Narr
Ein so niedergeschmetterter König wird nicht oft gesehen. Morgen wird vermutlich wieder alles beim Alten sein, doch heute? Schaut, wie er dasitzt, der Möchte-Gern-Herrscher, der Nicht-So-Ganz-Gönnerhafte, der Nur-So-Halb-Durchchecker. Schaut, wie seine Schultern hängen, wie seine Augen sich weigern zu leuchten, wie er sich die Stirn reibt. Schaut! Seine Krone ist verrutscht. Is this your king?
Schaut, wie sein Kopf hängt. Als würde sein Hals die Bürde des weißen Mannes nicht mehr tragen können. Als würde die Schwerkraft selbst sich melden:
Mir wurde lange genug widerstanden, König!
Nun sind Eure Stunden gezählt!
Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis alles in meine Richtung driftet,
ja, sogar Hoheiten müssen sich fügen!
Das ist die Kraft der Natur!
Das ist der von Euch geliebte Boden der Tatsachen!
Jetzt schaut der König auch. Sein Blick schweift gelegentlich durch den stillen Festsaal. Noch gestern mit Helden und ihren Sagen gefüllt, wirkt die jetzige Leere kalt und untröstlich. Wie die Wände gebebt hatten, obschon sie aus Stein waren! Wie die Weiber gezwirbelt hatten, obschon sie noch unverheiratet waren! Als gäbe es kein Morgen! Warum hatte die jüngste Tochter nicht einfach mitgetanzt?
O, Cordelia.
Der König stemmt das Kinn in der linken Handfläche, zieht seinen geschlossenen Mund hoch und atmet durch die Nase tief ein. Tränen? Selbstverständlich nicht. Hier wird nicht geweint! Es wird gebrüllt und dazu heftig gestikuliert. Es wird auf und ab vor imponierenden Gästen marschiert, es wird proklamiert, befohlen, gedroht. Und wenn all das nicht reicht, wird lautstark enterbt. So nämlich! Und nicht anders!
Kannst schauen wo du bleibst, Kind!
Und noch vieles, hässliches mehr hatte er, König Lohr, der Prinzessin Cordelia hinterhergerufen, kurz bevor sie durch die Tür schritt und für immer verschwand; kurz nachdem sie sich umgedreht, und ihm direkt in den Augen geschaut hatte. Mehr war nicht passiert. Mehr war nicht nötig. Nun regte sich der bodenlange, rote Vorhang, der vor jener Tür hing, seit Stunden nicht mehr.
Reue ist kein geläufiges Gefühl für einen König, zumindest nicht bewusst. Doch hört, wie sein Magen grummelt, obwohl er gesättigt ist. Schaut, wie er weiter an der Unterlippe kaut, obwohl sie bereits blutet. Noch einmal zieht er seinen geschlossenen Mund hoch und atmet tief durch die Nase ein. Ein dumpfer Schmerz pocht tief in seiner Brust.
Das Bild eines vereinsamten Königs täuscht allerdings, denn er ist nicht allein im Saal. Im Zentrum des größten Tisches, umgeben von abgebrannten Kerzen und fressenden Ratten und umgekippten Kelchen, grinst der Hofnarr im Schneidersitz. Ein winziger Mann ist er, mit frechem Blick. Und mit einer piepsigen Stimme, die sogleich die Stille durchbricht:
Naaaa?
Der König schreckt hoch und sieht den Narr an, als wäre es zum ersten Mal. Dabei treffen sich seine grauen Augenbrauen in der Stirnmitte:
Nennst du mich NARR, Junge?
Lediglich einen Akkord spielt der Narr auf den Saiten seiner Laute während er grinst:
Alle deine anderen Titel hast du weggeschenkt,
mit diesem bist du geboren.
Gewagt. Und der Narr weiß es, deshalb hält er sich für einen Moment den Atem an. Am Kopf des Königs ereignet sich ein beeindruckendes Farbenspiel: Erst Kreideweiß, dann Kirschblütenrosa, bis hin zu einem flammenden Rot. Die Explosion heißt:
Ich bin und bleibe KÖNIG!
Und sie hallt durch den Saal, ein tausend Stimmen hallen zurück:
KÖNIG…, König…, könig...
Der Hofnarr schaut seinen König entspannt an, während die faden Stimmen abklingen. Schließlich zupft er wieder einmal - drrling! – auf seinem Instrument und singt:
Höchstens, in unserer Erinnerung,
Eure Majestät!
Höchstens, höchstens, höchstens!
Höchstens, in unserer Erinnerung,
Eure Majestät!
Es ist ein ärgerliches Lied. Zum einen, weil es so schrecklich klingt - denn, seien wir ehrlich, der Narr hat wahrlich kein musikalisches Talent - aber zum anderen, weil jedes Wort einfach stimmt. Und während des Liedes hat der König kaum eine andere Wahl, als die bedauerlichen Ereignisse der vergangenen Nacht aufleben zu lassen. Rückblickend betrachtet war sein erster großer Fehler glasklar: Dass er wider besseren Wissens sein Vertrauen in seine drei Töchter gesetzt hat.
Seit einiger Zeit war im ganzen Land zu vernehmen, dass der König sein Amt niederlegen wolle. Es wäre wohl sein Wunsch, die letzten seiner irdischen Tage im Haus seines Lieblingskindes ausklingen zu lassen. Doch um den Anschein von Fairness zu erwecken, würde er allen seinen Töchtern die Chance geben, seine Gesellschaft zu „gewinnen“. Es gab keinen einzigen Menschen im Land, der dies für eine gute Idee hielt, doch der König umgab sich überwiegend mit „Ja-Sagern“. Klar war, dass er früher oder später den Preis dafür würde zahlen müssen. Gestern Abend war es soweit. Auf seinem siebzigsten Geburtstag.
Mitten im Geschehen hatte er auf den Tisch gehauen und den Partymachenden befohlen Ruhe zu geben. Erstaunlich wie schnell und wie gut es allen gelungen war.
König Lohr erhob sich von seinem goldenen Thron und gestikulierte in Richtung seiner drei Töchter, die jeweils am anderen Ende des Banketts saßen:
Sagt, meine geliebten Kinder!
Seine Stimme war tief und vibrierend:
- denn Euer Vater wird alt und jetzt zieht er sich zurück,
und seine Territorien, die Angelegenheiten des Staates, werden unter euch aufgeteilt -
sagt, wer von euch sieht in uns
Der König legte eine dramatische Pause ein und sah sich quälend lange im Saal um. Alle hielten den Atem an. Selbst die Katzen rührten sich nicht. Die Augen des Königs funkelten, als er noch einmal sprach:
wer von euch sieht in uns
den größten Antirassisten?
War da ein Schmunzeln auf seinem Mund zu vernehmen? Sicher hatte er geschmunzelt. Es machte ihn große Freude, Unruhe unter den Töchtern zu stiften. Er beendet seine Ansage mit den Worten:
Dass wir unseren größten Anteil verschenken
an das Kind, das am besten antwortet!
Goneril, unsere Älteste, sprecht zuerst!
Ein paar Akkorde schweben durch die Luft und zwingen den König, sich abermals auf den Narren zu besinnen:
(Was für eine unglückliche Frage, König …)
Quatsch mich nicht von der Seite an!
(… denn sie zeigt, dass Ihr gar nicht wisst,
was überhaupt Rassismus ist!)
Peitsche, Junge!
Es ist sein Versuch, den Narren einzuschüchtern, aber es gelingt ihm nicht. Beide hören das Flattern in der Stimme, wo eine eiserne Härte sein sollte. Der Narr legt seine Laute ab und beugt sich leicht zum König vor:
Habt Ihr gehört, wie Eure Tochter mit Euch gesprochen hat?
Der König denkt nach. Kurz bevor Goneril gesprochen hatte, hatte sie so ernst geschaut, er dachte im ersten flüchtigen Moment, dass sie zornig war und er fürchtete sich. Doch dann hatten sich ihre Mundwinkel leicht nach oben gezogen. Sie hatte von ihrer Dankbarkeit erzählt, dass der König ausgerechnet ihre Mutter geheiratet hatte, obschon sie augenscheinlich aus fernem Lande stamme. Dass er gewiss kein Rassist sein könne, er habe doch drei Töchter mit dunklem Teint. Dass er sogar einen Rappen im Hofgestüt stehen habe, so ein großer Antirassist sei er.
Die Augen, König. Wie waren die Augen Ihrer Tochter?
Ein König ist selten wortlos. Doch in diesem Moment kann er keine Beschreibung finden, die das, was er vorgeben wollte, nicht gesehen zu haben, angemessen beschreiben könnte. Also stammelt er etwas über die Antwort seiner zweiten Tochter. Gestern Abend habe er sich an sie gewendet:
Was sagt denn unsere zweite, und nicht weniger
geliebte Tochter, Regan? Sprecht!
Selbstverständlich, hatte sein zweites Kind gesagt, selbstverständlich sei Rassismus im Lande Thema. Und dass, wann auch immer Beschwerden in Richtung des Königs kämen, dies sehr ernst genommen werden müssten. Dass hier kein Platz für Rassismus sei! Dass aber die kritischen Meldungen in letzter Zeit allein auf der sprachlichen Ebene blieben und es sich lediglich um veraltete Vokabulare handele. Dass er kein Rassist sein könne, weil er nie eine diskriminierende Absicht habe. Dass er sogar das N-Wort mitrappen dürfe, so ein großer Antirassist sei er.
Die Hände, König. Wie waren die Hände Ihrer Tochter?
Der König schüttelt den Kopf so sehr, dass er zu schmerzen beginnt. Selbstverständlich war ihm nicht entgangen, dass sie ihre Hände versteckt hatte:
Aber das ist aber nicht Gegenstand der aktuellen Diskussion! Basta!
Schaut, wie der König zittert. Kaum wahrnehmbar, doch es ist da. Hört, wie er mit den Zähnen knirscht. Der Narr grinst noch breiter, denn er weiß, dass der König gerade an die Worte der jüngsten Tochter denkt. O, Cordelia. König Lohr hätte eigentlich wissen müssen, dass sie bei jenem makabren Spiel nicht mitmachen würde. Es ist, als würde ihre Stimme immer noch durch den Saal rauschen:
Antirassist, Papa? Dein Ernst?
Weißt du nicht mehr, was Mama dich gelehrt hat?
(Drei Ohren habt ihr, König!
Eines auf jeder Seite eures Kopfes und sogar eines in eurem Namen!
So viele Ohren und doch so wenig Nutzen!)
Gib sofort Ruhe!
So oft hatte sie dir erzählt,
dass du höchstens anstreben kannst, rassismuskritisch zu handeln,
doch immer mit dem Wissen, dass dein ganzes Sein,
vom Kopf bis zum Fuß, erst durch Rassismus möglich wurde!
Weißt du es wirklich nicht mehr?
Und wie so oft ertränkte der König seine Scham in einer Flut von Beschimpfungen. Diesmal richtete er sie gegen seine jüngste Tochter. Doch Cordelia beugte sich nicht und sie kauerte nicht. Sie schwor sich, nicht nachzugeben, wohlwissend, dass dieser Widerstand sie letzten Endes ihre Stellung kosten würde, so wie der Widerstand ihrer Mutter ihre Stellung gekostet hatte:
Uns wurde lange genug widerstanden, Papa!
Nun sind Eure Stunden gezählt!
Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis alles in unsere Richtung driftet,
ja, sogar Hoheiten müssen sich fügen!
Das ist die Kraft deiner Kultur!
Das ist der von dir geliebten Boden der Tatsachen!
Der Narr hüpft vom Tisch herunter. Er geht drei Schritte auf den König zu und verneigt sich vor ihm, bevor er sich wieder aufrichtet:
Deine geliebte Cordelia ist weg.
Und ich bin es auch.
Und als der Narr sich umdreht und geht, schaut der König zu Boden. Es ist wieder still im Festsaal. Noch gestern mit Helden und ihren Sagen gefüllt, wirkt die jetzige Leere kalt und untröstlich. Wie die Wände gebebt hatten, obschon sie aus Stein waren! Wie die Weiber gezwirbelt hatten, obschon sie noch unverheiratet waren! Als gäbe es kein Morgen! Warum hatte die jüngste Tochter nicht einfach mitgetanzt?
Schaut! Seine Krone ist verrutscht. Schaut, wie seine Schultern hängen, wie seine Augen sich weigern zu leuchten, wie er sich die Stirn reibt. Schaut, wie er dasitzt, der Möchte-Gern-Herrscher, der Nicht-So-Ganz-Gönnerhafte, der Nur-So-Halb-Durchchecker. Morgen wird vermutlich wieder alles beim Alten sein, doch heute? Wir sehen ihn genau: Ein so niedergeschmetterter König.
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Eine Kurzgeschichte von Sharon Dodua Otoo
"Narr" wird als Bühnenstück im August 2023 uraufgeführt. Weitere Informationen unter:
www.narrenfreiheit-kulturprojekte.de (Si apre in una nuova finestra)
Foto © Bogolan Color