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V

Vergangenheit

Das war sie also. Die verehrte Mutter, die gefürchtete Professorin für Marxismus-Leninismus. Ex-Professorin. Jetzt Zeitungszustellerin, deren kurzer Arbeitstag dann begann, als sie früher ihren Schreibtisch verlassen hatte. Sie hatte viel gehört von ihr, war ihr aber noch nie begegnet. Wozu auch. Solange sie einfach nur in der Clique zusammenhingen, spielten ihre Eltern keine Rolle und konnten das auch nicht. Die hatten genügend eigene Anschlussprobleme, sich in dem neuen Staat zurechtzufinden, um sich auch noch doppelt in die Loslösung ihrer Kinder zu vertiefen, die wiederum mit ihrem Erwachsenwerden beschäftigt waren, was gerade erheblich interessanter war als Gesellschaftspolitik. Das immerhin war normal.

Er war etwas angespannt vor ihrer ersten Begegnung gewesen, der Vorstellung seiner Freundin, die seine Mutter schon mehrfach eingefordert hatte, als ihr gewahr wurde, dass ein Name aus der Clique an Bedeutung gewann. Das Mädchen? Aufgeregt und noch angespannter war er dann, als er sie seinem Vater vorzeigte und von ihm prüfen ließ, denn darauf war dieses Treffen wohl hinausgelaufen.

Während seine Mutter in einem der drei Hochhäuser an der Jannowitzbrücke wohnte – zusammen mit den zwei Söhnen, die sich ein winziges Zimmer teilen mussten –, war der Vater nach der Scheidung in dem Einfamilienhaus in Köpenick wohnen geblieben, das ihm seine Parteiverbundenheit und seine Professur für Ökonomie eingebracht hatten. Der Vater, viel älter als die Mutter und aus jüdischem Kommunistenadel stammend, hatte das Glück gehabt, beim Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik bereits Pensionär gewesen zu sein, so dass sein Zynismus und Spott Zeit und Raum hatte, sich im Warmen und Behaglichen an geschliffenen Formulierungen selbst zu erfreuen, statt wie seine Ex-Frau nun vor Morgengrauen bei Wind und Wetter westdeutsche Propagandamedien in Briefkästen stecken und jeden Pfennig umdrehen zu müssen. Ihr Stolz ließ nicht zu, sich von ihm unterstützen zu lassen, die Scheidung war mit Krawall erfolgt, bevor die Mauer fiel und kein Wort wurde seitdem mehr miteinander gewechselt. Die Söhne, ihr Freund und sein vier Jahre jüngerer Bruder, fuhren selten hinaus nach Köpenick, freiwillig nur ihr Freund. Ihr Vater war ein Frauenheld gewesen, dem es nie an Affären gemangelt hatte, was er, viel beschäftigt und wie seine Frau als Professor an der Humboldt-Universität lehrend, erstaunlich lange vor ihr hatte verbergen können. Seine Flirts hatte sie sehr viele Jahre ironisch betrachtet und kommentiert, war er doch brillant und renommiert, sein schneller, scharfer Humor und seine ganze Erscheinung unwiderstehlich. Außerdem war es schließlich der Intellekt, der sie verband und zu einem idealen Paar machte, an dem Kleingeistigkeit und Engstirnigkeit abprallten. Als sie jedoch zur Kenntnis nehmen musste, dass er es keineswegs beim Flirten belassen hatte, dass ihm Ehe und auch ihre Ideologie zu eng wurden, war ihr Zorn grenzenlos. Der galt dem Getuschel und den Blicken an der Universität genauso, wie seinen Argumenten in den sie früher so belebenden politischen Diskussionen, die ihr mäßigend, rational, ironisch gegenübertraten und sich irgendwann im Zuge seines Loslösens von ihr in beißende, vernichtende Urteile wandelten. Die Beleidigung ihres Verstandes und der, aus ihrer Sicht, Verrat an den alten Überzeugungen trafen sie härter als jede Lüge über angebliche Sitzungen oder durchgearbeitete Nächte im Institut.

Als Ökonom kam er nicht umhin sehr viel früher, vielleicht schon sein ganzes Berufsleben lang, zu wissen, dass es mit dem Aufbau des Kommunismus so nichts werden konnte, denn auch eine sogenannte klassenlose Gesellschaft braucht Mittel zum Verteilen. Zwischen Ideal und Wirklichkeit fand sein Sarkasmus genügend Raum zum Leben und nach dem Zusammenbruch des Systems konnte er sich unberührt von der Außenwelt den Gedanken an das große Ganze hingeben, während seine frühere Lebensgenossin sich nun – aussortiert und quasi bar jeder Qualifikation – über Wasser hielt und sich in diesem ersten Jahr nach der Wiedervereinigung sehr mühsam im Alltag und mit ihr ganz unbekannten Sorgen zurechtzufinden hatte. Die finanzielle Existenz zu sichern war das eine, plötzlich ein Nichts zu sein das andere. Ich war Professorin.

Ja, leider für Marxismus-Leninismus. Vorbei, ihre Zeiten.

Sein Mami, und alles was darin schwang, war ihr suspekt, aber Mamis Schicksal ließ sie kalt. Zum Glück hatten Leute wie diese Frau ihnen nichts mehr zu sagen.

Der Vater empfing sie mit diabolischem Grinsen und offensichtlich sehr angetan, zumal sie seine ironischen Bemerkungen ebenso parierte. Der alte Mann, denn so kam er ihr mit siebzehn natürlich vor, fand wie viele vor und nach ihm nach dem Verlust des Glaubens an den Sozialismus zurück zum Glauben seiner Vorväter. Natürlich nicht zur Religion, aber zu den Überlieferungen, dem Disput. Marx-Engels-Lenin wurde eingetauscht gegen die Bibel, die allerdings nie wirklich verschwunden gewesen war, sondern nun nur sichtbar aus der zweiten Reihe im Bücherregal in die erste rücken durfte. Aber hatte nicht auch der große Bertolt Brecht schon gesagt, die Bibel sei für ihn das wichtigste Buch? In diesen Rette-sich-wer-kann-Zeiten direkt nach der Wiedervereinigung, in denen sich die alten Genossen genauso unsolidarisch und opportunistisch zeigten, wie man sie stets eingeschätzt hatte, scharrten sich die jüdischen Genossen nun umeinander, wurde plötzlich ihre gemeinsame Herkunft und die sich so ähnelnden Familiengeschichten zu Bindegliedern, die sie früher nicht gewesen sein sollten. Die stete Ambivalenz ihrer Existenz wurde nun von den alten jüdischen Kommunisten offen ausgesprochen, sich an die Eltern und Großeltern und ihren Traditionen erinnert. Vielleicht auch, weil der erklärte Antizionismus der DDR sich nun als das zeigte, was er immer war: ein Antisemitismus in Kommunistengewand und unfreiwillig, von außen angetragen, es plötzlich eine Rolle spielte, wer von der alten Elite des Landes Jude war. Die Reihen fest geschlossen, wie es noch vor kurzem in den alten Kampfliedern gemeinsam gesungen wurde, galt nun untereinander. Von der Schicksalsgemeinschaft, als die sich die westdeutschen Juden definierten, war man zwar weit entfernt, war man doch schließlich zuerst und generell wie die anderen Genossen als Kommunist verfolgt worden, hatte gekämpft, war im Widerstand gewesen und so weiter, doch sahen sich fast alle dieser alten Klassenkämpfer seit den 80er Jahren den gleichen emanzipatorischen Fragen ihrer Kinder nach ihrer Familiengeschichte ausgesetzt und sich diese zu ihrem Erstaunen in der Synagoge, in kleinen jüdischen Kulturkreisen versammelten, was der Staat auf Suche nach Devisen plötzlich duldete, wenn auch genau überwachte.

Der Vater jedenfalls, der seinen Söhnen einen geradezu lächerlich klischeehaften jüdischen Familiennamen vererbt hatte, schien schon allein auf Grund ihrer Herkunft von dieser Freundin seines Sohnes eingenommen zu sein. Er erweckte allerdings nicht den Eindruck, dass ihm diese früher nicht schon genauso wichtig gewesen wäre, und das lag gewiss nicht nur daran, dass die Mutter ihres Freundes sich des Nachts auf das Sofa zu ihnen gesetzt hatte und ansatzlos nach langen stummen Blicken auf ihre Söhne fallenließ: Ich habs euch versaut.

Das Judentum vererbt sich über die Mutter; ihr wurde irgendwie schräg von seinen beiden Eltern vermittelt, dass ihr Erscheinen in der zerbrochenen Familie einer Reparatur gleichkam, einer Wiederjudmachung.

Ich brauch das Auto morgen, wir fahren zu Vater, erwiderte der Freund nach einer Weile in seinem seltsam angespannten, dünnen Tonfall, den er bekam, wenn er sich unwohl fühlte, Sätze, die er nicht sagen wollte, herauspresste und mit einem kurzen Schnaufer, als hätte er sich übermäßig anstrengen müssen, beendete. Mit langsamem, wiederholtem Nicken nahm seine Mutter, Mami, das zur Kenntnis, sie beide dabei müde fixierend. Mami blieb noch eine ganze Weile stumm auf der ausgezogenen Couch sitzen, die ihnen als Bett dienen sollte. Der kleine Bruder hatte ausnahmsweise von selbst erfasst, dass er sich zurückziehen sollte. Er verschwand in dem Jungenzimmer, das er heute Nacht für sich hatte. Privatsphäre gab es in der Drei-Zimmer-Wohnung mit den Papierwänden nur für die Mutter, die ein eigenes Schlafzimmer hatte, das sie nun des Öfteren mit einer Freundin, ihrer neuen Liebe, teilte. Das Wohnzimmer, das ihrem Freund und ihr überlassen wurde, wenn sie über Nacht blieb, war nie ein geschützter Raum, nicht nur, weil man es durchqueren musste, um zur Küche zu gelangen, die nicht mehr als eine durch ein Schiebeglas vom Raum getrennte Küchenzeile war, sondern auch, weil es unter den Dreien keinerlei private Abgrenzungen gab. Zuerst hatte sie irritiert gedacht, nur der pubertierende Bruder in seiner Anhänglichkeit an ihren Freund, der ihn quasi großgezogen hatte, wäre so distanzlos. Er kam ohne zu klopfen in das Zimmer und betrachtete mit geradezu wissenschaftlicher Neugier, wie sein großer Bruder sie küsste und berührte, ihr das Kleid von der Schulter herunter oder die Beine hochschob, und wenn sie darauf ihren Freund von sich wegzuschieben trachtete unter den freundlich und gespannt lächelnden Blicken des Vierzehnjährigen, wurde ihr Freund ungehalten - ihr gegenüber zuerst. Insgeheim jedoch nervte sie vor allem die ständige Beobachtung und die körperliche Nähe, denn der Junge trat an das Bett sogar näher heran, um dieses merkwürdige Verhalten der Älteren besser studieren zu können: Vielleicht ließ sich hier etwas lernen. Dass die Anwesenheit des Bruders so Intimitäten unterband oder auf Fummeleien und Küsse beschränkte, störte sie jedoch keineswegs, denn zu mehr war sie nicht bereit. Im Übrigen war ihr Freund ein schlechter Küsser.

Ins Bad, das man nicht verriegeln konnte, ging sie nur noch hastig und mit Ankündigung, nachdem der Bruder einmal erwartungsvoll vor ihr stand, als sie den Duschvorhang zur Seite schob.

Der Umgang zwischen ihrem Freund und seinem Vater schien ihr auf mehreren Filmspulen parallel zu laufen, Bild und Ton passten nicht zusammen.

Kein Wort hatte ihr Freund über sein Verhältnis zu seinem Vater fallen lassen, weder vor noch nach dem Vorstellungsbesuch. Körperlich hielten sie in dem sparsam möblierten großen Zimmer zum Garten größtmögliche Distanz. Doch die von weitem so reserviert wirkende Figurenaufstellung verströmte Vertrautheit und Wärme, eine Sehnsucht nacheinander, die keiner sich anmerken lassen wollte. Wie die verborgene, geheime Schatzkiste einer Bande, die nur bei Gefahr von Leib und Leben gehoben werden durfte, ein geteiltes Geheimnis, und die die pflichtschuldige Solidarität mit Mami als die Last illustrierte, die sie war.

Sie hatte dem Vater die Hand zur Begrüßung gegeben, ihr Freund sich auf ein stummes Nicken von der Türschwelle beschränkt. Jetzt lief er nervös mit zwei, drei Schritten nach rechts und wieder nach links vor der Schrankwand mit Büchern entlang, verschwand in die Küche, um Instantkaffee aufzugießen, diese Vorliebe immerhin teilten seine Eltern, während sein Vater sie amüsiert betrachtete. Diese Prüfung war keineswegs unangenehm, was nicht nur an seinem etwas grimmigen Altherren-Charme lag, sondern möglicherweise schlicht daran, dass sie das Alleinsein und ihre Freiheit viel zu sehr liebte, als dass sie ernsthafte Verbindungen mit irgendwem eingehen wollte und es deshalb im Grunde völlig egal war, wie das Urteil über sie ausfiel. Sie wohnte seit einem Jahr, dem Beginn der Oberschulzeit, alleine und es schien ihr überlebensnotwendig, dass niemand mehr irgendeine Entscheidung für ihr Leben traf oder auch nur über ihre Zeit bestimmte. Außerdem war sie siebzehn und durch nichts zu zerstören.

Als ihr Freund irgendwann mit dem Kaffee wieder auftauchte, lange war er ferngeblieben, sagte sein Vater, bevor er zur Tasse griff: Ihr habt meinen Segen.

Sie verschluckte sich an der Plörre und registrierte zu ihrer Verblüffung, dass ihr Freund das komischerweise nicht nur kommentarlos, sondern mit dem Anflug eines dankbaren Lächelns aufnahm. Merkwürdigerweise gelang es ihr, die sie sonst stets zu impulsiv reagierte, sich zusammenzureißen und den Moment einfach verstreichen zu lassen, obwohl sie am liebsten aufspringen und davonlaufen wollte. Zwischen Vater und Sohn, die auch jetzt am sehr langen Tisch so weit voneinander entfernt wie möglich saßen, schwang ein wortloser Dialog im Gleichklang, selbst ihr Atem lief synchron. Es war für sie gleichermaßen fesselnd und gänzlich unverständlich, das zu beobachten.

Außer in seinem gerade begonnenen Physikstudium die gewohnte Brillanz zu zeigen – das verstand sich von selbst –, stellte der Vater keinerlei Ansprüche an seinen Sohn, was ihr Verhältnis in gewisser Hinsicht klar und von Anfang an erwachsen definierte. Ihre Unterhaltungen drehten sich mit sorgfältig und sparsam gewählten Worten um Literatur, hatten dabei allerdings etwas von stichpunktartiger Prüfung, und bestanden ansonsten aus stummen Schachspielen. Mit Alltäglichkeiten und Banalitäten hatte man dem Vater nicht zu kommen.

Verlor ihr Freund gegen seinen Vater, brachte ihm das ein stirngerunzeltes Kopfschütteln ein, das noch Tage an ihm nagte. Er trainierte seinen jüngeren Bruder, spielte aus dem Gedächtnis die Partien gegen den Vater mit dem Bruder nach, um den Kleinen vor ähnlichen strategischen Fehlern zu bewahren und gleichzeitig zu ergründen, wie ihm selbst diese hatten passieren können. Er sprach nie über Befindlichkeiten. Dass sie nicht einfach eine, sondern jetzt seine Freundin war und dass das selbstverständlich eine ernste Angelegenheit war, erschloss sich doch auch ohne Worte; dass umgekehrt aber er für sie nur ein Freund war, kam ihm gar nicht in den Sinn. Ein zielloses sich Treibenlassen, eine Zerstreuung nur um den Moment des Loslassens war eine Zeitverschwendung für ihn, ein unnützer Leerlauf. Sie war gewissermaßen eine Aufgabe für ihn, ein Rätsel, dass er zu lösen versuchte und er hatte sich entschieden. Seine Liebe, oder was er in seiner Verliebtheit, die eine irgendwie störende, beunruhigende, weil unkontrollierbare Regung war, dafür hielt, zeigte er doch durch all die Zeit, die er ihr darbrachte, in seinen gierigen ungeschickten Küssen, im überraschenden nächtlichen Klingeln an ihrer Tür. Ein Telefon hatte sie nicht. Sie waren doch wohl zusammen, offensichtlich. Wozu sonst die ganze Mühe? Wenn sie ihn an der Tür abwies oder alleine die Treffen mit der Clique verlassen wollte, runzelte er grübelnd die Stirn und ging in Gedanken die letzten Stunden durch wie eine Schachpartie, um den Fehler zu finden.

Der harte Kern der Clique hing nicht einfach so miteinander herum. Sie übten wie besessen Gitarre mit keinem geringeren Ziel, als Friday Night in San Francisco nachspielen zu können. Auf den Kassetten wurde Takt für Takt nachgehört, die Noten notiert, hunderte, tausende Male jede Phrase verbissen, verschwitzt, gänzlich versunken geprobt.

Es amüsierte sie, dass es keinen Unterschied machte, ob er sich plötzlich begehrlich ihr näherte oder von den Feynman-Lectures sprach; der hingebungsvolle Glanz in seinen Augen, die Erregung, die ihn dann erfasste, schien exakt die gleiche zu sein. Das war komisch und wiederum ein interessantes Rätsel für sie, sollte man doch meinen, dass die Quantenmechanik, die ihn besonders fesselte, eine andere Hirnhälfte stimulierte als das Streicheln ihrer Haut. Aber was wusste sie schon, es interessierte sie auch nicht sonderlich.

Neben dem kostbaren Schuber mit den drei Bänden des gesammelten Feynman und der Gitarre war sein wertvollster Besitz sein neues Rennrad aus Westfabrikation. Wenn sie nicht so gedankenlos und unbekümmert gewesen wäre hätte sie verstanden, was es für ihn bedeutete, ihr das genauso mühsam wie den Feynman vom ersten Westgeld ersparte Rad zu leihen, als sie eines Nachts unbedingt nach Hause wollte. Am nächsten Tag, als sie es ihm zurückbringen wollte, hatte sie einen Unfall, als sie mit den ungewohnt schmalen Reifen in der Rosenthaler Straße zwischen die Tramschienen geriet. Sie war ein wenig zerschunden, aber der sich von hinten aus der Kurve Neue Schönhauser nähernden Tram knapp entkommen. Nur das Vorderrad hatte leider eine Acht. Sie rief ihn zerknirscht und mit dröhnendem Schädel aus dem Café an, vor dem sie sich und sein schönes Rad hingelegt hatte, und seine erste Frage galt spontan dem Rad, was ihr in dem Moment völlig verständlich war. Auf seinen langen Beinen kam er quer durch Mitte in geradezu olympiareifer Geschwindigkeit angerannt, um das Rad zu schultern und sie in ein Taxi zu sich zu setzen, wogegen sie benommen unerhört protestierte. Mami weilte bei ihrer Freundin und die beiden Brüder widmeten sich geradezu mit Begeisterung dem Fall auf der Wohnzimmercouch. Es war ziemlich lästig, aber ihr war kotzübel und schwindlig. Fasziniert kommentierte der kleine Bruder jede Größen- und Farbveränderung der Beule an ihrer Stirn, machte unentwegt eine Tasse nach der anderen des scheußlichen Instantkaffees mit Milchpulver, während ihr Freund ihr aus dem Feynman dozierte oder zur Abwechslung Isaak Babel vorlas. Wenigstens verschonte er sie heute mit Majakowskiversen auf Russisch. Beide Brüder legten sich links und rechts neben sie zum Schlafen nieder, was der Zumutung nun wirklich zu viel war und sie dergestalt mobilisierte, dass es ihr unbemerkt gelang, sich hinkend und mit pochendem Kopf aus dem Haus zu schleichen, wo sie mangels Gelds ein Auto auf der Straße stoppte, dass sie den kurzen Weg nach Hause fuhr.

Er begriff nicht, was mit ihr los war und schaute sie am nächsten Tag wegen ihres heimlichen Verschwindens genauso ratlos an, wie an dem Nachmittag als sie das Haus seines Vaters verlassen hatten und sie ihn anfuhr: Ihr habt meinen Segen? Was bitte, was??

Klare Verhältnisse, antwortete er leiseund lächelte gequält und bittend zugleich.

Er fuhr vornübergebeugt, die Kippe im Mund, sie starrte aus dem Beifahrerfenster. Sie schwiegen. Ein paar Straßen vor ihrer Wohnung stieg sie wortlos an einer Ampel aus.

Sie verstand durchaus, dass er ein klares Verhältnis bevorzugte, eine saubere Versuchsanordnung.

Sein Leben mit der umgestürzten Mutter, die ihre festgewachsene Arroganz und Überzeugungen hütete, weil von ihrer vorherigen Existenz nichts geblieben war und der Klassenfeind sie aus der Gesellschaft, der Universität, ihrem ganzen bisherigen Dasein ausgestoßen hatte, war kompliziert genug. Mami (Herrgott noch mal: Mami!) waren nur mehr ihre beiden hochbegabten Söhne geblieben, auf die sie hochmütig und voller Stolz verweisen konnte. Sie hatte sich, wie viele Frauen in führender Position in der DDR, nie zuerst als Mutter definiert. Kinder hatte sie auch, aber die hatte ja jede, das war nichts von Bedeutung und für Kindereien war nie Zeit. Zu der gewohnten Verantwortung für seinen kleinen Bruder kam, wie für sie alle, nun das Zurechtfinden in dem neuen Staat dazu, aber jetzt taugte Mami nicht mal mehr für Rat und Hilfe. Sie hatte nur Hohn und Verachtung für dieses nichtswürdige, rückgratlose Volk und überließ es ihrem Ältesten, sich für sie alle zurechtzufinden. Oft übernahm er ihre Zustellroute, damit sie sich die Decke wieder über den Kopf ziehen konnte. Saß bis drei Uhr nachts dann über seinen Physikbüchern, schlief nach dem Austragen der Zeitung ein, zwei Stunden und raste auf seinem Rad zerknautscht und ungeduscht ins physikalische Institut. Manchmal trafen sie sich am Nachmittag, wenn sie von der Schule kam, auf einen Kaffee in der Mensa oder, wenn es warm war, im Monbijoupark, der zwischen ihrer Wohnung und der Universität lag. Wenn er sich ins Gras neben sie ausstreckte, schlief er augenblicklich ein und sie wusste, dass sie ihn in exakt fünfzehn Minuten wecken musste. Aber meistens saß er im Schneidersitz vor ihr und las ihr Gedichte vor, dabei unbewusst an einer Stirnlocke drehend. Dieses ständige Haaredrehen, früher einfach nur eben sein Tick, den sie schulterzuckend wie alle aus der Clique kaum mehr wahrgenommen hatte, machte sie nun, wenn sie zu zweit waren, nervös. Auch, weil die Frequenz zunahm.

Diese kurzen Stunden bei Tag allein mit ihm waren ihr eigentlich genug. Amüsanter waren die Treffen mit der ganzen Clique, in der er seine alte Unbefangenheit ihr gegenüber hatte und es nicht diese bleierne Enge gab, die sie seit seinem ersten Kuss empfand. Ein planvoller Ernst, den sie früher alle nur für ihre Wissbegier hatten und mit dem er nun auch ihrer beider Umgang überzog, worüber in der Clique vorsichtige Witze gemacht wurden, denn eigentlich schätzte keiner von ihnen die Verschiebung ihrer Gruppenaufstellung.

Mit vorsichtigem Rückwärtsgang hätten sie vielleicht noch lange oder ewig befreundet bleiben können, er und sie und sie mit den anderen. Vielleicht wäre es ihnen beiden mühelos geglückt, wieder einfach nur beste Kumpel in der Clique zu sein, in der sie das einzige Mädchen war. So wie all die Jahre zuvor: die drei Freizeitgitarristen, mittlerweile Studenten der Physik und Mathematik, und sie, die demnächst ihr Abitur machte.

Vielleicht.

Doch dann geschah ein Unglück, dass sie ihm und den anderen nicht verzeihen konnte.

Der Kern ihrer verschworenen Viererbande war gut geschützt, um ihn kreisten ein paar Jungs, die sie von der Schule oder vom Schachclub kannten und denen manchmal Zutritt zu ihrem Privatclub gewährt wurde, der sich im Keller eines einstmals prächtigen Altbaus in der Nähe der Charité befand. In der zweiten Etage war die weitläufige Wohnung der Eltern des einen von ihnen, die beide Chefärzte in der Klinik waren und dankenswerter Weise die warme Hälfte des Jahres in ihrer Datsche mit dem großen Garten wohnten und ihnen somit gleich auch noch die Wohnung überließen.

Das Silvester in ihrem letzten Schuljahr beschloss die Clique in dieser Datscha zu verbringen, auch wenn es dort wohl lausig kalt sein würde. Aber sie wären für sich und könnten ordentlich Krach machen, wann und wie sie wollten. Verstärker wurden verladen, ein Mikrofon, das Schlagzeug, die E- und Akkustikgitarren, seltsame Lebensmittel, vor allem Unmengen an Zigaretten und Schokolade, von der sie sich alle damals beinah ausschließlich ernährten, Wodka und billiger Schwarztee. Einem der Jungs aus der Umlaufbahn wurde die Gnade einer Einladung zuteil, denn sie brauchten noch einen Mann am Keyboard, schließlich konnte sich keiner zweiteilen. Außerdem hatte der sich bisher als ein sehr angenehmer, witziger Typ erwiesen, mit Sinn für Poesie und Taktgefühl - auch im Umgang mit ihnen allen. Sie stimmte zu, dass er mitkam, auch wenn es ihr im ersten Moment nicht recht passte, plötzlich Tag und Nacht in dieser einsam gelegenen Hütte jemanden dabei zu haben, den sie nicht gut genug kannte. Aber ein Einspruch wäre zickig gewesen, schon allein, weil die Jungs sie mühsam überredet hatten, mit ihnen ein paar Tage an einen Ort zu fahren, von dem sie nicht einfach würde verschwinden können, wann sie wollte.

In der klammen Datsche gab es nicht genügend Betten, aber Platz zum Improvisieren. Großzügig, wahrscheinlich wegen des Neuzugangs, wurde vom Datschensohn und ihrem Freund wie selbstverständlich verfügt, dass sie ein Zimmerchen für sich alleine bekam, als gäbe es bei ihnen ein Mädchenextra. Wie selbstverständlich auch waren sie und ihr Freund hier im Kreis der Clique zusammen in einem Haus wieder die Kumpel von früher. Es schien eine gute Idee gewesen zu sein, mitgefahren und so ganz beiläufig vielleicht die alte Aufstellung wieder einzunehmen.

Auch ihre diffusen Vorbehalte gegen den Typen und seine Einladung in die Clique schienen sich als albern zu erweisen.

Sie waren es nicht.

Doch das sollte sich erst Wochen später zeigen.

Er war überaus charmant zu ihr, erfasste intuitiv die Wechselspiele in der Clique und vor allem war er als Pianist passabel. Hochpreisiger wurde bei ihnen nicht gelobt. Durch sein passables Spiel, sein Improvisationstalent und seine scheinbar unkomplizierte Art erspielte er sich für ihre Freunde einen festen Platz in der Clique.

Am ersten Abend wollte er sie berühren. Sie wich zurück, ihr Freund ließ ein scharfes Nein fallen, sekundiert von den Blicken der anderen, die den Typen fixierten. Eine unangenehme Stille breitete sich aus, bis der Datschensohn sich ans Schlagzeug setzte und ihm nach einer Weile die anderen an ihren Instrumenten folgten und sie ans Mikrofon riefen.

Nach ihrer Rückkehr in die Stadt zog sie sich etwas aus der Clique zurück, ging nur noch selten zu den Clubtreffen, traf ihre Freunde meistens jeweils allein. Anders, als dass sie nach den Tagen so eng miteinander nun einfach etwas allein sein musste und vor allem nicht in die Enge mit Küssen, Mami, dem aufdringlichen Bruder und den Fragen des Vaters, wann sie ihn wieder besuchen würden, zurückkehren wollte, konnte sie ihren Rückzug nicht erklären. Zu sagen, dass dieser Typ, der jetzt ständig mit der Clique rumhing, sie störte, wäre lächerlich gewesen. Es gab keinen Grund, etwas gegen ihn zu haben. Ihre Freunde hätten sie wohl für plötzlich mädchenhaft launig gehalten, wenn sie ihnen diffus mit gefühltem Quatsch käme.

Eine gute Ausrede für ihren Rückzug war das bevorstehende Abitur. Sie hatte in den letzten zwei Jahren bedenklich oft die Schule geschwänzt und musste nun viel nachholen. In dieser Nachwendezeit bekam man mit dem Schwänzen keinerlei Probleme, die Lehrer waren alle mit sich und ihrem Bangen beschäftigt, ob sie weiterhin im Schuldienst verbleiben konnten.

Ihr fehlten Mitschriften, ja selbst Bücher. In der Clique wurden gedankenvoll die Köpfe geschüttelt, als die Jungs mitbekamen, wovon sie alles keine Ahnung hatte und Strategien entwickelt, in welcher Reihenfolge und wie ihr möglichst effizient der gesamte Stoff der Oberschule auf die Schnelle in den Kopf zu hämmern war, denn trotz Wiedervereinigung hatte sie noch ein Ostabitur abzulegen, bei dem man keine Fächer abwählen konnte. Reihum kam alle paar Tage einer mit Büchern oder Handschriften vorbei, vor allem für die naturwissenschaftlichen Fächer. Die Blöße, sich der Einfachheit halber irgendetwas von einem ihrer Überfliegerfreunde erklären zu lassen, konnte sie sich unmöglich geben, auch gingen die Jungs unerklärlicherweise davon aus, dass sich auch für sie eine mathematische Fragestellung von selbst erschloss, wenn sie sich nur endlich jetzt einmal die Sache ansah. Erstaunlicherweise klappte das sogar halbwegs durch die von ihnen aufbereiteten Aufgaben.

Nächste Woche Chemie im Schnelldurchlauf, sagte der eine, als er ihr ein Biologiebuch brachte, das hier musst du nur dumm auswendig lernen.

Vor der Tür stand in der kommenden Woche aber nicht ihr Freund, dessen kleiner Bruder später mal ebenso renommiert als Chemiker sein würde wie ihr Freund als Physiker.

Der Typ stand vor ihr. Das soll ich dir vorbeibringen. Ihr Freund hätte Mami plötzlich ins Krankenhaus fahren müssen, er redete von einem Herzanfall und drängte an ihr vorbei hinein. Als er später aus der Wohnung floh, nachdem ihr Nachbar durch ihre Schreie herbeigerufen verzweifelt versucht hatte, die doppelte Berliner Altbautür des Dienstmädchenaufgangs einzutreten, lag sie zerschlagen und blutend auf dem Boden.

Der Typ, erfuhr sie später, hatte am nächsten Tag Stadt und Land verlassen. Aus Neuseeland kam Wochen später ein Brief von ihm an ihren Freund. Ich hab sie gefickt, so, wie Du sie nie gehabt hast.

Gar nichts begriff ihr Freund, niemand aus der Clique. Was tatsächlich passiert war, konnte sich keiner auch nur vorstellen. Der Brief wurde ihr unter der Tür durchgeschoben, sie ließ niemanden herein. Im schnellen Wechsel hilflos wütend laut und leise werdend, verlangte ihr Freund Einlass und Erklärung. Tag für Tag stand er vor ihrer Tür. Saß vor ihrer Tür und las dem Treppenhaus seine schwarzromantischen Gedichte vor. Im Wechsel klopften die anderen aus der Clique im Rhythmus ihrer Songs an die Tür, morgens, nachmittags, nachts - vielleicht hatten sie begriffen, dass dahinter etwas Unverzeihliches vorgegangen war.

Sie konnte den Jungs nicht verzeihen. Keinen der Verräter wollte sie jemals wiedersehen. Sie hatten diese Bestie in ihren Kreis gelassen, Mami hatte dafür gesorgt, dass ihr der Typ, lag auf meinem Weg, vorbei geschickt wurde. Sie, ihre Freunde, ihr Freund, hatten in ihrer rationalen Phantasielosigkeit tatsächlich zumindest im ersten Moment erwogen, dass sie Verrat an dem einen von ihnen begangen hätte, indem sie hinter ihrem Rücken mit dem Typen etwas angefangen, den Freund betrogen hatte.

Vielleicht wäre es ganz einfach gewesen die Tür zu öffnen, ihnen stumm die Spuren des Gewaltexzesses zu zeigen, aber mehr noch, als dass sie keine Worte hatte und keine Worte hören wollte, verabscheute sie sie alle. Keiner hatte Schuld, keinem konnte sie etwas vorwerfen, keiner erfuhr, was tatsächlich passiert war. Aber weder ihnen noch ihr selbst war die Sache zuzumuten. Scham und Schande und dieser Dreck stünden für immer zwischen ihnen.

Es gab keine Clique mehr für sie.

Es gab kein Zurück.

Fast dreißig Jahre später legte im Haus eines Freundes jemand Friday Night in San Francisco auf. Es war weit nach Mitternacht, sie waren betrunken. Freunde von mir haben wie verrückt geübt, das nachzuspielen antwortete sie, als sie gefragt wurde, ob sie die Musik möge.

Es gelang ihr ganz gut, nur an die Musik zu denken. Paco di Lucia, Al Di Meola, John McLaughlin an den spanischen Gitarren waren und blieben doch herrlich. Auch wenn sie sich eigentlich nur gegenseitig ihr Können vorführten. Ein Wettbewerb an Handwerkskunst, keine Musik. Die Wärme besorgten der Klangkörper, nicht ihr Spiel.

An etwas anderes als an die Musik zu denken wäre eine Zumutung. Eine alberne Reise in die Vergangenheit.

Diese Geschichte ist ausnahmsweise ohne Paywall. Finden Sie nicht, Autoren sollten unanständigerweise mit ihrer Arbeit Geld verdienen?

Dankeschön! (Si apre in una nuova finestra)

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