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"Uns fehlen gesellschaftliche Rollen und Möglichkeiten, um selbstbestimmte Zeit jenseits von Arbeit zu verbringen."

Ich bin vor einigen Wochen von einer Perspective Daily-Redakteurin gefragt worden, ob ich nicht etwas über Langeweile schreiben wolle. Ich hatte in den Jahren zuvor regelmäßig bei PD darüber geschrieben, wie eine neue Zeitkultur aussehen könnte. Für das Zeit-Thema Langeweile habe ich mich aber nie sonderlich interessiert. Ich lebte in der Gewissheit, dass mich dieses Gefühl nicht betraf, folglich konnte ich auch nichts dazu sagen.

Ich kannte natürlich die häufig auch von Zeitexpert*innen beschriebene, vermeintlich positive Wirkung von Langeweile, die uns entschleunigen, kreativ machen und erst für die Ziele öffnen soll, die wir wirklich verfolgen wollen. Ich glaubte nicht recht daran und war außerdem nicht bereit, zu denen zu gehören, die sich prinzipiell langweilen konnten. Wie bei vielen anderen Menschen ist die permanente Geschäftigkeit Teil meines Selbstbildes. Ich bin berufstätig und zweifacher Vater, wie soll ich mich denn da langweilen? Während meiner Recherche, die ich dann begann, stellte ich zunächst fest, dass die Verleugnung von Langeweile eine Standardreaktion von Menschen auf das Thema zu sein scheint.

Ich stellte aber auch bald fest, dass meine Skepsis berechtigt war. Ich stieß auf Untersuchungen, die zeigten, dass häufige Langeweile Sucht- und anderes gesundheitsschädliches Verhalten wie zum Beispiel schlechte Ernährung begünstigen kann und außerdem Stress erzeugt. Auch das Risiko für Depressionen steigt. Gelangweilte Menschen sollen außerdem eher dazu neigen, sich radikalen politischen Gruppen anzuschließen. So viel also zur heilenden Wirkung der Langeweile.

Die Tragweite des Themas verstand ich aber erst, als die PD-Redakteurin mich auf das kürzlich erschienene Buch Langeweile ist politisch der Soziologin Silke Ohlmeier aufmerksam machte. Es ist die erste soziologische Analyse dieses Themas, in der zum ersten Mal deutlich wird, dass Langeweile soziale Ursachen hat, also kein individuelles Problem ist. Silke Ohlmeier ist Mitglied der International Society of Boredom Studies (Si apre in una nuova finestra) und beeindruckte mit ihrer soziologischen Analyse selbst führende Langeweileforscher wie etwa den Psychologen John Eastwood. Von ihm stammt auch die wissenschaftlich anerkannte Definition der Langeweile. Für Eastwood ist sie die unangenehme Erfahrung, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen, es aber nicht zu können. Zugleich sei mit Langeweile die Unklarheit verbunden, wonach es einen genau verlangt.

Silke Ohlmeier erklärte mir, dass es kein individuelles Unvermögen ist, wenn man in diesen Zustand gerät und ihm nicht entkommen kann. "Studien zeigen eindeutig, dass Menschen mit geringer Bildung und geringen Einkommen stärker betroffen sind. Für Menschen, die von Rassismus betroffen sind, gilt das auch. Außerdem kann mangelnde Barrierefreiheit Langeweile bei behinderten Menschen erzeugen", sagt sie.

Die Studien würden leider wenig darüber aussagen, warum das so ist. "Wenn man Langeweile aber als unerfülltes Bedürfnis nach einer befriedigenden Tätigkeit sieht, stellt man schnell fest, dass Geld und Freiheit sehr nützlich sind, um befriedigenden Tätigkeiten nachzugehen. Selbstbestimmung und Teilhabe kosten Geld. Wer arm ist, kann nicht mal eben ins Kino gehen. Es hat auch nicht jeder die Möglichkeit, einen langweiligen Job aufzugeben", sagt sie.

Das Kino lässt sich natürlich auch durch andere Kulturereignisse ersetzen, zum Beispiel einen Theaterbesuch. Dazu später mehr. Auch das ganze Interview mit Silke Ohlmeier findest du weiter unten. Es ist frei zugänglich für alle inseln der zeit-Mitglieder.

Quelle: Leykam Verlag

Ein besonders interessanter Aspekt in Ohlmeiers Analyse ist die geschlechterspezifische Langeweile. Die hängt unter anderem damit zusammen, dass Frauen weitaus mehr Carearbeit leisten. Weil dieser Art der Arbeit weniger Wert und Bedeutung zugesprochen wird als der Erwerbsarbeit, werde sie auch als langweiliger erlebt. "Im Unterschied zu anderen Gefühlen wird die Langeweile nämlich schwächer, je mehr Bedeutung etwas für uns hat", schreibt Silke Ohlmeier.

Das heißt: Weil die Gesellschaft Sorgearbeit abwertet und Erwerbsarbeit als Idealform von Arbeit betrachtet, langweilen sich Sorgende, also vor allem Frauen, weil sie denken, ihre Arbeit sei weniger bedeutend. Diese Überlegung finde ich von allen klugen Gedanken in Silke Ohlmeiers Buch am bemerkenswertesten.

Sie hat mich natürlich auch selbst getroffen. Ja, natürlich habe ich mich an den vielen Tagen, an denen ich erst meine heute fünfjährige Tochter und später auch meinen heute dreijährigen Sohn betreut habe, auch gelangweilt.

Vor allem zu den Zeiten, als beide Kinder noch kleiner waren und ich permanent erschöpft war (von meiner so bedeutungsvollen Arbeit). Da hatte ich oft einfach nicht die Kraft, die gemeinsame Zeit mit meinen Kindern zu planen und aktiv zu gestalten. Die Betreuungszeit begann einfach, während die Gedanken noch der Arbeit nachhingen oder ihr vorausgingen, und es gab in dieser Zeit mit den Kindern erst einmal nichts weiter zu tun als die Grundbedürfnisse des Kindes zu befriedigen und im Idealfall nebenbei noch etwas Haushaltsarbeit zu leisten, eine weitere Tätigkeit von geringer Wertschätzung.

Aber ich hatte mich dafür entschieden, ich wollte es ja anders machen als die anderen und habe eine Festanstellung abgelehnt, als meine Tochter unterwegs war, weil ich in Teilzeit arbeiten wollte. Ich entschied mich für einen anderen Weg. Und dann musste ich feststellen, dass ich mich in dieser Zeit manchmal, ja: langweilte.

Ist es nicht furchtbar langweilig, wie wenig Unmittelbarkeit in unserem Leben besteht?

Die Gewissheit, dass ich mich niemals langweile, ist also ins Wanken geraten. Aber ich bin froh darüber. Es ermöglicht mir, mein Leben nach anderen Maßstäben zu beurteilen als nach denen der erwerbstätigen, patriarchalen, leistungs- und statusorientierten Gesellschaft. Es eröffnet neue Fragen: Ist es nicht irgendwie langweilig, dass ich tagsüber, wenn ich mir wegen meiner freiberuflichen Teilzeitarbeit Freiräume schaffen könnte, kaum jemand verfügbar ist, mit dem ich Zeit verbringen kann? Weil ihr alle am Schreibtisch sitzt oder in Meetings seid? Und weil ihr deshalb abends erschöpft seid und nicht mehr viel anderes geht, als aufs Smartphone zu gucken?

Und sind diese ständigen Blicke aufs Handy nicht auch einfach ein Ausdruck von Langeweile? Ist es nicht langweilig, dass eine Vielzahl meiner Kontakte nicht im realen Leben stattfindet, sondern in E-Mails, bei Zoom und in Messengerdiensten? Und dass dort keine gemeinsamen Erlebnisräume bestehen und entstehen, an die man sich einmal erinnern könnte – weißt du noch damals bei Zoom? Ist das nicht furchtbar langweilig, wie wenig Unmittelbarkeit in unserem Leben besteht?

Mir wurde das schlagartig bewusst, als ich letzte Woche nach langer Zeit mal wieder im Theater war. Die Intensität dieser Unmittelbarkeit war vollkommen überwältigend. Das war kein Video, das mir der Algorithmus in die Timeline spielte und nach wenigen Sekunden vorüber und vergessen war, wenn ich es nicht ausnahmsweise mit jemandem teilte. Und was bedeutete das eigentlich, etwas zu teilen? Jemandem etwas zu schicken, der*die dann mit einem Herz darauf reagiert, was immer das bedeuten soll. Etwas zu teilen bedeutete an diesem Abend, dass ich mehrere Stunden mit Schauspieler*innen, einem Publikum und einer Freundin teilte, mit der ich anschließend darüber reden konnte. Die meine Reaktion sah, und ich ihre. Diese Gleichzeitigkeit und diese Direktheit, diese Präsenz, dieses Raum- und Zeitgebundene sind etwas, was mir manchmal fehlt. Und dieses Fehlen erzeugt Langeweile. Jetzt ist das mal gesagt.

"Wir wollen immer alles nutzen und ins Positive wenden. Aber es sind nicht alle Menschen frei, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern. "

Die Soziologin und Langeweileforscherin Silke Ohlmeier. Foto: privat

Silke, in deinem Buch beschreibst du deinen Weg von der Industriekauffrau zur Langeweileforscherin. Gibt es da einen Zusammenhang?
Ich wusste nach der Schule nicht so richtig, was ich machen soll. Der Schritt zur Universität fiel mir schwer, weil niemand in meiner Familie studiert hatte. Deshalb gab es die Idee, erst einmal etwas Solides zu machen und einen sicheren Job zu finden. Ich bin dann in die Ausbildung zur Industriekauffrau in einem Busunternehmen gestolpert. Und das hat einfach an allen Ecken und Enden nicht gepasst.

Woran hast du das festgemacht?
Also, ich interessiere mich schon mal gar nicht für Busse. Dann war ich zeitlich unterfordert, ich hatte zu wenige Aufgaben. An manchen Tagen war ich nach zwei Stunden fertig, musste aber acht Stunden bleiben. Es gab wenige Möglichkeiten, andere Aufgaben zu übernehmen. Meine Arbeit bestand hauptsächlich darin, Lieferscheine zu sortieren und Briefe einzutüten. Das generelle Gefühl in dieser Zeit war Langeweile. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl: Ich kann das nicht abbrechen, dann finde ich nie wieder einen Job. Das hat dazu geführt, dass ich drei Jahre in dieser Langeweile festhing. Es war schrecklich.

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Argomento Interview

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