Warum wir sterblich sind
Unser Leben hat einen Anfang und ein Ende. Am Ende steht der Tod, den man sich als eher düsteren Gesellen vorstellt. Doch Gevatter Tod kann auch anders. Denn er macht ein gutes Leben überhaupt erst möglich. In der Zeit.
Die zeitliche Struktur unseres Daseins
Sophias Leben läuft rund: Persönlich geht es ihr gut, als Ärztin genießt sie ein hohes Maß an Anerkennung und sie achtet auf die moralischen Folgen ihres Handelns. So könnte es für immer weiter gehen. Doch das wird nicht der Fall sein. Denn auch ein gutes Leben ist nichts anderes als: ein Leben – einer Person, eines Lebewesens. Und das hat einen Anfang, die Geburt, und ein Ende, den Tod.
Die Spanne zwischen Anfang und Ende messen wir in Einheiten der Zeit, bei Sophia in Jahren, bei einer Stubenfliege in Tagen, vielleicht auch nur in Stunden. Ihr Leben hat eine zeitliche Struktur. Und auch die Welt, in der sie leben. Viele Phämomene weisen eine zeitliche Regelmäßigkeit auf, einen Rhythmus: Das beginnt bei der Abfolge von Tag und Nacht und reicht bis in die kleinsten Einheiten ihres Körpers hinein, den Zellen. Dort schlagen sogenannte Uhren-Gene den Takt von Schlafen und Wachen.
Aus Sophias Perspektive gibt es die Gegenwart des Erlebens: Den Schmerz, wenn sie ihr Knie an der Tischkante stößt oder das Glücksgefühl nach einer gelungenen Operation. Aus dieser Perspektive liegt die Geburt in der Vergangenheit und der Tod in der Zukunft. Von ihrer Geburt weiß Sophia nur durch Erzählungen ihrer Eltern und den Fotos, die sie als Neugeborenes zeigen. Dann gibt es erste Ereignisse, an die sie sich erinnert und die Fülle an Erinnerungen nimmt zu, je näher sie an die Gegenwart heranreichen. Von ihrem Tod weiß sie nur, dass er kommen wird, nicht wann und nicht wie. Bis er kommt, liegt noch eine Strecke Leben vor ihr, für die sie Wünsche hat und Pläne macht.
Der äußeren Taktung als auch dem inneren Erleben liegt eine zeitliche Struktur zugrunde. Der Philosoph Norman Sieroka bezeichnet Zeit deshalb als eine Art struktureller Voraussetzung, dass man überhaupt etwas erfahren, wahrnehmen kann. Ein Hinweis darauf, dass Zeit eine Grundbedingung unseres Daseins ist, gibt allein schon die Tatsache, dass wir uns etwas ohne zeitliche Struktur gar nicht vorstellen können.
Der Sinn des Todes
Mit dem Tod geht unser Leben zu Ende. Er wird meist als ein Übel betrachtet. In Bildern sieht er düster und unsympathisch aus. Die Menschen, die er zu sich geholt hat, flößen als tote Körper Schrecken ein. Und sehr reiche Menschen investieren sehr viel Geld, um ihn zu „besiegen“, sei es durch Tiefenschlaf in der Gefriertruhe oder durch Neuro-Enhancements im Sinne des Transhumanismus. Diese Sichtweise auf den Tod als dunkler Geselle ist tief verankert. Doch in all dieser Schwarzmalerei geht ein zentraler Effekt unserer Sterblichkeit verloren: Wir müssen sterblich sein, um ein gutes Leben führen zu können. Zu diesem verblüffenden Schluss kommt der Philosoph und Literaturwissenschaftler Martin Hägglund in seinem Buch This Life – Secular Faith and Spiritual Freedom.
Zum einen, so Hägglund, ist uns der Tod logisch und biologisch eingeschrieben. Als lebende Wesen existieren wir nicht einfach, so wie ein Stein, sondern müssen unsere Existenz aktiv aufrechterhalten – indem wir atmen, essen, trinken und schlafen. Hören wir damit auf, sterben wir.
Wir hören aber nicht damit auf. Wie jedes Lebewesen kämpfen wir in existenziellen Situationen um jeden Schluck Wasser und um jeden Krümel Essen. Wir wollen nicht sterben. Wir wollen am Leben bleiben. In dieser existenziellen Aktivität drückt sich ein grundlegendes Merkmal unseres Lebens aus: die Sorge um uns selbst. Und genau die gleiche Sorge hegen wir gegenüber alldem, was uns lieb und wichtig ist. Sophia beispielsweise sorgt sich als Ärztin um das Wohl ihrer Patienten. Könnte ein Hirntumor einem Patienten nichts anhaben, wäre der Patient ihr egal. Hielte die glückliche Beziehung mit ihrem Lebenspartner per Definition ewig, müsste sie sich nicht um Beziehung und Partner kümmern. Ohne die Gefahr des Verlusts, ohne die Tatsache unserer Endlichkeit, so Hägglund, wäre im Prinzip alles egal.
Most fundamentally, I must live in relation to my irrevocable death—otherwise I would believe that my time is infinite and there would be no urgency in dedicating my life to anything.
Nur vor dem Hintergrund der Sterblichkeit und vor der Gefahr des Verlusts – des eigenen Lebens und desjenigen, was uns lieb ist – ergeben unsere Aktivitäten einen Sinn. Zeit ist demnach nicht nur ein Ordnungsparameter und eine strukturelle Voraussetzung des Erlebens, sondern sie bildet die Grundlage dafür, dass unser Leben überhaupt einen Sinn haben kann – indem sie uns zu sterblichen Wesen macht. Hägglund schreibt:
Mortality is not only intrinsic to what makes life meaningful, but also makes life susceptible to lose meaning and become unbearable. The point is not to overcome this vulnerability but to recognize that it is an essential part of why our lives matter and why we care.
Anmerkungen
Da wir Menschen wie alle Lebewesen geboren und sterben werden, spricht die französische Philosophin Corine Pelluchon von einer Verbundenheit aller Lebewesen, einer Schicksalsgemeinschaft.
Was geschieht, wenn ein Mensch sich nur noch an die Ereignisse der letzten 10 Minuten erinnern kann, zeigt Christopher Nolans Film Memento.
Was geschieht, wenn man ewig lebt, zeigt Jim Jarmusch auf wunderbare Weise in seinem Vampirfilm Only Lover Left Alive: Man ist in einem ewigen Ennui gefangen.
Quellen
Hägglund, Martin – This Life: secular faith and spiritual freedom. New York: Pantheon Books, 2019
Jarmusch, Jim – Only Lovers Left Alive. Pandora Films, 2014
Nolan, Christopher – Memento. Ascot Elite Home Entertainment, 2002
Sieroka, Norman – Philosophie der Zeit. Münnchen: Verlag C.H.Beck, 2018
Wissenschaft.de – Das rätselhafte Uhren-Gen. https://www.wissenschaft.de/allgemein/das-raetselhafte-uhren-gen/ (Si apre in una nuova finestra)
Foto: Daniel Duarte / pexels