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Schau mal genauer hin.

Mir ist das Leben gerade zu viel. Aber irgendwie auch zu wenig, ich denke zumindest, es müsste mehr sein. Alle anderen haben doch mehr! Mehr wovon und wer beurteilt eigentlich die angemessene Menge von… ja wovon denn nun?

Das Jahr neigt sich dem Ende, ich habe einen Brotjobwechsel hinter mir und zeitnah vielleicht auch wieder einen vor mir, ich denke über Beziehungen nach, über das Leben, andere Menschen und die vielen Ideen, die ich in einem motivierten Moment fein säuberlich auf pinken Notizzetteln notiert, aber noch nicht geschafft habe umzusetzen. Warum habe ich das denn noch nicht geschafft, ich arbeite doch nur in Teilzeit, um genau dafür Zeit zu haben?

Von außen betrachtet kann mein Leben doch gar nicht zu viel sein, oder? Ich arbeite 25 Stunden pro Woche, habe keine Familie, keine Kinder, um die ich mich kümmern und auch sonst keine offiziellen Aufgaben, denen ich gerecht werden muss. Meine Freund:innen sind alle viel beschäftigter als ich, sie haben Partner:innen, arbeiten Vollzeit und haben ein viel ausgeprägteres Sozialleben als ich es habe. Und doch ist es mir gerade zu viel. So viel, dass ich eigentlich gar nicht mehr weiß, was nun zuerst auf dem pinken Notizzettel stand und mit welcher Idee ich anfange weiterzumachen. Ich glaube, genau das ist der Punkt: Die Menschen in meinem Umfeld haben ganz offensichtlich viel zu tun, denn die acht Stunden im Büro, die Kinder, die Familien, das Engagement im Sportverein kann jede:r sehen. Was man bei mir sieht, das sind die drei Stunden früher Feierabend und das kleine Apartment mit Blick über die Dächer Berlins, das sich innerhalb einer Stunde tiefenreinigen lässt. Was kann denn da bitte zu viel sein?

Vielleicht ist der Ausdruck “zu viel” auch nicht ganz passend, denn im Grunde habe ich zu wenig. Zu wenig Sicherheit, zu wenig Struktur, zu wenig Verständnis, was gleichzeitig ein zu viel von Unsicherheit, Chaos und unüberlegten Kommentaren von außen bedeutet. Irgendwie liegt es mir am Herzen, diese Dinge aufzuklären, denn sie beschäftigen mich täglich und nächtlich und niemand sieht es. Vielleicht erkennst du dich darin ja auch wieder und fühlst dich ein bisschen weniger allein, wenn du das liest.

Sicherheit. Ja, es gibt viele Menschen, die in deutlich unsichereren Lebenssituationen stecken und auch viele kreative Menschen, die genau diesen Aspekt genießen, dieses Gefühl für ihr Vorankommen als Künstler:in brauchen oder einfach alles für ihre Leidenschaft riskieren. Ich gehe nicht aufs Ganze. Ich bin Teilzeit-Schriftstellerin. Immer dazwischen, immer zwischen zwei Welten, vormittags seriös und organisiert im Brotjob und am Nachmittag lege ich den Schalter um und schreibe den großen Roman. Siehst du den Fehler? Nein? Okay, dann zeig mir einmal diesen Schalter, der mich auf Knopfdruck die fünf Stunden im Büro vergessen lässt und mich in den Schriftstellerinnen-Modus schickt. Ich habe ja noch den ganzen Nachmittag und Abend Zeit! Soll ich doch lieber wieder einen Job in einer Redaktion annehmen, damit ich mehr schreibe? Aber dann verballere ich doch wieder meine ganze Kreativität an fremden Erfolg und für mich bleibt kein Funke mehr übrig. Ich sollte wieder eine Pro und Contra Liste erstellen, aber eigentlich weiß ich schon, wie sie aussehen wird.

Struktur. Ich brauche Routinen, sie geben mir Sicherheit. Irgendwann werden sie langweilig und ich breche aus ihnen aus, aber ich komme immer wieder zu ihnen zurück, weil sie mir guttun. Sicherheit ist ein gutes Gefühl und eine bestimmte Struktur im Leben zu haben hilft dabei ungemein. Zumindest, wenn man auf sich allein gestellt ist. Vielleicht wäre es anders, wenn ich Eltern oder einen Partner im Rücken hätte, die mich im Notfall auffangen würden, finanziell und emotional. Wer es allein schaffen will, der braucht einen Plan. Oder lieber fünf. Mein Plan war es immer Journalismus zu studieren, in Berlin zu leben und zu schreiben. Das tue ich. Und jetzt? Jetzt möchte ich erfolgreich schreiben. Schreiben und irgendwann davon leben können. Dafür gibt es keinen Fahrplan. Ich bekomme hier keine Noten mehr für meine Werke, die mir sagen, ob ich mein Tun beherrsche oder nicht und niemand verlangt von mir, meine Bücher zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig zu haben, geschweige denn sagt mir, was ich überhaupt schreiben soll. Ich bin auf mich allein gestellt. Und das finde ich gut, das ist genau das, was ich wollte. Und alles, was sich im Außen strukturieren und planen lässt, steht auf Notizzetteln und im Kalender. Aber mein Inneres, das macht sich rein gar nichts aus Planung und zurechtgelegten Strukturen. Mein Inneres verlangt, dass Gedanken zu Ende gedacht, Gefühle durchlebt, Emotionen gefühlt und Erlebtes verarbeitet wird. Gibt es kreative Menschen, die sich all dem widersetzen und zu ihren festgelegten Zeiten an den geplanten Projekten schreiben können und tatsächlich etwas zu Papier bringen? Bei mir sind Kreativität und Grübelnasendasein so stark miteinander verbunden, dass ich in solchen Momenten nicht einmal in die Nähe meines Laptops komme. Dann wiederum gibt es Tage, an denen ich völlig unverhofft Seite für Seite tippe und im Handumdrehen eine Geschichte geschrieben habe. Ohne Struktur. Ohne Sicherheit. Ohne das Wissen, dass all das irgendwohin führt. Muss es denn wohin führen?

Verständnis. Kommentare. Wo fangen wir da nur an? Zum einen glaube ich, dass der Wunsch nach Verständnis oft mit dem Einfordern von Mitleid verwechselt wird. Ich brauche kein Mitleid! Ich will einfach nur verstanden werden, damit ich nicht dauernd mit unüberlegten Kommentaren fertig werden und immer wieder überlegen muss, ob sich jetzt eine Diskussion lohnt oder Erklärungen ohnehin zwecklos sind. Ich weiß, dass ich den Aspekt der Teilzeitarbeit bzw. des Außenseiterdaseins schon mehrmals angesprochen und vermutlich auch in jedem einzelnen Beitrag hier erwähnt habe, aber dadurch merke ich selbst erst, wie oft ich mich diesbezüglich rechtfertigen will. Und es nagt an mir, dass ich es selbst Menschen, die mir nahestehen, immer wieder erkläre und dennoch wiederholt zu hören bekomme:

“Ach Teilzeit, du hast es gut.”

“Wenn ich mir das leisten könnte…”

“Du hast ja Zeit, du arbeitest doch nur den halben Tag!”

“Teilzeit, das ist ja totaler Luxus.”

Ich weiß, dass es Menschen gibt, für die so etwas wirklich ein Luxus ist, den sie sich nicht leisten können, weil sie beispielsweise eine Familie zu versorgen haben. Aber das sind nicht die Menschen, die so etwas sagen. Menschen, die meinen Lebensstil wirklich nicht führen könnten, die sind neugierig und stellen Fragen, freuen sich mit mir, dass ich es mir ermöglichen kann, mein Leben so zu gestalten, wie es für mich richtig ist. Nicht, weil ich es mir “leisten kann” als Kind eines Taxifahrers und einer Hotelfachfrau, das immer noch Studiengebühren abbezahlt. Sondern weil ich mir das selbst ermögliche. Und das, das ist ein großer Unterschied. Vielleicht kennst du das auch aus anderen Lebenssituationen:

Du bist schlank, weil du dich strikt ernährst und viel Sport machst? Mann, hast du ein Glück!

Du kannst dir einen teuren Urlaub leisten, weil du hart dafür gearbeitet und an anderer Stelle verzichtet hast? Boah, na den Luxus hätte ich auch gern!

Du kochst jeden Tag frisch, weil du viele Lebensmittel einfach nicht verträgst? Na, so viel Zeit möchte ich auch mal haben!

Erkennst du das Muster? All diese kleinen Bemerkungen können für unser Gegenüber sehr verletzend sein! Wir verurteilen den Menschen in solchen Momenten und sagen ihnen direkt ins Gesicht, dass wir sie nicht ernst nehmen, ihre Situation herunterspielen und zeigen ihnen, dass sie sich schlecht zu fühlen haben. Nur weil wir neidisch sind und nicht sehen, dass hinter blühenden Pflanzen immer eine Menge Arbeit, Disziplin, Vergänglichkeit und Unsicherheit steckt. Und meistens meinen diese Menschen ihre Aussagen nicht einmal böse, sie drücken damit nur ihre eigene Unzufriedenheit aus. Aber sie tun weh.

Der treffendste Vergleich für mich ist immer wieder der mit meiner Diabetes-Typ-1-Erkrankung, wenn jemand zu mir sagt: “Ich könnte mich ja nicht spritzen” oder “Hast du es mal mit Keto versucht?”. Ich sterbe, wenn ich mir kein Insulin verabreiche und keine Diät heilt meine Krankheit. Das ist okay, ich komme gut zurecht und du musst dich nicht spritzen können, wenn du gesund bist! Warum sagen wir denn solche Dinge? Oft, weil wir nicht wissen, wie wir auf Unbekanntes reagieren sollen, oder? Aus Unsicherheit. Und diese Unsicherheit muss irgendwohin, also schicken wir sie schnell an unser Gegenüber, in Form eines völlig unangebrachten Ratschlags.

Und ich weiß, dass gerade Menschen, die in irgendeiner Form kreativ sind oder einfach einen anderen Weg gehen, als die meisten in ihrem Umfeld, nahezu täglich mit solchen Dingen konfrontiert werden. Und das, obwohl wir uns sowieso schon regelmäßig die Köpfe zerbrechen, uns zu viele Gedanken machen und eigentlich nur in Ruhe unser Ding machen wollen, ohne dafür verurteilt zu werden. Das tun wir schon selbst zur Genüge! Es mag sich für den oder die Absender:in nicht so dramatisch anfühlen, denn eigentlich drückt man doch nur seine Bewunderung aus. Aber diese kleinen Sätze können sehr viel anrichten.

Stattdessen könnte man doch auch fragen, wie es ist, wenn man fünf statt acht Stunden ins Büro geht, ob man genauso viel Arbeit schafft, ob man dann doch immer wieder gefragt wird, ob man länger bleibt oder ganz einfach: Wie sieht dein Tag heute aus? Was gefällt dir an deiner Arbeit? Was interessiert dich aktuell? Es gibt so viele Alternativen für diese Phrasen. Fragen sind immer besser als unüberlegte Aussagen, die auf unserem flüchtigen Blick von Außen beruhen.

Als chronische Zuvieldenkerin denke ich mir an dieser Stelle: Du willst doch jetzt nicht wirklich einen Beitrag posten, in dem du dich pausenlos darüber beschwerst, dass andere Menschen Dinge sagen, die dir nicht gefallen! Das ist ganz schön unangenehm, was sollen denn die Leute von dir denken? Aber genau darum geht es ja hier: den Mut aufzubringen, auch mal Dinge zu schreiben, die vielleicht nicht jedem und jeder gefallen. Das ist Schreibmut. Und ich hege ein kleines bisschen Hoffnung, dass diese Zeilen einem anderen Menschen Mut machen, auch Dinge anzusprechen, die einem unangenehm sind und wir alle vielleicht ein bisschen mehr aufeinander achten und die Situationen anderer Menschen genauer betrachten, bevor wir uns dazu äußern. Wenn wir das denn überhaupt tun müssen.

Ich bin übrigens immer noch sehr glücklich mit meinem Weg und fühle mich mit all den Unsicherheiten pudelwohl. Es ist nicht der einfachste Pfad, aber es ist der, den ich gehen möchte. Auch wenn die Gefahr zwischendurch mal zu stoplern hier größer ist, als auf den geteerten Straßen. Worum es mir in diesem Beitrag geht, ist: Jeder Weg bringt seine Herausforderungen mit sich und die Stationen der anderen ungefragt zu bewerten, macht es niemandem leichter. Lasst uns unsere eigenen Reaktionen auf Menschen, die Dinge anders machen, als wir einmal überdenken. Wenn mein Teilzeitjob bei dir ein: “Wenn ich mir das leisten könnte” auslöst, dann schau genau hin und überlege, ob ich das hier tue, weil ich es mir leisten kann oder ob doch etwas anderes dahintersteckt. Frag mich!

Alles Liebe

deine Sarah

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