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Über die Freiheit: Wie ich Leuten Sucht erkläre

von Mika

Jeden Tag triffst du einen Haufen Entscheidungen – Pizza oder Salat, Handy oder Buch, Chips oder Abenbrot. Jede:r von uns hat eine eigene Beziehung zu diesen Fragen. Manche registrierst du vielleicht kaum, weil du nie auf die Idee kommen würdest, Chips zum Abendbrot zu essen. Andere stellst du dir immer wieder – sie nerven rum, machen dir ein schlechtes Gewissen und haben sich unbequem in deiner Brust festgesetzt. Wenn du nur daran denkst, fühlst du dich… unfrei, als wolltest du etwas abschütteln.

Ich glaube, dass jeder Mensch Entscheidungen auf einem Kontinuum seiner persönlich empfundenen Freiheit trifft. Das klingt erstmal ein bisschen abgehoben, ist aber eigentlich recht intuitiv. Du kannst dir das Kontinuum vereinfacht als einen Prozentbalken vorstellen, der von viel Freiheit (100 %) bis wenig Freiheit (0 %) reicht. Wo du mit deiner Entscheidung auf diesem Balken liegst, ist natürlich eine subjektive Einschätzung, je nachdem, ob du zum Beispiel:

  • viel über die Sache nachdenkst (Wie viele Kalorien hat ein Schokoriegel?), 

  • Mit Leichtigkeit ablehnen kannst (Nö, Danke. Kein Heroin für mich.) 

  • Sehnsucht nach einer Zeit hast, in der dir das alles mal völlig egal war (Früher hatten wir ja keine Handys). 

Ein hohes Maß an empfundener Freiheit besteht dort, wo wir problemlos etwas tun oder lassen können, ohne viel zu fühlen. Wir können relativ bedacht die Vor- und Nachteile abwägen und dann Ja/Nein/ein bisschen sagen. Für mich gilt das zum Beispiel für Joghurt/Heroin/Eiscreme. Am anderen Extrem fühlen wir uns wie an einer Schnur gezogen, als wären wir auf Autopilot, bis wir uns plötzlich in einer Situation befinden, die wir eigentlich vermeiden wollten. Und wenn wir zurückschauen, können wir nicht mehr genau sagen, wann wir uns eigentlich dafür entschieden haben. Ich habe zum Beispiel oft das Handy in der Hand, ohne mich daran zu erinnern, was ich genau damit wollte – Zack! 20 Minuten vorbei. 

Natürlich hängt all das sehr stark von der Situation ab, in der wir sind. Deine persönlich empfundene Freiheit ist nicht auf einen bestimmten Wert fixiert, sondern verändert sich je nach Ausgangslage. Irgendwie klar, oder? Morgens ist es super leicht, keine Chips zu essen, aber abends, wenn du erschöpft auf dem Sofa sitzt, sieht die Sache anders aus. Uhrzeiten, Orte, Tätigkeiten, Stimmung – Das alles beeinflusst, wie frei sich eine Entscheidung anfühlt. Ich finde es zum Beispiel bemerkenswert, wie wenig ich an mein Handy denke, wenn ich gerade in einem guten Gespräch bin. 

Alkohol und Entscheidungsfreiheit

Die Sache mit dem Alkohol ist folgende: Niemand in Deutschland trifft die Entscheidung zu trinken auf einer Grundlage von absoluter Freiheit. Na klar, Kleinkinder denken wahrscheinlich wenig darüber nach, ob sie sich nach einem anstrengenden Tag in der Krippe noch einen Rosé gönnen sollen. Aber sie sehen vielleicht, wie ihre Eltern es tun. Und je älter sie werden, desto mehr spüren sie die Erwartungen der anderen: Auch du wirst irgendwann trinken, weil alle Menschen irgendwann trinken. Das Umfeld, in dem du lebst, hat einen massiven Einfluss auf dein persönliches Freiheitsgefühl. Wenn du abwägen musst, ob es soziale Konsequenzen haben könnte, dass du einen Drink ablehnst, wenn es auf der Party nur Bier und Berentzen Sauer Apfel gibt oder wenn du nur sehr einseitig informiert wurdest, dann rutscht du auf deinem persönlichen Freiheits-Kontinuum ein Stück nach unten. 

Weitere Faktoren können sein: Ist dein Gehirn noch im Wachstum (zum Beispiel, weil du erst 14 bist und deine Eltern dir das Trinken »beibringen« wollen)? Kannst du die Folgen des Konsums überblicken? Lebst du mit psychischen Belastungen oder neurodivergenten Begabungen wie ADHS? Kannst du angstfrei mit anderen über deinen Konsum sprechen? Siehst du ständig Werbung für Alkohol? Bist du – jetzt in diesem Moment – schon besoffen?

Und allen voran: Hast du dich bereits ans Trinken gewöhnt? Denn nichts schränkt unseren Freiheit in Bezug auf Alkohol so sehr ein wie – you guessed it – Alkohol.

Nichts schränkt unseren Freiheit in Bezug auf Alkohol so sehr ein wie – you guessed it – Alkohol.

Der Kreislauf

Je mehr du schon an Entscheidungsfreiheit eingebüßt hast, desto schwieriger wird es, dich dagegen zur Wehr zu setzen. Sei es durch Einflüsse des Umfelds, durch Gewöhnung, eine persönliche Krise oder eine ungünstige Gehirnchemie – der Strom, gegen den du dich stemmen musst, wird immer stärker. Es anders zu machen, kostet immer mehr Kraft. Und je weiter du dich auf der Skala nach unten bewegst, desto kleiner wird dein Handlungsspielraum, desto unfreier wirst du. Situationen, in denen du bis vor kurzem noch ohne Probleme »Nein« sagen konntest, werden langsam zur Herausforderung. Prioritäten, die du eigentlich anders setzen wolltest, entgleiten dir. Abwägungen der Vor- und Nachteile haben immer seltener einen Effekt. 

So wie niemand eine hunderprozentige Freiheit in Bezug auf Alkohol genießt (vielleicht ein gut informiertes Alien?), glaube ich auch nicht, dass die Entscheidungsfreiheit vollständig auf Null gesetzt werden kann – nicht konstant, nicht dauerhaft. Denn Menschen sind ziemlich widerspenstige Geschöpfe. Das Feld, auf dem sich jemand mit einer schweren Abhängigkeit bewegen kann, ist eng – wahrscheinlich enger, als die meisten Menschen (inklusive mir) sich das vorstellen können. Aber letztlich geht es ja in der Genesung darum, sich das Gebiet zurückzuerobern, das der Alkohol sich genommen hat – mit der Hilfe von Menschen, die den Rahmen schaffen, in dem man seine Handlungsfreiheit wieder spüren, leben und ausbauen kann.

Als ich nüchtern wurde, erkannte ich zum ersten mal, dass der Alkohol selbst die treibende Kraft meiner Unfreiheit war, und dass Mehr-Trinken automatisch weniger Freiheit bedeutete und dass ich über das Trinken nachdachte, weil ich trank. Und allem voran: Dass eine Rückkehr zum Trinken auch eine Rückkehr in die Unfreiheit wäre, weil es den Alkohol nicht ohne den Alkohol gibt. Ich fand, dass Nathalie recht hatte als sie sagte »Ein Leben ohne Alkohol ist keine Qual. Es bedeutet Freiheit.«

Dann begann ich, mit all den anderen Dingen zu experimentieren, die mir sonst noch dabei helfen konnten, meine Freiheit zurückzubekommen. Ganz zu Beginn vermied ich es, abends oder direkt nach der Arbeit in den Supermarkt zu gehen – Ich wusste, dass das Situationen waren, in denen ich mich nicht mehr frei entscheiden konnte. Ich bemühte mich, regelmäßig zu essen und zu trinken, weil Hunger und Durst mein Handlungsfeld verkleinerten. Ich informierte mich, um der Desinformation der Industrie etwas entgegenzusetzen. Dann begann ich, mir die Stadt zurückzuerobern, die Uhrzeiten und Tätigkeiten, bis ich alles zurückhatte. Und je länger ich nüchtern war, desto mehr Freiheit empfand ich bei der Frage, ob ich trinken sollte oder nicht. Es war immer ein freies, freiwilliges, stolzes Nein. 

Argomento Weekly

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