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Liebe*r Utopist*in!
In diesen Tagen sprechen viele von einer "Zeitenwende", was die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine betrifft. Die europäische Gemeinschaft ist fassungslos, Trauer, Wut und Angst überall. Was aber, wenn wir einer möglichen fiktiven Stimme zuhörten, die im Jahr 2050 auf diese Tage zurückblickt?
Ja, dieser sinnlos erscheinende, zerstörerische Überfall war eine Zeitenwende. Und zwar nicht nur geopolitisch und militärisch. Es war die Zeit, in der es den alten Staaten der Eurepublik zum ersten Mal gelang, sich zu einer humanen Flüchtlingspolitik durchzuringen. Den Wert der Freiheit über wirtschaftliche Sicherheit zu stellen. Und in der auch die Menschen, die unter autokratischen Regimen lebten, verstanden, dass diese wie eine alte Haut waren, die abgestreift werden musste, weil das kollektive Bewusstsein darunter längst weiter geworden war und auch keine Propaganda es an seiner Evolution hindern konnte. Um ihre Werte zu verteidigen, ging die Staatengemeinschaft an ihre eigene finanzielle Substanz und suchte neue Wege jenseits wirtschaftlichen Wachstums. Im Nachhinein ein Glücksfall, sonst hätten wir heute nicht das resiliente, kooperative, IT-basierte Wirtschaftssystem, das uns vor dem Vier-Grad-Kollaps bewahrt hat ...
Hier gebe ich Einblicke in die aktuelle Erzählfolge aus der Utopian Fiction-Erzählung Kyaras Kodenet, die ich monatlich über Steady veröffentliche. Diesmal wird Kyara von einer künstlichen Intelligenz befragt, wie zufrieden sie mit ihrem Leben ist ...
Danke, dass du dem diesjährigen Allwohlindex deine Daten zu Verfügung stellst. Ich bin Indexa 10 und emotional ausgebildet. Wenn du dich mit unserem Gespräch nicht wohl fühlst, kannst du auch ein menschliches Gegenüber anfragen.
„In Ordnung. Nicht nötig.“
Sie hätte genauso gut ein echter Mensch sein können, Kyara wäre es nicht aufgefallen, zumindest bisher nicht.
Du musst übrigens nichts beschönigen. Du fühlst, was du fühlst. Wenn du nicht ehrlich bist, entsteht kein authentisches Bild des Zusammenlebens und ist es schwieriger für den AWI, auf Entwicklungen zu reagieren. Du musst niemensch etwas beweisen, auch dir selbst nicht. Alles klar?
„Alles klar.“
Während sie vorwärts stapfte und schlammig aussehenden Mulden auswich, beantwortete sie nach bestem Gewissen Indexas Fragen. Wie zufrieden sie mit ihrer Lebensvereinbarung, ihrem Mentor, ihrem Berufungsweg war (unzufrieden), wie wohl sie sich in ihrer Regunion, ihrem Viertel, ihrem NahNetzwerk, ihrer Hausgemeinschaft fühlte (recht zufrieden), und ob sie irgendwelche körperlichen Beschwerden hatte (aktuell nicht). (...) Fast hätte sie verpasst, dass Indexa das Thema wechselte.
Wie du wahrscheinlich weißt, misst der AWI auch die Gesundheit des Infoisystems, das heißt, das Wachstum des Schattenhandels, um frühzeitig gegensteuern zu können durch Empfehlungen an den lokalen KoZy. Deshalb würde ich gerne von dir wissen, ob du selbst von Diebstählen und Plünderungen betroffen warst. Oder kennst du Personen, die involviert waren?
Kyara zögerte. Ihr Puls schlug schneller. So, wie Yon drauf war, hatte er hundertprozentig mindestens eine Begegnung mit dem Unsichtmarkt gehabt. Hatte er das nicht sogar erwähnt? Aber wenn schon, war das der Rede wert?
Du zögerst. Denk daran, deine Angaben bleiben anonym und haben keine Konsequenzen. Wenn du Zweifel hast, kannst du sie mir ruhig mitteilen.
Indexa hatte recht. Zögern war albern gewesen.
„Ja, ich kenne jemensch, aber ich weiß keine Details.“
Hast du dich mit yks bereits darüber ausgetauscht?
„Nein. Wie gesagt, ich weiß keine Details“, sagte Kyara schnell.
Um was für Ware handelt es sich?
„Nur Tabak oder Gras, denke ich.“
Welche Geschlechtsidentität hat die Person?
„Männlich.“
Wie alt ist sie?
„Keine Ahnung. Vierundzwanzig“, sagte Kyara unwirsch. Das Ganze wurde impertinent.
Tut mir leid, wenn ich dich nerve, sagte Indexa freundlich.
Termine
Auf Instagram habe ich gesehen, dass manche Autor*innen (für andere Autor*innen) Coworking-Livestreams anbieten. Da dachte ich, ich biete das spaßeshalber auch mal für diese Community an, für alle Newsletter/Paket-Mitglieder!
Wenn ihr also etwas habt, woran ihr gerade konzentriert arbeiten wollt/müsst und euch etwas Motivation wünscht oder wenn ihr Fragen oder Anmerkungen zum Projekt o.ä. habt, die ihr immer schonmal stellen wolltet, nicht sicher seid, ob ihr ein Paket buchen wollt usw., schaut doch zwischendrin - fünf Minuten oder zwei Stunden - gerne vorbei! JuliTopia-Salon-Moderatorin Susann und ich werden duchgängig für eure Fragen erreichbar sein und zwischendurch selbst an unseren Sachen arbeiten (ich werde wahrscheinlich an der nächsten Utopian Fiction-Folge schreiben :)). Es wird ein kurzes Check-In, Check-Out und einen Chat geben, wahlweise mit/ohne Kamera.
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Utopisches Glossar
Wie wäre das, wenn jede*r von uns von Geburt an mindestens eine Fachkraft an unserer Seite hätten, mit der ganz offiziell wir alles besprechen könnten, was unseren Lebenstraum bzw. Herzensweg angeht? ;-)
Utopisch-dystopisch zitiert
Heute: Ein Einblick in Aldous Huxleys Utopie Eiland (Si apre in una nuova finestra) (1984), die er 30 Jahre nach seiner Albtraumvision Schöne neue Welt geschrieben hat - bisher leider viel zu wenig beachtet, da sie doch eine echte Alternative entwirft ... von einer Gemeinschaft auf einer tropischen Insel, die die Prinzipien des Guten und der Freiheit konsequent anwendet und auf der Will Farnaby strandet ...
»Willst du etwas essen?« fragte das Mädchen in perfektem Englisch.
»Ja – essen«, wiederholte er, »essen.«
Die mageren Ärmchen mit der Gebärde einer Tänzerin hebend, nahm die Kleine den Korb vom Kopf und stellte ihn auf den Boden. Sie wählte eine Banane, schälte sie und trat, zwischen Furcht und Mitleid schwankend, näher an den Fremdling heran. Mit ein paar beruhigenden Worten blieb das Mädchen in sicherer Entfernung stehn und hielt die Banane hoch.
»Willst du sie?« fragte sie.
Immer noch von Schauern überlaufen, streckte Will Farnaby die Hand aus. Sehr vorsichtig schob die Kleine sich ein wenig weiter vor, hielt dann wieder inne und kauerte sich, ihm aufmerksam ins Gesicht spähend, nieder.
»Gib her«, sagte Will in qualvoller Ungeduld.
Aber das Mädchen war auf der Hut.
Auf die geringste verdächtige Bewegung gefaßt, behielt sie seine Hand im Auge, neigte sich dann vor und streckte vorsichtig den Arm aus.
»Um Gottes willen«, flehte er.
»Gott?« wiederholte das Mädchen mit plötzlichem Interesse.
»Welcher Gott?« fragte sie. »Es gibt eine solche Menge.«
»Jeder gottverdammte Gott, der dir paßt«, antwortete er ungeduldig.
»Ich mag eigentlich keinen«, sagte sie. »Außer dem Mitleidsvollen.«
»Dann hab Mitleid mit mir«, bettelte er, »und gib mir endlich die Banane.«