Passa al contenuto principale

Die hundertjährige Schere

Die schwere, massive  Schere des kurdischen Schneiders Keser Mutlu

Es fällt mir momentan schwer, meinen Newsletter in der nötigen Regelmässigkeit zu pflegen und damit aufrecht zu erhalten. Weitere Kommentare zum Geschehen in den USA scheinen obsolet. Was soll ein halbgares Dichterlein wie ich dazu schon sagen oder gar schreiben? Es ist einfach alles noch viel schlimmer, als befürchtet und angekündigt. Gleichzeitig würden die Afdaninnen und Afdanen gleichauf mit der CDU liegen, wären jetzt in Deutschland Wahlen. Mehr als den üblichen Pessimismus kann ich beim besten Willen nicht beitragen und ich kann sehr, sehr gut verstehen, wenn man keine Lust darauf hat, sich noch ein Lament reinzuziehen.

Im Grunde habe ich in meiner Novelle RISIKOAPPETIT meinen Senf bereits dazu gegeben und das wenigstens in einigermassen unterhaltsamer Form. Der Spitzentazler Andreas Rüttenauer (Si apre in una nuova finestra)hat sich dazu auf Instagram geäussert. Dass ich das erwähne und verlinke, zeigt, in welchen Dilemmata wir uns alle bereits befinden. Dieselben Plattformen, die Hetze, Lügen und Gewalt verspritzen, sorgen auch für die Reichweite so mikroskopischen Schaffens wie meinem. Grundsätzlich aber scheinen gerade 80 Jahre der mehr oder weniger gelungenen Versuche, mehr schlecht als recht Grundzüge einer Art Zivilisation aufzubauen, im Getöse der Digitalisierung in Rauch aufzugehen.

Kürzlich ist mir jedoch ein ganz und gar analoges Werkzeug begegnet: Beim Kurdischen Schneider Keser Mutlu, am Rosa Luxemburg Platz. Wann immer ich einen neuen Hosenboden brauche oder die neuen Beinkleider umgeschlagen werden müssen, gehe ich zu ihm. Auch haben meine Jacken mit den Jahren kontinuierlich Kesers vergoldete Henkelkettchen verabreicht bekommen, womit sie nun langmütig und schonend an meiner Garderobe hängen.

Der Schneider entfernt einen letzten Faden an der reparierten Stelle meiner Hose.

In den 70er Jahren mit seinen Eltern aus der Türkei, nach Westberlin gekommen, kehrte er als junger Mann in die Türkei zurück und war dort politisch aktiv. Erst Ende der 80er Jahre kehrte er nach Berlin zurück, wo er Anfang der 90er diesen Laden übernahm.

Der Meister mit seinem altehrwürdigen Werkzeug

Die Auflösung der PKK ist für ihn ein Theater der Türkischen Regierung, die diese militante Organisation in den 70er sogar gegründet, mindestens aber unterwandert haben soll, um gemässigte linke kurdische Gruppen zu spalten und besser bekämpfen zu können.

Unmittelbar nach dem Mauerfall pachtete Keser diesen seit den 20er Jahren bestehenden Laden und fand hier zwei alte Moulage-Puppen, ein Smoking Oberteil und — heimliches Zentrum aller Aktivitäten in dieser Werkstatt — die hundertjährige Schere, mit der alle Arbeiten anfangen und enden.

Die Vorstellung fasziniert, es hier mit einem Werkzeug zu tun zu haben, mit dem noch Stoffhosen von den Schwingjungs der Ballhäuser zugeschnitten oder der Flapper-Stil junger Frauen angepasst wurden. Diese Schere ist Zeugin des Aufstiegs des Faschismus und hat sogar seine Verwüstungen überstanden. In DDR Zeiten durchschnitt sie ebenso Dederon-Polyester, wie heute die Flicken für meinen durchgescheuerten Hosenboden. Sie ist ein Symbol der Beständigkeit. Die bereits unzählige Male geschliffenen Schneiden sind noch immer scharf und sie werden mühelos noch einmal hundert Jahre ihre Dienste tun. Die blonde Karotte und die verkommenen Gebrauchtwagenhändler der AfD sind dann schon längst nicht einmal mehr Staub, wie natürlich auch ich. Warum sich also grämen? Wenn die Menschen den Faschismus tatsächlich ein zweites Mal an die Macht bringen, haben sie es womöglich nicht anders verdient. Dieses Mal wird er jedoch nicht mehr besiegt werden können. Die Instrumente der Überwachung und der Verbreitung von Lügen sind zu umfassend und perfekt. Sie werden den Planeten in eine durchtechnisierte und -monetarisierte Hölle verwandeln in der nur noch Reiche kleine Inseln der Freiheit bewohnen werden. Aber irgendwie ist mir das mittlerweile einfach egal, schon nur aus Gründen der Psychohygiene.

À propos Beständigkeit: jeden ersten Donnerstag im Monat kann im Artenschutztheater (Si apre in una nuova finestra) unter den S-Bahnbögen auf der Höhe des Tiergartens zum offenen Mikrophon aufgespielt werden. Es ist die allererste Einrichtung dieser Art, eröffnet in den 60er Jahren. Ich spielte mit Uwe zwei Songs und war Teil von zahlreichen, sehr unterschiedlichen Darbietungen, die von einem wunderbaren Publikum mit der durchgängig gleichen Frenesie gewürdigt wurden. Ein toller Abend, der einen gar nicht so winzigen Raum von Utopie mit wahrhafter Diversität und Herzlichkeit öffnete. Gehts hin, schaut Euch das an. Als Opener kommt immer ein angemeldeter Act, der sechs Stücke spielt, dann kommen kurz vorher angemeldete Acts, die zwei Songs oder Stücke bringen. Wir werden wohl Beginn des nächsten Jahres als Opener da auftreten.

Hier noch das Demo eines ganz neuen Songs. Auf Schweizerdeutsch. Das Hett Natürlich Niemmert Gsee Cho. Ganz so egal ist mir die Lage offenbar doch nicht:

Unser Auftritt im Artenschutztheater. Ich spiele akustische Gitarre, Uwe die elektrischen Verzierungen.