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Folge 2: Belpaese – von der Schattenseite des Pizza-und-Pasta-Kults

"Meine Großeltern hätten niemals eine Pizza gegessen." 

Mit diesem Satz beginnt der italienische Journalist Aldo Cazzullo sein 2011 erschienenes Buch "L'Italia de' noantri" (Si apre in una nuova finestra).  

Cazzullo ist im Jahr 1966 geboren. Das Städtchen Alba, aus dem seine Großeltern kamen, liegt in der Region Piemont, im Nordwesten Italiens. Alba ist in Italien bekannt für die dort gesammelten, unfassbar teuren weißen Trüffel (Si apre in una nuova finestra) und für den Widerstand der örtlichen Partisanen (Si apre in una nuova finestra) gegen deutsche Nazis und mit ihnen verbündete italienische Faschisten im Zweiten Weltkrieg. 

Eigentlich, schreibt Cazzullo, hätte es an Omas und Opas Lebensabend schon eine Pizzeria gegeben in Alba, sogar in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung. 

Aber Cazzullos nonni, echte albesi, hätten ihm zufolge eine so  "fremdländische, südliche und somit etwas exotische Speise" wie Pizza einfach niemals gegessen. Und draußen auf der Straße oder auf der Piazza tafeln, wie es die aus Süditalien stammenden Wirte dieses neuartigen Lokals anboten, das wäre diesen diskreten, zurückhaltenden Piemontesern erst recht nicht eingefallen. 

Cazzullo ergänzt, seine Großeltern hätten stattdessen im Winter immer mit großem Hunger auf den Samstagabend gewartet, als es die traditionelle Leibspeise nach Familienrezept gab: 

Lasagne mit Kalbsblut.
Ein Gericht aus der alten Bauernküche des Piemont.

Ein Gericht, so schreibt Cazzullo, das heute "fast alle erschaudern ließe, in Norditalien wie in Süditalien".

Heute weist Google Maps in Alba 20 Pizzerien aus. Bei 31.000 Einwohnern (und vielen Touristen, die die Stadt besuchen).

In wenigen Jahrzehnten ist das fremde Gericht Pizza im nordwestitalienischen Alba heimisch geworden. Weil es heute als typisch italienisch gilt. 

Worum es in der zweiten Episode des Podcasts geht

Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es außerhalb der Stadt Neapel praktisch nirgends Pizzerien gegeben. Heute gelten Pizza und Pasta als Teil der nationalen Identität ganz Italiens, von den größeren Städten Südtirols bis Lampedusa. 

Pizza und Pasta sind der populärste Teil des Bilds vom belpaese, vom schönen Land Italien. Um dieses Bildgeht es in der zweiten Episode meines Podcasts Kurz gesagt: Italien.

Ich erzähle darin davon, wie der Mythos des belpaese, diese Mutter aller Italien-Klischees, eigentlich in die Welt gekommen ist. 

In der Folge geht es darum, wie sich die Meinung der Menschen im deutschsprachigen Raum zu  italienischer Küche innerhalb weniger Jahrzehnte dramatisch verbessert hat. Ich spreche mit dem Politologen und Italien-Klischee-Experten (Si apre in una nuova finestra) Nils Sartorius darüber, welche Narben das in deutschen Medien regelmäßig wiederholte Klischee vom Dolce-Far-Niente-Land Italien dort hinterlassen hat. Und darüber, wie sich diese Narben heilen ließen.

https://kurzgesagt-italien.podigee.io/2-neue-episode (Si apre in una nuova finestra)

Was in der Podcast-Folge hoffentlich deutlich wird: Die Klischees und Images, die über ein Land im Umlauf sind, sind nichts Feststehendes, immer schon Dagewesenes. Sie verändern sich, durch Marketing-Kampagnen, durch neue Gewohnheiten, durch Tourismus und Migration.

Das gilt auch mit Blick auf die gastronomischen Sitten – auf das, was als "typisch" gilt, als "Nationalgericht". 

Warum ich ein zwiespältiges Verhältnis zum Kult um italienische Küche habe

Bei der Pasta ist es ja zum Beispiel heute so: Ein erheblicher Teil der Italienerinnen und Italiener lässt sich von wenig derart reizen wie davon, dass ihnen irgendein Engländer, eine Deutsche oder — Gott bewahre – ein Franzose (!) die heiligen nationalen Spezialitäten versaut. 

Es sind auf Youtube, Tiktok, Instagram vermutlich Tausende Videos mit diesem Motiv zu sehen: dieser Clip des Youtube-Kanals Casa Surace etwa, der in wenigen Worten und mit englischen Untertiteln zeigt, wie man bitteschön Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen hat – und wie man herrschaftnochmal den Frevel vermeidet, den diese dusseligen Ausländer mit unserer anbetungswürdigen italienischen Pasta treiben.

https://www.youtube.com/watch?v=bEGbrroJM0E&t=16s (Si apre in una nuova finestra)

Oder dieses Video der (großartigen) neapolitanischen Youtuber von The Jackal, in dem zwei Männer mehrere italienische Spitzenköche dahinraffen, indem sie eine Pasta alla Carbonara unter anderem mit Bauchspeck statt mit Guanciale kochen – und ihr (diese Barbaren!!!) Sahne hinzufügen.

https://www.youtube.com/watch?v=OJMpKCKH1hM&t=35s (Si apre in una nuova finestra)

Oder dieses, in dem ein US-Amerikaner seine Freundin in New York (natürlich vergeblich) davon zu überzeugen versucht, dass Pizza mit Ananas doch etwas Feines sein kann.

https://www.youtube.com/watch?v=AM3NVAbQnCo&t=359s (Si apre in una nuova finestra)

Ich habe zu solchen Videos ein widersprüchliches Verhältnis. 

Zum einen finde ich es tatsächlich widerwärtig, auf eine Pizza Ananasscheiben zu legen. Ich werde nie verstehen, wie Menschen Mirácoli für eine gute Idee halten können – wenn sie zum praktisch gleichen Preis und Zeitaufwand mit Spaghetti, geschälten Tomaten, ein bisschen Olivenöl und einer Knoblauchzehe Spaghetti al Pomodoro hinbekämen, die tatsächlich nach Tomate schmecken. Und ja, Pasta alla Carbonara mit den einfach-cremigmachenden Zutaten Guanciale, Ei, Salz, Pfeffer und Nudelkochwasser (Si apre in una nuova finestra) halte ich für ein fantastisches Gericht – und wer meint, es in Sahne ertränken zu müssen, hat erstens vermutlich minderwertige Zutaten verwendet und gehört  zweitens alsbald vor den Internationalen Strafgerichtshof, porca miseria 🤬

Ich fühle den Schmerz also.
Trotzdem bereitet mir der Pizza-und-Pasta-Kult Bauchweh.

Vermutlich liegt das daran, dass die wohl unangenehmsten Erinnerungen von den Klassenfahrten während meiner Schulzeit in Italien aus den Momenten bestehen, in denen italienische Mitschülerinnen und Mitschüler der Küche anderer Länder mit Verachtung begegnet sind. 

2004 in Wien, Prag und Salzburg war das so,  als mein Klassenkamerad Luca und ich die einzigen waren, die Bratwurst mit Bratkartoffeln, Geschnetzeltes (in Österreich) oder Česnečká (Si apre in una nuova finestra) und Gulasch (in Tschechien) aßen. Die meisten anderen ließen die vollen Teller zurückgehen, ohne auch nur eine Gabel- oder Löffelspitze probiert zu haben.

2005 in Athen bildeten Luca und ich mit einer Handvoll Mitreisender in einem hervorragenden Lokal am Fuß der Akropolis den einzigen Sechsertisch, der Souvlaki und Suzukakia bestellte, während fast alle unserer Mitschülerinnen und Mitschüler sich Pizza und Pasta bringen ließen – um sich dann laut darüber zu beschweren, dass das ja wohl gar kein Vergleich sei mit dem Essen daheim in Süditalien.

Was gastrosovranismo ist – und was er anrichtet

Am Ende hat Alberto Grandi die richtigen Worte für mein Unwohlsein gefunden. 

Grandi ist Wirtschaftshistoriker und hat sich auf die Geschichte von Lebensmitteln spezialisiert (Si apre in una nuova finestra). Er hat mehrere Bücher (Si apre in una nuova finestra) über italienische Küche geschrieben – oder, wie er es wohl ausdrücken würde: über das, was heute für italienische Küche gehalten wird. 

In einem im Herbst 2021 erschienenen Interview mit dem Nachrichtenportal "Il Post" (Si apre in una nuova finestra) sagt Grandi zum Bohei, den viele Italienerinnen und Italiener heute um angeblich ursprüngliche, unverfälschte Rezepte betreiben: Das sei 

"die Wahnidee eines Landes, das eine Mordsangst vor der Zukunft hat und deshalb glaubt, es könne sich hinter einer Tradition verstecken, die es gar nicht gibt". 

(im Original: (...) il delirio di un Paese terrorizzato dal futuro che crede di mettersi al riparo dietro una tradizione che non esiste.)

Grandi sieht in der Fixierung vieler Italienerinnen und Italiener auf die "traditionelle" Küche also sogar ein Symptom eines Problems der italienischen Gesellschaft, das weit über die Kochtöpfe hinausgeht:  einer  Zukunftsangst, die im eher konservativen Italien weiter verbreitet sei als in anderen Ländern. Das ist eine Diagnose, die übrigens 2019 auch die Wirtschaftszeitung Economist in einem Text formulierte, der das wirtschaftlich schwächelnde Italien mit dem aufstrebenden Spanien verglich (Si apre in una nuova finestra).  

Aber wie war das bitte nochmal, Professor Grandi? 

Die italienische Küche soll eine Tradition sein, die nicht existiert? 

Grandi ist Professor an der Universität in Parma, einer der Hauptstädte der italienischen Esskultur. Der Parmigiano  alias Parmesan trägt Parma im Namen, der Parmaschinken ebenfalls. Aus der Emilia, der Region, in der die Stadt liegt, kommt ein erheblicher Teil der italienischen Spezialitäten, die heute Feinkostläden und Supermarktregale von Augsburg bis Alaska füllen: Tortellini, Lambrusco, Balsamico-Essig, Mortadella – und das ragù alla bolognese, das Hobbyköche weltweit zur Bolognese-Soße umgedeutet haben. 

Gegen die Rants von Italienerinnen und Italiener über angeblich ignorante Ausländerinnen und Ausländern, die ihnen ihre Küche verhunzen, hat Grandi trotzdem viel einzuwenden. 

Nämlich historische Fakten wie diese:

  • Die italienische Küche von heute sei viel stärker beeinflusst von der französischen Küche der Barockzeit als von italienischen Köchen aus derselben Epoche (die herzlich gepflegte Abneigung zwischen Italienern und Franzosen ist eigentlich einen eigenen Newsletter wert).

  • Noch im 19. Jahrhundert habe der italienische Meisterkoch Pellegrino Artusi geraten, das erst 1861 zur Nation gewordene Italien solle sich in der Küche ein Beispiel nehmen an Frankreich und Deutschland.  Grandi schiebt im Interview auch gleich nach, dass Italienerinnen und Italiener heute eine solche Empfehlung "als Gotteslästerung empfinden würden".

  • Pasta, wie wir sie heute kennen, habe es zwar in Sizilien und um Neapel herum schon im 17. Jahrhundert gegeben – sie habe sich aber erst nach dem Ersten Weltkrieg im Rest Italiens ausgebreitet

Grandi zerschreddert im Gespräch auch ein paar Mythen zu  gastronomischen Heiligtümern Italiens:

  • Der Parmigiano Reggiano habe seine körnige, trockene Konsistenz erst seit wenigen Jahrzehnten  – bis in die 1960er Jahre hatte er eine schwarze Rinde, er sei weich und viel fettiger gewesen als heute.

  • Ach, und die Carbonara: Die hätten nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien stationierte US-amerikanische Besatzungssoldaten aus Speck und Eiern herbeiimprovisiert. Von wegen jahrhundertealte Tradition und heiliges Rezept, das niemand mehr anrühren darf.

Parmigiano-Reggiano-Werbung aus den 1920er Jahren, als der Käse noch eine schwarze Kruste hatte und wohl eine völlig andere Konsistenz

Das Interview mit Grandi führte für "Il Post" der freie Journalist Antonio Pascale. Er beschreibt in einer Frage den Hang vieler Italienerinnen und Italiener, die eigene nationale Küche als unberührbares Heiligtum zu verehren, mit dem schönen Wort gastrosovranismo.

Das ist eine Sprachschöpfung aus Gastro (für gastronomisch) und sovranismo. Sovranismo steht im heutigen Politik-Italienisch für den aggressiven Nationalismus von Politikerinnen und Politikern wie der französischen Rechtsradikalen Marine Le Pen und ihrer italienischen Schwester im Geist Giorgia Meloni, der Chefin der rechtsnationalen (und zu einem erheblichen Teil neofaschistischen) Partei Fratelli d'Italia.

Grandi greift den Ausdruck dann selbst auf und beschreibt gastrosovranismo als Versuch, "die italienische Küche und mit ihr unsere nationale Identität einzufrieren" (im Original verwendet er das schwer übersetzbare Verb cristallizzare, wörtlich: in einem Kristall festhalten). 

Es stimme ihn aber immerhin optimistisch, meint Grandi schließlich, dass junge Italienerinnen und Italiener deutlich offener seien für als nicht typisch italienisch wahrgenommene Küche. Für viele von ihnen seien heute tagliatelle alla bolognese genauso Teil des kulinarischen Alltags wie Sushi. 

Am Ende sagt Grandi, ganz Wirtschaftshistoriker, er sei optimistisch, dass 

"die wirtschaftliche Vernunft am Ende stärker ist als absurde Ängste davor, die eigene Identität zu verlieren" 

Er schiebt ein, dass es eigentlich gar nicht um die Identität gehe, sondern um

"tröstliche Erzählungen von einer angeblich mythischen italienischen Küche, die immer schon die beste der Welt war und es auch immer sein wird".

Traditionen und Identitäten verändern sich, immer schon

Grandi entzaubert also einen wichtigen Teil des Mythos' "italienische Küche".

Und solche Entzauberungen sind wichtig. Nicht nur, um ein paar italienische Freunde beim nächsten Treffen mit schockierenden Fakten zu Carbonara und Parmigiano Reggiano zu konfrontieren. 

Indem er den Pizza-und-Pasta-Kult auseinandernimmt, legt Grandi eine historische Wahrheit offen, gegen die sich aggressive Nationalisten und Rassisten aller Länder erbittert wehren, weil sie ihre Weltsicht im Kern erschüttert: Nationale Traditionen und Identitäten sind keine betonharten Gewissheiten, die immer schon da waren. Nein, Traditionen und Identitäten sind formbar, oft werden sie gezielt aufgebaut oder es wird gewaltsam versucht, sie zu zerstören.

Vor allem aber verändern sich diese Traditionen ständig und unaufhaltsam. Und der wichtigste Motor dieser Veränderung sind Begegnungen.

Das zeigt sich auch beim Blick auf ein angeblich besonders heiliges Heiligtum der italienischen Küche: der Pizza.

Pizza war bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem ein Arme-Leute-Essen  in Neapel. Die bis heute populäre Legende, nach der die Pizza Margherita so heiße, weil Ende des 19. Jahrhunderts ein Pizzabäcker sie Margherita di Savoia, der ersten  Königin des geeinten Italiens, gewidmet habe, hält Gastro-Historiker Grandi für einen ausgemachten Schmarrn. 

Im Interview mit "Il Post" sagt Grandi, es wäre damals "niemandem eingefallen, einer Königin ein so vulgäres Essen wie die Pizza anzubieten, die man damals noch dazu immer als pizza bianca aß, mit Olivenöl, Knoblauch und Käse" (also  ohne die Tomatensoße, die ja zur Pizza Margherita gehört).

Die neapolitanische Journalistin und Schriftstellerin Matilde Serao schrieb in ihrer 1884 erschienenen und zurecht legendären Sozialreportage Il ventre di Napoli (Si apre in una nuova finestra)(wörtlich: Der Bauch von Neapel), ein Neapolitaner habe versucht, eine  Pizzeria in Rom zu eröffnen. Er sei gnadenlos gescheitert, weil sich die Römer nicht für die belegten Teigfladen interessierten. Erst durch die Begegnung neapolitanischer Auswandererer mit US-Amerikanern und dann, ab den 1950er-Jahren, mit Menschen in Norditalien, wurde die Pizza italienweit populär. 

Auch in Städten wie Alba im Piemont.

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