Gespensterbrief #16
Mein liebes Gespenst,
glaubst du an Flüche?
Ich nicht.
Aber nehmen wir an, es gäbe sie, dann lastet auf mir ein Fluch. Am Ende dieses Briefes werde ich sagen, es sei ein Geschenk, aber noch bin ich nicht soweit.
Flüche sind ein Ding des X. vergangenen Jahrhunderts. Aber auch heute, jetzt in diesem Moment, schlägt Google mir die Suche nach dem genauen Eintrittsmoment nach Ausspruch eines Fluches vor. Schon immer suchen und fluchen die Menschen. Das ist verständlich. Denn ein Fluch erscheint wie ein radikales Mittel, um sich gegen Übergriffe zu wehren, über die man sonst keine Kontrolle hat. Insbesondere arme Menschen hatten in der Vergangenheit kaum eine andere Chance, sich gegen die Willkür und Ungerechtigkeit von Machtinhabern, die ihre Position missbrauchten, zu wehren. Flüche entstehen aus einer Ungleichheit und Ohnmacht heraus.
Der Generationenvertrag gilt für reiche Erben, auf allen anderen lastet ein Generationenfluch.
Zuletzt schlossen sich 2017 Hexen aller Welt zusammen, um Trump zu bannen. Hier die Liste mit Material, die es für den Zauber brauchte:
Ein unvorteilhaftes Foto vom Ungeheuer
Eine orangefarbene, bereits etwas heruntergebrannte Kerze, eine weiße Kerze
Feuerzeug und Schale für Asche
Einen Nagel
Eine Schale mit Wasser und eine mit Salz, einen Teller Sand
Eine Feder
Auf tumblr und in zahllosen facebook-Gruppen aus der ganzen Welt konnte man zu der Zeit nachlesen, welche Sprüche, Zauberformeln und Flüche sich dazu sprechen ließen. Sie wollten das Ritual so lange wiederholen, bis er aus dem Amt ausscheidet. Danke für den Einsatz, Hexen all over the world.
Als Kind bekam ich einmal Besuch von der 13. Fee. Weil sie erkannte, dass ich anders war, belegte sie mich mit einem Fluch. Die Furcht vor dem Ungenügen sollte mich ein Leben lang begleiten.
Hattest du jemals das Gefühl, zu genügen?
Ich nicht.
Manchmal empfinde ich für einen kleinen Moment Erleichterung. Immer dann, wenn wieder etwas geschafft wurde, eine Etappe genommen, ein Unheil (Fluch?) abgewendet werden konnte. Aber genügen? Genug ist genug. Das klingt endgültig. Der Antrieb, immer wieder etwas Neues starten zu wollen, steckt in uns Künstler*innen, und damit auch der Wunsch, sich zu verbessern. Mit jedem Text und anderem Kunstwerk geht es neben dem Ausdruck auch immer ein Stück weit darum, zu üben. Oft geschieht die Übung nebenbei, sobald man ein gewisses Maß an Können und Regelmäßigkeit erreicht hat; man abliefern muss und möchte. Jeder Text ist eine Übung und nie ist einer je perfekt.
Auf jede Geschichte für Benjamin Blümchen blicken mindestens drei Personen und dann kommt am Ende noch das Korrektorat. Also blicken am Ende vier Menschen mit viel Erfahrung und Können auf einen Text, machen ihn fertig, aber niemals werden sie ihn perfektionieren. Das darf nicht der Anspruch sein.
Wenn wir Geister sind, bleibt dann alles, wie es mal war?
Sich zurücklehnen, einen Erfolg genießen oder was einem sonst noch so von unbedarften Seelen vorgeschlagen wird, wenn man mal wieder vom Struggle erzählt, funktioniert halt auch nur bis zur nächsten Idee.
Ich kenne in diesem Moment keine Autorin ohne akute durch Herz, Hand und Hirn mäandernde Idee.
Es ist immer ein Projekt im Entstehen oder in der Vollendung. Und wer sich zwischen zwei Projekten befindet, sucht. Dieser Fluch hat auch die Gespensterbriefe durchdrungen, weil er mich durchdringt. Ich möchte darum, dass du, liebes Gespenst, diesen Brief verbrennst, sobald du ihn gelesen hast. Und an etwas Gutes denkst, während du in die Flammen blickst.
Es ist der Wunsch nach Ausdruck, der mich antreibt. Mit nichts auf der Welt war ich mir sicherer, als mit dem beständigen Bestreben nach Transformation. Ich will meinen Eindrücken fast immer einen neuen Ausdruck geben. Doch was hat das mit dem Fluch zu tun, der auf mir liegt?
Nicht zu genügen gehört zur Literaturszene dazu wie die Menschen, die denken, sie müssten Wein trinken, weil sie schreiben. Oder schreiben, weil sie Wein trinken. Das hängt von der Tagesform ab. Auch auf den Gespensterbriefen lastet dieser Fluch. Sie sind Nachhall und eine ständige Auseinandersetzung mit dem, was brennt und mir wichtig erscheint. Es bedeutet, zu riskieren, sich immer wieder Bewertungen auszusetzen. Es bedeutet, in die Augen von Freund*innen und Verwandten zu blicken, die nicht wissen wollen, wovon du sprichst. Es bedeutet, hinzunehmen, nicht gemocht zu werden, weil man sich zeigt, wie man ist. Es bedeutet, vielleicht für immer Nische zu bleiben. Es ist schrecklich angsteinflößend und absolut befreiend.
#WitchArt, Collage, Mixed Media
Mein liebes Gespenst,
glaubst du an Flüche?
Ich manchmal.
Sie werden wahr, sobald ich an sie denke. Wenn ich über sie schreibe, dann existieren sie für einen Moment. Und so auch du.
NEU NEU NEU Kiddinx Kids NEU NEU NEU 🐘
Schenkt euren Kids oder euch selbst eine brandneue Ausgabe Find's raus mit Benjamin (Si apre in una nuova finestra). Das Magazin ist neu und gehört zur bestehenden Find's raus-Hörspielreihe rund um Benjamin, Otto, die Zootiere und Co. Und auch diese Ausgabe enthält, Trommelwirbel, Geschichten von mir! Diesmal hat der putzige Dackel Dicki, der mit Benjamin und Otto durch die Dunkelheit spaziert, einen Auftritt. Seid gespannt auf die aktuelle und die kommenden Ausgaben, liebe Freund*innen des sprechenden Elefanten! Törööö!
Danke an alle, die die Gespensterbriefe unterstützen. Jede Person, die sie abonniert und jede, die mich mit einem Beitrag supportet 🤍, bedeutet mir die Welt, weil das Schreiben und Kunst machen meine Welt ist. Wenn euch dieser Brief gefällt, dann teilt den Link dort, wo ihr unterwegs seid und sagt es weiter. Gespenster müssen spuken, um entdeckt zu werden.
Ein gutes Wochenende
Eure Jess