Italienische Fragmante Folge 7
Die letzten Tage brachen an. Und wie das immer ist, dominierte ein Wort das Denken. Ein keines, aber gewaltiges Wort, das die ganze Kraft der Melancholie transportierte, das einen Unwillen implizierte.
Montag. Der zweite Montag hier an diesem wunderschönen Ort, von dem wir nicht viel gesehen, seine Atmosphäre jedoch mit jedem Atemzug in uns aufgenommen hatten und die sich mit nichts anderem als „Wohlfühlen“ beschreiben ließ.
Dieses kleine Wort lag im Zubettgehen gestern, lag im Aufstehen, im Kaffeekochen, in der Morgentoilette. Es lag in jeder Handlung, in jedem Blick, in jedem Gedanken dieses Mon- dieses vorletzten Tages hier in Porto Valtravaglia. Schon … dieses Wort trübte den sonnigen Spätsommertag schon in seinem Beginn.
Schon? Wir sind doch eben erst angekommen?! Schon! Die Zeit ist manchmal grausam. Schon! Als wir die Taschen ausgepackt und uns mit einem Drink am ersten Abend draußen auf der Terrasse niederließen, ein wenig erschöpft von der langen Fahrt und voll mit den Einflüssen unseres Aufenthaltes in Freibug, da lagen zehn Tage vor uns. Zehn Tage, die gefüllt werden wollten, die zunächst lang und leer klangen. Zehn Tage, in denen wir das Wort „Urlaub“ seiner Definition zuführen, nichts tun wollten, außer auszuschlafen, zu schreiben, die Kneipen hier kennenzulernen, zu lesen, uns zu haben, uns zu genügen, ohne Fernseher, ohne viel Arbeit, ohne Stress und Hektik, ohne irgendetwas zu müssen.
Schon! Uns blieb ein Tag. Ein einziger, noch nicht mit Plänen gefüllter Tag. Ein einziger Tag nur noch, in den wir hineinleben würden, ohne uns Gedanken machen zu müssen, was wann wie erledigt sein muss. Schon! Dieses Wort, das sich immer so weich anhört, lag wie ein Kantholz, ungehobelt und schwer in meinem Kopf und zerdrückte jeden anderen Gedanken. Schon!
Die Tage vergingen wie im Flug. Eben noch waren es diese zehn langen und leeren Tage, die gefüllt werden wollten, vor uns. Und nun legte das Flugzeug seinen Dünger auf die Felder der Melancholie, die zarten Pflänzchen des Unwillens trieben rasant aus und ich wünschte mir, wir hätten weitere zehn Tage. Schon!
Was haben wir alles nicht gemacht?,- fragte ich mich. Und was könnten wir noch alles machen?! War es gut so? War es gut, sich nicht minutiös die Gegend anzusehen? War es gut, zwei Drittel unserer Zeit hier im Herrenhaus zu verbringen, mit lesen und schreiben und puzzeln und kochen und essen und trinken (vor allem trinken) und Rommee und abwaschen und Telefonaten und der Arbeit am Manuskript für mein neues Buch und schlafen und noch mehr schlafen und Rasen mähen und rauchen und noch mehr rauchen, und in der Sonne sitzen und… War es gut, dass wir nur die Pizzeria unten an der Ecke Via Ronchetto und Via Roma besuchten und in der Bar Muceno, einer Trattoria, zwei Straßen weiter zwei Bier tranken und unten, direkt am Lago Maggiore in dieser wundervoll paradiesischen Kartenkneipe zwei herrliche Sonnenuntergänge erlebten? Dieser Gartenkneipe, die weder das Wort Gartenkneipe verdiente, noch ihren eigentlichen Namen; „Kiosk“. Ein Kiosk, das war und ist in meinem Kopf irgendeine kleine Bude an einem Bahnhof oder am Rande des Zentrums irgendeinen mittelgroßen Stadt. Ein Kiosk, meist etwas heruntergekommen und umsiedelt von den Aussteigern und Zurückgebliebenen unserer Gesellschaft. Kiosk, das Wort hatte etwas schmuddeliges, etwas graues und ich fragte mich, warum die Besitzer dieses ehemaligen Wohnwagens, der als Verkaufsstand diente und an diesem herrlichen Fleckchen hier in Varese stand, umgeben von Sofas und Sitzsäcken, warum sie ihn Kiosk nannten. Wie schon an unserem zweiten Abend, als wir diesen „Kiosk“ eigentlich eher zufällig entdeckten, wollten wir unsren vorletzten Abend eben dort im Sonnenuntergang ausklingen, den Blick über den See und die Berge schweifen lassen. Vor uns das silbrige Wasser mit seinen schaukelnden Segelbooten und den Ruderern und Stehpaddlern und Motorbooten und dem Dampfer, der alle halbe Stunde die Touristen an uns vorbeischipperte. Dahinter die Alpen, die sich in einem Halbkreis um den schmalen See aufgestellt hatten, scheinbar nur, um das Bild des Paradieses zu perfektionieren.
Die Bar Mureno hingegen, weiter oben im Ort, bot zwar einen ähnlich wundervollen Blick, über die Wipfel der Bäume hinweg, über ein kleines Fleckchen des Sees und die schneebedeckten Kuppen der Berge, die sich ins teife Rot der untergangenen Sonne kleideten, war aber verwaist. Wir waren an diesem Abend die einzigen Gäste der älteren Dame, die die Siebzig mit Sicherheit schon weit überschritten hatte, sich träge und schwerfällig bewegte, gezeichnet von einem immensen Buckel, der von ihrem mit schwerer Arbeit erfüllten Leben erzählte, mit ihren schwieligen Händen und den langen, filigranen Faltenfingern. Wir waren sichtlich unsicher, als wir die Terrasse mit den fünf Sitzgruppen betraten und es dauerte auch eine Weile, bis die Dame zu uns heraustrat, auf einen der Tische zeigte und irgendetwas auf italienisch sagte, das so viel heißen musste wie: „Nehmen sie Platz. Was darf ich ihnen bringen?“ Mit englisch kommen wir hier nicht weit, dachte ich, und tatsächlich verstand die Alte nicht, was wir wollten. „Una birra e uno spritz per favore.“ sagte ich leise und verlegen, nicht wissend, ob das nun richtig gesagt war oder nicht. Ihr Lächeln aber bestätigte die Korrektheit des Satzes. Dennoch schien es, als sei es ihr nicht recht, dass wir als späte Gäste noch ihre Dienste in Anspruch nahmen, denn weder brachte sie uns mit dem Bier und dem Aperol Spritz eine Speisekarte, noch einen Aschenbecher, obschon sie sah, dass ich rauchte. Auch kam sie nicht noch einmal heraus, um nachzusehen, ob wir vielleicht noch etwas anderes haben wollten und so nahm ich mein nach zehn Minuten schon leeres Glas, ging nach drinnen, in den großen Gastraum, der von der Einrichtung her auch der eines süddeutschen Lokals hätte sein können, um mir ein zweites Bier zu bestellen. Am hinteren Ende des Raumes saß ein Mann, der vom Alter her wohl der Sohn der Chefin war und aß ohne Notiz von mir zu nehmen. Die Frau, neben ihm am Tisch, starrte stoisch aus dem Fenster und reagierte eben so wenig. „Mi scusi … una seconda birra?“ fragte ich, womit sich die Frau schwerfällig von ihrem Stuhl erhob, zur Bar direkt neben dem Eingang schlurfte, wie in Zeitlupe eine Flasche Becks aus dem Kühlfach unter dem Zapfhahn angelte, sie öffnete, als müsse sie mit der Kraft der Hebelwirkung des viel zu kleinen Flaschenöffners einen vier Tonnen Widerstand überwinden und den Inhalt der Flasche direkt in mein schon benutztes Glas laufen ließ. „Grazie.“ sagte ich lächelnd und auch sie versuchte, sich einen freundlichen Blick abzuringen, was ihr jedoch nicht wirklich gelang. Alles in diesem Gastraum schien zu schreien: „Jetzt trinkt der auch noch ein zweites Bier. Ist das dein scheiß ernst? Siehst du nicht, dass wir Feierabend machen wollen?“
Als ich eine viertel Stunde später erneut an der Bar stand, um zu bezahlen, war es wohl die Erleichterung des „Endlich“, die nun doch noch ein Lächeln auf das von tiefen Falten durchzogenen Gesicht der Frau zauberte. „Sono dieci euro, per favore.“ sagte sie, und hielt die zehn langen, spitzen, rissigen und faltigen Finger in die Luft, mit den Preis zu signalisieren.
Wieder war ich unsicher. Ich hatte ein paar Tage zuvor gelesen, dass es in Italien nicht üblich war, Trinkgeld zu geben. Deswegen bedankte sich der coole Mittvierziger, der so etwas wie ein Klischee-Italiener war, wenn es sowas gab, so überschwänglich, als ich bei unserem ersten Besuch am „Kiosk“ zwei Euro mehr auf den Tresen legte. Sollte ich also dennoch Trinkgeld geben? Ein kleines Dankeschön, dass wir trotz Wiederwilligkeit noch bedient wurden? Scheiß drauf, dachte ich und schob der Alten ein Zwei-Euro-Stück über die Theke, was sie mit einem ebenso überraschten wie einfachen „Oh .. grazie.“ honorierte.
Zurück im Herrenhaus stießen wir dann noch mit ein paar Drinks auf C.s Geburtstag an und war, als zögen wir beide, unabgesprochen, den Abend in die Länge. Schon … Das Auskosten der letzten Stunden. Das Hiersein genießen und versuchen, den Gedanken an das Schon zu verdrängen. Schon der Vorletzte Abend. Schon fast vorbei. Schon am Ende angelangt. Schon bald würde uns der Alltag wiederhaben. …
Schon … was für ein komisches Wort, mächtig und trübe zugleich und mit der Kraft, den Menschen herunterzuziehen, darauf zu besinnen, dass die Dinge endlich sind. Schon .. ein Wort wie eine flache Hand, die blitzschnell auf die Wange schlägt, überraschend aus dem Nichts den Schmerz zu bringen. Schon … Das Siegel der Begrenztheit …
„Wollen wir nicht einfach hier bleiben und von hier aus arbeiten?“ hatte C. heute morgen gefragt. Auch ihr lag das Schon schwer im Kopf. „Nur zu gern.“ hatte ich gesagt und das Schon verflucht, wie ich das Rasen der Zeit verfluchte.
Schon … ein paar Stunden noch … Morgen um diese Zeit sind wir schon auf der Autobahn, mit einem weiteren Zwischenstopp in Freiburg, schon bald zurück im täglichen Muss, in gewohnten Umgebungen, die träge vor uns lagen und mich schon jetzt langweilten … Schon …
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