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Leipziger Fragmente IV

Wenn du hilfsbereit und freundlich bist / wenn du gute Entscheidungen triffst / dann ist das Leben dir hold / das ist mehr wert als Gold! / Doch manchmal ist das was passiert / wie wenn das Schicksal dir doch eine schmiert: 

Grau lag der Vormittag über Leipzig Leutzsch. Ich saß auf auf meiner Couch und starrte aus dem Fenster, hinüber auf diesen gelben Mehrfamilienblock, mit dem roten Spitzdach, der wohl in den Dreißigern erbaut wurde und beobachtete das Spiel der beiden Kräne dahinter, die seit drei Tagen schwere Lasten hoben und wieder senkten und sich dabei drehten als seis ein Tanz der Giganten. Ich hatte keinen Schimmer, was da gebaut wurde, aber es musste etwas Größeres sein. Darüber lag der Himmel, in einem einheitlichen Grauton, als habe er keine Lust, von der Lebendigkeit der Natur zu berichten.

Es war still. Nur das regelmäßge Rattern des Kühlschranks, wenn das Aggregat sich einschaltete, unterbrach das Rauschen der Stille. Während ich an meinem ersten Kaffee seit vier Tagen nippte, meine erste Zigarette seit vier Tagen rauchte und mich überhaupt seit vier Tagen zum ersten mal wieder halbwegs lebendig fühlte, blickte ich auf die Skyline aus Büchern auf dem Tisch vor mir. Abgelegte Werke der letzten Touren. Eigene Bücher, Bücher von Freund und Kollegen Michael Schweßinger, Bücher, in denen es ums Trinken geht, Social-Beat Prosa und Lyrik. Das war der Plan für diesen Tag: Die Sachen wieder ins Regal einzusortieren. Mehr nicht. Es ruhig angehen zu lassen, schien wichtig, denn noch immer zeichnete dieses C mit einem kratzigen Rotstift Narben auf meine Haut und ich saß nur da und beobachtete den Tanz der Kräne vor dem Fenster, statt selbst Hand anzulegen, die literarischen Türme vom Tisch ins benachbarte Regal zu befördern.

In den letzten kanpp drei Jahren war ich drumherum gekommen, hatte sogar den fragenden Eindruck einer der wenigen Menschen zu sein, die immun sind gegen das Virus, denn ich war viel unterwegs und hatte mich nicht einmal infiziert. Dann, am vergangenen Sonntag kam es über mich. Ich wusste erst nicht, was los war. Ich saß auf dem Boden im LOFT, dem Theaterraum, in dem das Stück "Wir kriegen euch alle" (siehe Link am Ende des Textes) aufgeführt wurde, an dem ich irgendwie beteiligt werden sollte, dann irgendwie doch nicht, mein Name aber dennoch auf der Webseite zu lesen war, und am Ende ich derjenige war, in dessen Wohnung einer der Produzentinnen, Regisseurinnen und Autorin des Stücks fast einen Monat nächtigte, während ich bei meiner Freundin schlief oder eben auf Tour war. 

Ich saß also auf dem Boden, als mich eine Welle der Übelkeit überkam, ich schon überlegte, wie ich am besten hier raus kommen würde, ohne andere Menschen vollzukotzen während ich versuchte, den plötzlichen, stechenden Kopfschmerz zu ignorieren und mich auf meinen Herzschlag zu konzentrieren, weil auch der Kreislauf keine Lust mehr hatte, stabil zu bleiben. Wellenförmig durchschossen mich eine Art elektrische Impulse, als sei ich an einen Weidezaun angeschlossen, die Hände zitterten, die Augen begannen, höllisch zu brennen und wollten nicht mehr offen bleiben. Zunächst dachte ich, das sei nun der Moment, in dem der Körper sich das holt, was er in den vergangenen Wochen kaum hatte: Ruhe! 

Ich betete, dass die Vorführung endlich zu Ende ginge, denn ich wollte nicht vorzeitig den Raum verlassen. Nicht nur, weil ich das Stück großartig fand, sondern auch, weil es die letzte Vorstellung war und ich außerdem einige Menschen des Teams und des Ensembles kannte. 

Ich überstand den Abend im LOFT und als wir bei meiner Freundin ankamen, fiel ich frierend wie ein Schneider und schwach ein Gebeutelter ins Bett. 

Dieser Zustand änderte sich auch am nächsten Tag nicht und als am dritten Tag dann noch Fieber und Husten hinzukamen, machte ich einen Test, der bestätigte, was wir beide, meine Freundin und ich, vermuteten. Nun hatte es mich also doch erwischt. Natürlich konnte ich nicht in ihrer Wohnung bleiben. Sie war negativ und hatte keine Symptome. Ich zog mich also an und fuhr zu mir. 

Meine Untermieterin, eine ältere, freundliche, hilfsbereite Dame klingelte und wollte sich nach dem Befinden erkundigen, weil ich ja nun lange nicht zu Hause war und als ich ihr sagte, dass ich Covid habe, bot sie nicht nur an, für mich einkaufen zu gehen, sondern schrieb ein paar Stunden später, dass sie mir gleich Hühnerfrikasse mit Reis vor die Tür stellen würde. Coole Tante, dachte ich, doch zwanzig Minuten später gab ein höllisches Geklirre und Gepolter im Treppenhaus und ich ahnte richtig: Der Reis und das Frikasse zwischen Scherben, verteilt auf zwei Etagen, von meiner Wohnugstür, vorbei an der der Nachbarin bis hinunter auf den Zwischenabsatz, wo auch die Nachbarin lag und gerade verscuchte, unter Stöhnen und Ächzen wieder auf die Beine zu kommen. 

"Ach du Scheiße, Erika, ... bist du hier runtergefallen?" fragte ich erschrocken und hilflos wie in kleiner Junge. Was für eine dämliche Frage, dachte ich. Dass das hier keine Stuntprobe war, lag ja wohl auf der Hand. "Scheiße, was machen wir denn jetzt?" fragte ich "Ich kann ja nicht zu dir runter kommen!" 

"Geht schon!" sagte Erika aber das klang eher nach: "Lass mich in Ruhe!" während sie sich auf die Knie und von da aus auf die Füße brachte. Eine weitere bescheuerte Frage schoss mir aus dem Mund, noch bevor ich sie mir verbieten konnte: "Hast du dir weh getan?"  "Wie kommstn auf DAS schmale Brett?" antwortete eine Stimme in mir "Die fliegt hier zwei Etagen die Treppen runter und du Trottel fragst, ob sie sich wehgetan hat? Bistn schöner Idiot!" 

Was sollte ich tun? Ich stand da, in meiner Türe, beobachtete, wie Erika versuchte, sich die Treppen nach oben zu ziehen und das einzige was mir einfiel war: "Du, ich ruf dir mal n Arzt, oder ... oder soll ich eine deiner Töchter anrufen?"  Erikas Töchter wohnten nicht weit von hier, eine sogar in der gleichen Straße und sie wären  Handumdrehen hier gewesen. "Um Gottes Willen!" sagte Erika "Bloß nicht! Ich bring dir gleich einen neuen Teller hoch." 

"Erika, lass mal, setz dich erstmal hin. Wann kommt denn dein Lebensgefährte?" 

"Der müsste jeden Moment da sein." ächzte sie und verschwand in ihrer Wohnung, um mir fünf Minuten später tatsächlich ein Tablett mit einem Teller Reis, Hühnerfrikassee und einer Schale Gemüse vor die Tür zu stellen. Ich bedankte mich überschwänglich und fragte, wie das passiert sei. "Also nicht der Reis, sondern der Sturz." versuchte ich, zu scherzen, doch ihr war kein Lächeln zu entlocken. Das war meine infantile Art mit unangenehmen Situationen umzugehen. Ich fühlte mich schuldig, denn wenn ich nicht gewesen wäre oder ich gesagt hätte, dass ich keinen Reis esse, oder aus anderen Gründen abgelehnt hätte, wäre Erika jetzt noch bei bester Gesundheit. 

Da sei ein Nerv eingeklemmt, erzählte sie, der hin und wieder dafür sorge, dass das rechte Bein einknickt. Zwei Sätze später allerdings sagte sie, sie sei mit dem Hausschuh an der Treppe hängen geblieben und wenn wir weiter gesprochen hätten, hätte sie sicherlich weitere Ausreden gefunden, denn Erika konnte, so sehr sie sich auch anstrengte deutlich zu reden, nicht verbergen, dass sie ihre Aussprache nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das war mir in letzter Zeit öfter aufgefallen. 

Als ich zwei Jahre zuvor hier einzog, kamen wir recht schnell ins Gespräch, tranken seither in unregelmäßigen Abständen einen Kaffee bei ihr oder saßen Abends im kleinen Garten hinterm Haus zusammen. Irgendwann bat ich ihr ein Bier an, was sie ablehnte und mir erzählte, dass sie erst vor einem Jahr in der Suchtklinik gewesen und nun "trocken" sei. Ich bewunderte das. Doch Sucht ist halt ein Arschloch. Eine verdammte Krankheit, die du nie loswirst. Du kannst sie im Griff haben, wenn du diszipliniert genug bist, wenn du bei dir bist, wenn nichts dich aus dir und dem Leben reißt. 

Ich kenne den Grund nicht für ihren scheinbaren Rückfall. Und ich wollte sie auch nicht bloßstellen, also akzeptierte ich ihre Ausrede. "Ich gehe dann mal aufräumen." sagte sie und wandt sich humpelnd, die Hände fast krampfartig das Geländer festhaltend, nach unten. "Lass mal Erika! Geh du mal rein, ich setz mir ne Maske auf und mach das Treppenhaus sauber!" sagte ich. "Nee nee nee, du gehst mal schön rein und isst dein Hühnefrikassee, bevor es kalt wird. Wäre schade drum. Ich sammele hier mal alles auf, das geht schon." 

"Bist du dir sicher?" fragte ich und fühlte mich erneut hilflos. Aber Erika war resolut. Sie ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen, egal was kommen würde.  Also verzog ich mich nach drinnen, begann zu essen und stellte fest, dass der Reis versalzen und das Frikassee mehr aus Pfeffer als aus Huhn bestand. Das Wort "ungenießbar" wäre an dieser Stelle mehr als untertrieben. 

Auch das noch. Die stellt sich hin und kocht extra mehr, damit ich auch was warmes zu Essen bekomme, fliegt dann zwei Etagen die Treppen runter, als sie mir die Mahlzeit bringen will, und nun schmeckts dem Herren nicht - dachte ich. Also aß ich. Ich aß, tapfer wie das Scheiderlein ... 

... ich aß in kleinen Häppchen, schob mir zwischen jedem Bissen eine Scheibe Gurke in den Mund, um zu neutralisieren. Ich aß und aß aber der Teller wurde nicht leerer. Und als ich mich gerade dazu entschlossen hatte, aufzuhren, das Ganze in den Müll zu geben, hörte ich dieses jämmerliche, schwerzerfüllte Stöhnen und diese sich wiederholenden, gellenden Aufschreie aus dem Treppenhaus. Leise öffnete ich meine Wohnungstür und sah, wie Erikas Lebensgefährte gerade versuchte, seine Freundin die Treppen nach oben zu begleiten. Sie kniete auf den der ersten Stufe des unteren Absatzes, stützte sich mit den Armen auf der dritten ab und versuchte, nach oben zu kriechen, währen er ihre Hüften umfasste, um ihr zu helfen. Jede Bewegung war mit einem dieser gellenden Schreie verbunden. 

Mich überkam eine Mischung aus Mitleid, Schuldgefühl und Hilfslosigkeit. Und so schloss ich leise und heimlich wie der größte Feigling der Welt meine Tür, setzte mich auf meine Chouch, nahm den Teller auf meinen Schoß und mit jedem Schrei, der aus dem Treppenhaus zu hören war, schob ich mir eine extra große Portion des ekelhaften Essens in den Mund bis ich fast kotzen musste. 

Einen Tag später schrieb ich Erika, wie es ihr ginge.  "Fraktur des 5. Lendenwirbelkörpers. Grenzwertiger Befund, haben mich gleich da behalten, soll wohl noch zum MRT und dann bekomme den OP-Termin mitgeteilt,  Schmerzen halten sich in Grenzen, da ich gedopt bin" antwortete sie ... 

... und das alles, wegen eines Essens, das ich nicht essen konnte. 

Das war nun  zwei Tage her. Die Reste des Frikassees gammelten inzwischen versteckt in einer entsprechenden Tüte in der Biomülltonne. Das Fieber hatte ein bisschen nachgelassen. Ich rauchte schon wieder regelmäßig, wenn auch bei weitem nicht so viel, wie sonst. 

Mein Blick fiel erneut auf die Skyline aus Büchern auf dem Tisch vor mir, wanderte zu dem beiden Kränen, die stille standen wie zwei Denkmäler, aufgstellt, um das Ritual der Mittagsruhe zu preisen und ich 

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