlung abgefeuert werden.
Heißt: Kein Detail darf für die Handlung irrelevant sein. Wenn es keine Rolle spielt, muss es gestrichen werden.
Beispiele aus der Serie (Achtung Spoiler!)
🐒 In der ersten Folge fragt Saxon die Mitarbeiterin vom Hotel, was da für Früchte auf dem Boden liegen. Sie sagt, die seien ziemlich giftig. Das ist ein Randaspekt und wird wohl erst in der letzten Folge wieder aufgegriffen. Timothy, der die ganze Staffel lang über den Tod nachdenkt, fragt die Mitarbeiterin noch mal nach der Frucht. Sie antwortet: “Locals actually call it the Suicide Tree. So, don’t eat it.”
🪷 Am Ende der 1. Staffel sagt Tanja zu Greg: “I’ve had every kind of treatment over the years. Death is the last immersive experience I haven’t tried”. Zu dem Zeitpunkt ist es einfach ein verwirrender Satz, den man leicht vergisst. Am Ende der 2. Staffel wird Greg sie ermorden lassen.

5. Erzählen in Schichten
Wie eine Lotusblüte ist Whites Storytelling voller Schichten.
Die äußere Schicht ist die Frage: Wer wird sterben? Das Satirische hier: Im Laufe der Staffel zeichnen sich eine Menge Möglichkeiten aus. Es könnte jeden treffen.
Die 2. Schicht ist die Handlungsebene - komische Charaktere, witzige Dialoge usw.
Auf einer tieferen Ebene gibt es eine Erzählung in dem, was nicht gesagt wird, und die Schauspieler durch Körpersprache kommunizieren. Die Figuren versuchen krampfhaft, ihre Masken zu behalten.
Dringt man tiefer, kommt man durch die Bild- und Musik-Symbolik näher an die Wahrheit der Geschichte.
Denn - wie idealerweise immer - hat die Geschichte eine tiefere Wahrheit. Das Thema der 1. Staffel war Geld, in der 2. Staffel ging es um Sex und die 3. Staffel dreht sich um Spiritualität.
Wenn man alle Schichten durch hat, ist der Kern die Antwort auf der Frage: Was hat das mit mir zu tun?
Mehr zum Stöbern
✏️ Mike White ist einer der wenigen Drehbuchautoren Hollywoods, der nicht kollaborativ, sondern lieber alleine arbeitet. Hier erzählt er (Si apre in una nuova finestra), warum sein kreativer Prozess von außen eher nach Faulenzen aussieht.
🎹 Die Musik der Serie ist mittlerweile Kult. Dieser Filmmusik-Podcast erklärt (Si apre in una nuova finestra), warum uns das Intro-Thema der ersten beiden Staffeln so fasziniert.
🪷Hast du dich schon mal gefragt, warum die Serie “White Lotus” heißt? Das ist die beste und schönste Erklärung (Si apre in una nuova finestra), die ich bisher dazu gesehen habe.
Zum Schluss
Auf die Gefahr hin, dass ich kolossal daneben liegen werde: Ich glaube zu wissen, wer am Ende dieser Staffel sterben wird. Das (Si apre in una nuova finestra) ist mein Tipp.
Was glaubst du?
In diesem Sinne bis zum nächsten Mal!
Teodora
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